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Magazin Mitbestimmung

: Im Paket gefeuert

Ausgabe 06/2010

PREKÄRE BESCHÄFTIGUNG 389 Leiharbeiter der "Kieler Nachrichten" stehen ab 30. Juni 2010 auf der Straße. Gekündigt wurde ihnen kurz vor ihrer ersten Betriebsratswahl. Von Karin Flothmann

KARIN FLOTHMANN ist Journalistin in Berlin

BetriebsRATsbedingte Kündigung!" Auf einem großen Bettlaken tragen die Leiharbeiter die Botschaft am 1. Mai durch die Kieler Innenstadt. Rund 80 Produktionshelferinnen und -helfer von den "Kieler Nachrichten" (KN) sind gekommen, um mitzudemonstrieren. Einer der Demonstranten ist Markus Rohwer. Er klettert am Ende des Marschs auf die Bühne und erklärt den Kielern, was Sache ist: "Die komplette Produktion der ‚Kieler Nachrichten‘ wird in die Hände von ein paar hundert Leiharbeitern gelegt! Wussten Sie das?" Rohwer hebt seine Stimme: "Wir fordern, dass die ‚Kieler Nachrichten‘ uns Leiharbeiter zurück in ihre Belegschaft einbinden." Und endet: "Schluss mit dem Prekariat!" Markus Rohwer war im März zum Ortsvorsitzenden des ver.di-Fachbereichs Druck und Medien in Kiel gewählt worden. Auch er hatte Ende Januar seine Kündigung erhalten. Da war er noch einer von 389 Produktionshelfern im Druckzentrum der KN - neben 50 Druckerhelfern, die auch Leiharbeiter einer anderen Firma sind und nochmal sovielen Druckern, die man als Stammbelegschaft bezeichnen kann.

KÜNDIGUNG WEGEN BR-GRÜNDUNG_ Die 389 Produktionshelfer fanden am 19. Januar ein Schreiben ihrer Leiharbeitsfirma Tabel GmbH am Schwarzen Brett des Kieler Druckzentrums. "So haben wir von unseren Kündigungen erfahren - per Aushang", erzählt Marcus Peyn. Das war genau zwei Wochen vor der geplanten Betriebsratswahl der Leiharbeiter. Anfang Februar wählten die Produktionshelfer Marcus Peyn dann zu ihrem ersten Betriebsratsvorsitzenden. Für Peyn liegt es auf der Hand, dass die Kündigungen der 389 Leiharbeiter mit der Gründung seines Betriebsrates zusammenhängen. Schon zweimal in den letzten zehn Jahren hätten Kollegen versucht, einen Betriebsrat für die Leiharbeiter zu gründen. Jedes Mal wurde Druck ausgeübt. Wer versuchte, sich zu engagieren, hatte schnell die Kündigung in der Hand. "Die Einschüchterungen hatten immer Erfolg", weiß Peyn. Doch der 27-Jährige ließ sich nicht kleinkriegen. Er holte sich Hilfe bei ver.di, erhielt Unterstützung von Politikern der Linksfraktion im Bundestag und von der Kieler SPD, und beim dritten Anlauf klappte es.

"Auch wir sind KN", prangt mitten auf einem kleinen Button. Der 27-jährige Betriebsrats-Vorsitzende der Leiharbeiter Marcus Peyn trägt ihn stolz am Revers, als er am 11. März seine erste Betriebsversammlung eröffnet. Der junge Mann mit der punkigen Frisur gestikuliert gern mit ausladenden Bewegungen, wenn er erzählt. Er hat die Vorgeschichte recherchiert: Die Leihfirma TB Personaldienste GmbH, bei der er beschäftigt ist, war im August 1998 von einem leitenden Angestellten der "Kieler Nachrichten" gegründet worden. Das kam billiger. Wer als festangestellter Produktionshelfer bei den KN 12,90 Euro Tariflohn verdient hatte, bekommt heute 6,14 Euro pro Stunde.

Später wurde die TB an die Tabel-Gruppe, einen Personaldienstleister, verkauft. Die kommuniziert vorzugsweise per Aushang mit ihren Mitarbeitern. Wenige Tage nach der Kündigungsinfo am Schwarzen Brett hatte der NDR über die Massenentlassungen berichtet. Daraufhin fanden die Leiharbeiter des Druckzentrums wieder einen Zettel an ihrer Pinnwand: "Sehr geehrte Damen und Herren", hieß es da, "heute möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Interviews, egal, ob für Fernsehen oder Radio, vorher ausdrücklich von der Geschäftsleitung genehmigt werden müssen." Unter diesem Text befand sich in Kopie ein Auszug aus den Arbeitsverträgen, der darauf hinweist, dass ein Zuwiderhandeln gegen "die Verschwiegenheitsverpflichtung" eine fristlose Kündigung und eine Vertragsstrafe in Höhe von mindestens 250 Euro nach sich zieht.

