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Magazin Mitbestimmung

Von PETER ROGGENTHIN: Ich arbeite als Forensikerin auf Zypern

Ausgabe 12/2016

Mein Arbeitsplatz Emine Çetinsel, 25 Jahre, lebt im türkisch kontrollierten Teil Zyperns und identifiziert für das Committee on Missing Persons in Cyprus (CMP) menschliche Überreste.

Von PETER ROGGENTHIN

Wenn ich morgens zu meiner Arbeitsstätte ins anthropologische Labor in Nicosia fahre, muss ich meinen Ausweis an einem Kontrollpunkt vorzeigen. Erst dann darf ich in die von der UN kontrollierte Pufferzone zwischen beiden Teilen der Insel fahren, in der ein klimatisiertes Containerdorf steht. In diesen fünf Containern ist unser Laboratorium. Seit über vier Jahren arbeite ich als Forensikerin für das CMP. Studiert habe ich in Leicester in Großbritannien. Wissenschaft hat mich schon immer fasziniert.

Zypern ist seit 42 Jahren eine geteilte Insel. Die Green Line, die beide Teile trennt, erstreckt sich über 180 Kilometer. Die Geschichte der Insel im 20. Jahrhundert hat viele Opfer gekostet. Bei Massentötungen in den Jahren 1963 und 1975 verschwanden tausende Menschen spurlos. Seit Jahren suchen speziell ausgebildete Experten wie ich nach den Überresten vermisster Menschen. Oft bekommen wir Hinweise aus der Bevölkerung und werden fündig. Dorfbewohner erzählen von alten Brunnen in der Nähe von Feldern und Gruben an Wegrändern.

Wenn wir Hinweise bekommen, rücken wir mit Baggern und Schaufeln aus. Meine Aufgabe ist es, menschliche Überreste, die in beiden Teilen Zyperns gefunden werden, vermissten Personen zuzuordnen. Unser Team besteht aus türkischen und griechischen Experten. Wir leisten einen Beitrag zur Versöhnung der geteilten Insel. Wenn geliebte Menschen vermisst werden, bleibt die Zeit stehen und es bleiben unbeantwortete Fragen. Meine Arbeit trägt dazu bei, den Angehörigen Gewissheit zu geben und die Möglichkeit, die sterblichen Überreste zu beerdigen.

Es ist wie ein Puzzlespiel. Auch in meiner Familie wurde eine Person vermisst. Mein Großvater verschwand 1963. Das war lange bevor ich geboren wurde. Der Zufall wollte es, dass ich eines Tages die Knochen eines Menschen auf dem Tisch hatte, welche vom Zeitpunkt des Verschwindens und dessen Merkmalen der Körperstatur auf meinen Großvater deuteten. Eine Genanalyse, drei Monate später, brachte Gewissheit: Die Überreste meines Großvaters, den ich nie kennengelernt hatte, lagen vor mir.

Ich möchte weiter als Forensikerin arbeiten, aber vielleicht nicht in Zypern. Mein Anliegen ist es, irgendwo zu helfen, wo Menschen plötzlich verschwunden sind. Dabei mithelfen, Wunden zu heilen und Gewissheit über den Verbleib geliebter Menschen zu geben.

Fotos: Peter Roggenthin

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