BETRIEBSVERSAMMLUNG_ Sie ließen sich nicht einschüchtern. 150 Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter versammeln sich Mitte März in der kleinen Kantine des KN-Druckzentrums in Kiel. Die Geschäftsleitung der Tabel-Gruppe hat wieder ein knappes Fax geschickt. Betriebsrat Peyns auffälliger Spitzbart wippt, als er daraus vorliest. "Wir wünschen Ihnen für Ihre Versammlung viel Erfolg." Gekommen ist keiner der Chefs. "Die kneifen", ruft einer der Arbeitnehmer laut. Marcus Peyn erinnert zu Beginn der Sitzung noch einmal, wie es zu der heutigen Situation gekommen ist. Man habe mit den "Kieler Nachrichten" über eine höhere Vergütung des Dienstleistungsvertrags der TB GmbH verhandelt, "um letztlich auch Ihre Stundenlöhne zu erhöhen." Es sei zu keiner Einigung gekommen, die Entlassungen seien die Folge.

Die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter sind empört. Unter ihnen Rentnerinnen, die ihre Altersversorgung mit der Schichtarbeit aufbessern, Studenten und Hilfsarbeiter oder Frauen wie Babette Zuske. Die ausgebildete medizinisch-technische Assistentin kam vor neuneinhalb Jahren zur Leiharbeit, eher "per Zufall". "Ohne uns würde der Laden hier nicht laufen", sagt die 43-Jährige. Denn zum Schluss muss bei aller Automatisierung doch an vielen Stellen Hand angelegt werden. Die Produktionshelfer sorgen dafür, dass den "Kieler Nachrichten" Werbung beigelegt wird, die Zeitungen verpackt und palettenweise auf Lkws geladen werden.

Babette Zuske hat einen Teilzeitvertrag ohne Stundenangaben. Für ihre Nachtschichten bekommt sie wöchentlich einen neuen Arbeitsplan, der ihr die Tage und Anfangszeiten ihrer Schichten nennt. Wann sie fertig ist, weiß sie nie im Voraus. "Manchmal, wenn ich um 22 Uhr beginne, heißt es schon nach vier Stunden, um zwei Uhr nachts: Jetzt kannst du gehen", erzählt sie. Dann fährt kein Bus mehr, und Babette Zuske hat nur die Wahl, 50 Minuten zu Fuß nach Hause zu laufen oder den Tagesverdienst für ein Taxi auszugeben. An anderen Tagen arbeitet sie 14 oder 16 Stunden am Stück.

Mal kommt sie so auf eine 20-Stunden-Woche, ein andermal auf 55 Stunden. Zu Anfang des Monats weiß sie nie genau, wie viel sie am Ende im Portemonnaie haben wird. "Das ist ein ständiges Jonglieren", beschreibt sie ihr Leben. Und sie streift sich resolut eine blonde Strähne aus dem Gesicht. "Du weißt nie, ob der Kühlschrank am Ende des Monats voll ist oder leer bleibt."

Ihrem Kollegen Kadim Akbag geht es ähnlich. Seine Berufsausbildung konnte der heute 38-Jährige aufgrund eines Unfalls nicht abschließen. Bei Tabel begann er als 400-Euro-Jobber. "Ob ich damals Schichten bekommen habe, war reinstes Roulette-Spiel", sagt Akbag. Denn immer montags ab 14 Uhr müssen die 400-Euro-Kräfte die Disponentin von Tabel anrufen, um neue Arbeitsschichten zu bekommen. "Manchmal habe ich von zwei bis fünf am Telefon gesessen, und immer war besetzt", erzählt der Vater einer Tochter. Erwischte Kadim Akbag später jemanden am Telefon, hieß es: "Tut uns leid. Alle Schichten für diese Woche sind vergeben. Versuchen Sie es nächsten Montag wieder."

Heute arbeitet Akbag wie Babette Zuske mit einem Zeitvertrag ohne Stundenangaben. Rund 900 Euro verdient er so monatlich bei den KN. Viele seiner Kollegen haben am Ende des Monats weniger - die bekommen aufstockend Hartz IV. "Wie können die Gesetze in diesem Land so sein, dass der Staat noch zuzahlt, obwohl ich arbeite?", fragt sich Kadim Akbag und schüttelt den Kopf.

Manchmal wird seine Arbeit bei der KN auch einfach erzwungen. Wie am Freitag. Kadim Akbag wollte um acht Uhr morgens nach zehn Stunden Arbeit nach Hause gehen, "da sagte der Pförtner zu mir: Ich kann dich nicht rauslassen - Anweisung von oben!" Vorsorglich waren die Türen abgeschlossen. Akbag ging zurück in die Halle und arbeitete bis zehn Uhr weiter. Er traute sich nicht, Rabatz zu machen. "Das nächste Mal rufst du mich sofort an", sagt Betriebsratsvorsitzender Peyn zu ihm. "Das ist Freiheitsberaubung!"

"Eure Arbeitszeit darf maximal zehn Stunden betragen", erklärt Marcus Peyn seinen Kollegen während der Betriebsversammlung. "Wer länger arbeitet, verliert den Versicherungsschutz!" Der Betriebsratsvorsitzende fordert alle Kolleginnen und Kollegen auf, solche Vorfälle künftig den Schichtleitern zu melden. Die Leiharbeiter reagieren verunsichert. Immerhin brauchen sie alle das Geld, da kommt eine lange Schicht nicht ungelegen.

DAS ERINNERT AN GALEERENSKLAVEN_ "Lasst euch nicht einschüchtern!", appelliert auch Heino Stüve auf der Betriebsversammlung an die Leiharbeiter. "Immerhin habt ihr es nach zehn Jahren erstmals geschafft, euch einen Betriebsrat zu wählen." Der ver.di-Mann kümmert sich um die mehr als 130 Kündigungsklagen, die inzwischen von den Leiharbeitern eingereicht wurden. Und kann erste Ergebnisse verbuchen: Zumindest die Kündigungen der Betriebsratsmitglieder sind hinfällig, stellt er klar.

Als die Kündigungen ausgesprochen waren, bot ver.di den Produktionshelfern Rechtsschutz und Beratung. Rund 250 Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter wurden daraufhin Gewerkschaftsmitglieder. Stüve ist glücklich. So viele neue Gewerkschaftsmitglieder auf einen Schlag gab es in Kiel nicht, solange er denken kann. Zusammen mit dem Betriebsrat will der ver.di-Mann deshalb jetzt auch die miserablen Arbeitsbedingungen in dem Laden umkrempeln: Häufig gibt es keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder im Urlaub, und der Nachtzuschlag beträgt gerade mal 25 Prozent anstatt der üblichen 50 Prozent. Stüve meint: "Eure Arbeit hier erinnert doch an Galeerensklaven!"

"Genau", ruft einer, "wir sollten streiken!" Kadim Akbag lacht. Gleichzeitig weiß er nicht so recht, ob er dem neuen Kampfgeist seiner Kollegen trauen soll: "Wenn ich sage, ich geh jetzt und streike, kriege ich anschließend keine Schichten mehr", gibt er zu bedenken. Einige Kollegen sehen die verzwickte Lage auch so. "Solche Repressalien wird es mit ver.di nicht mehr geben", verspricht Stüve.

Seit der Betriebsversammlung im März hat sich einiges getan. Inzwischen geht es Marcus Peyn und seinen fünf Betriebsratskollegen in erster Linie darum, einen Sozialplan mit seinem Arbeitgeber, dem Personaldienstleister Tabel-Gruppe zu verhandeln. Denn den Werkdienstleistungsvertrag für die 389 Produktionshelfer, die im Paket geheuert und gekündigt wurden, haben die "Kieler Nachrichten" nach den Kündigungen neu ausgeschrieben. Ende April war dann klar: Tabel erhält den Zuschlag nicht mehr. Bei einem Treffen mit dem Entleiher, der Geschäftsleitung der "Kieler Nachrichten", wurde den Betriebsräten der Leiharbeiter erklärt, die Firma Tabel habe einen "gravierenden Wettbewerbsnachteil" gegenüber ihren Konkurrenten, denn sie haben in ihrer Kalkulation neben einem Stundenlohn von 7,56 Euro auch noch Mittel für den Betriebsrat veranschlagt. Andere Firmen würden solche Probleme nicht mitbringen.

Statt der Firma Tabel werden ab dem 1. Juli künftig drei Zeitarbeitsfirmen Produktionshelfer an das Kieler Druckzentrum verleihen: die Stark-Unternehmensgruppe aus Bremen, die Firma Mahnsen aus Kiel, an der auch der Vertriebsleiter des "Kieler Express", Horst Stölting, beteiligt ist, und die Leiharbeitsfirma TMI aus Ahrensburg. Laut KN werden sie Stundenlöhne zwischen 7,60 Euro und 11,40 Euro bezahlen.

Im Gespräch mit der Geschäftsführung der KN "wurde uns beteuert", so erzählt Marcus Peyn, "dass man den neuen Firmen ans Herz gelegt habe, möglichst viele Leute von der Tabel-Gruppe zu übernehmen". Die Einstellungspolitik der neuen KN-Auftragsfirmen spricht eine andere Sprache: Die Stellenanzeige der Firma TMI, die Mitte Mai bei der Arbeitsagentur einging und nach neuen Produktionshelfern ab 1. Juli sucht, trägt den Hinweis: "Bitte beachten - keine ehemaligen Tabel-Mitarbeiter buchen!"

 Kiel während der Demo zum 1. Mai: "KN - so viel Lohndumping muss sein!", steht sarkastisch auf einem Banner neben der Redner-Bühne. Betriebsrat Marcus Peyn und seine Kollegen sammeln Unterschriften für ihr Anliegen. Sie fordern, dass die KN die Zusammenarbeit mit Leiharbeitsfirmen aufkündigt und ihre bisherigen Leiharbeiter zu Tariflöhnen einstellt. Viele Kieler sind empört über die Zustände vor ihrer Haustür. Auch die ehemalige Ministerpräsidentin des Landes Heide Simonis. Sie unterzeichnet den Aufruf der Leiharbeiter sofort.

Foto: Karin Flothmann

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