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Magazin Mitbestimmung

Mitbestimmung: Historischer Durchbruch

Ausgabe 12/2014

Der EGB fordert Mindeststandards für die Arbeitnehmermitbestimmung in den Aufsichts- und Verwaltungsräten aller Unternehmen, die nach europäischem Gesellschaftsrecht organisiert sind. Die einstimmig verabschiedete Resolution beendet eine jahrelange Kontroverse. Von Eric Bonse 

Zum Schluss hatten nur noch die Belgier Vorbehalte. Die konfliktfreudige „Fédération Générale du Travail de Belgique“ (FTGB) sträubte sich bis zuletzt gegen die Idee, Arbeitnehmermitbestimmung in Unternehmen europaweit zu propagieren. Sie macht lieber gegen die neue rechtsliberale Regierung in Brüssel mobil; sogar Generalstreiks stehen auf dem FTGB-Programm.

Doch am Ende schlossen sich auch die kämpferischen Belgier ihren Kollegen aus Frankreich und Großbritannien an. Die einst kommunistische CGT und der britische TUC hatten schon längst ihre Bedenken gegen die Mitbestimmung aufgegeben. Angeführt von DGB, CGT und TUC, stimmten alle Mitglieder des Exekutivausschusses des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) Ende Oktober einer Entschließung zu, die schon jetzt als historisch gilt.

Dabei klingt es zunächst wenig spektakulär, was die EGB-Exekutive nach jahrelanger Vorarbeit und langem Stillstand beschlossen hat. „Ein neuer Rahmen für mehr Demokratie bei der Arbeit“ heißt die Resolution, die sich an die neue EU-Kommission unter Führung des Luxemburgers Jean-Claude Juncker richtet – und einen grundlegenden Richtungswechsel signalisiert. 

Die Brüsseler Behörde wird darin aufgefordert, eine Richtlinie „zur Einführung einer neuen und integrierten Architektur für die Beteiligung der Arbeitnehmer in den europäischen Gesellschaftsformen“ vorzulegen. Neben „hohen Standards zu Unterrichtung und Anhörung“ fordert der EGB von der EU erstmals „ehrgeizige Mindeststandards zur Unternehmensmitbestimmung“.

Das sei ein Durchbruch, freut sich EGB-Berater Wolfgang Kowalsky in Brüssel. Lange war die Mitbestimmung bei vielen Gewerkschaften verpönt; sie galt als deutscher Sonderweg, der sich in Europa nie durchsetzen würde. Noch beim EGB-Kongress 2011 in Athen war die Forderung nach europaweiten Mindeststandards nicht mehrheitsfähig. Für den nächsten Kongress im September 2015 in Paris hingegen zeichnet sich nun ein breiter Konsens ab.

ERFAHRUNGSGESÄTTIGTER SINNESWANDEL

Wie ist dieser Sinneswandel zu erklären? Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen hat sich die Mitbestimmung in Deutschland während der Eurokrise bewährt. Sie half, Arbeitsplätze zu sichern, während in vielen anderen EU-Ländern massiv Jobs abgebaut wurden. Zum anderen mussten Gewerkschaften wie die französische CGT feststellen, dass sie im Zuge der (von Brüssel forcierten) Privatisierung und Liberalisierung an Einfluss verlieren.

„Die CGT fiel aus den Aufsichtsräten heraus und musste sich nach anderen Möglichkeiten umsehen“, so Kowalsky. Dies habe zum Umdenken in Frankreich beigetragen. Der EGB-Experte verweist auch auf die Mitbestimmungsoffensive, die der DGB bei seinem letzten Kongress im Mai in Berlin gestartet hat. Damals rührte sogar EGB-Generalsekretärin Bernadette Ségol die Werbetrommel: „Das ist direkter und praktizierter Sozialdialog“, sagte sie in Berlin. Mitbestimmung sei ein Beitrag zur Wirtschaftsdemokratie.

Allerdings steht die Resolution bisher nur auf dem Papier; bis zu ihrer Umsetzung ist es noch ein weiter Weg. Zunächst müssen einige Missverständnisse ausgeräumt werden. „Es geht nicht um Mindeststandards in Deutschland, sondern im europäischen Gesellschaftsrecht“, stellt Norbert Kluge, Mitbestimmungsexperte der Hans-Böckler-Stiftung, klar. Das Ziel müsse sein, über mitbestimmte Unternehmen mit einer europäischen Rechtsform – wie der Europäischen Aktiengesellschaft (Societas Europaea, SE) – Impulse in allen EU-Ländern zu geben. Das sieht man auch in Brüssel so. „Wir wollen gemeinsame Standards für alle und schlagen nichts vor, was die deutsche Mitbestimmung verändert“, betont EGB-Experte Kowalsky. Allerdings gehe es darum, alle Gewerkschaften mitzunehmen. Und die agieren unter ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen. In vielen Ländern hat man noch gar keine Erfahrung mit der Mitbestimmung, in Skandinavien gelten andere Schwellenwerte als in Deutschland. Und selbst die 2004 EU-weit eingeführte Europa AG hat viele Facetten. Von den 2234 Gesellschaften, die im Oktober 2014 registriert waren, sind nur 316 „normale“ SE, das heißt, hinter ihnen steht eine operativ tätige Gesellschaft mit mindestens fünf Beschäftigten. Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in diesen Gesellschaften unterscheidet sich stark. Nur in den wenigsten gilt die paritätische Mitbestimmung. 

LÜCKENHAFTES GESELLSCHAFTSRECHT

Dies hat in Deutschland die Sorge ausgelöst, dass die SE zur Flucht aus der Mitbestimmung genutzt werden könnte. Die Erfahrung zeigt jedoch etwas anderes. Arbeitnehmerbeteiligung in der SE funktioniert durchaus, wie die Beispiele BASF, Allianz oder MAN zeigen. Allerdings wird die SE erkennbar dafür genutzt, Mitbestimmung zu vermeiden: Knapp unterhalb der Schwellen für Drittelbeteiligung (500 Arbeitnehmer) und paritätische Mitbestimmung (2000) werden Unternehmen in SE überführt. Zudem ist das europäische Gesellschaftsrecht nicht nur im Hinblick auf Arbeitnehmerbeteiligung inkonsistent. Es sei „voller Schlupflöcher, Lücken und Unterschiede“, heißt es in der Resolution des EGB. 

Das EU-Gesellschaftsrecht sei von einem minimalistischen Ansatz gekennzeichnet, kritisiert der Gewerkschaftsdachverband. EU-Maßnahmen seien eher auf die Beseitigung von Hindernissen gerichtet als darauf, ein europäisches Modell für Corporate Governance zu fördern. Deshalb arbeitet der EGB gegen eine weit verbreitete Haltung an, dass die Arbeitnehmerbeteiligung in Brüssel eher als Belastung für die Unternehmen betrachtet wird denn als Trumpfkarte für ein faires und soziales Europa.

Zwar betont der neue Kommissionspräsident Juncker bei jeder Gelegenheit, dass er die EU sozialer machen möchte. In einem Interview mit diesem Magazin vor der Europawahl versprach er sogar, die Mitbestimmung „weiter vorantreiben“ zu wollen. In seinem Arbeitsprogramm ist davon allerdings keine Rede mehr. Und in der Praxis konzentriert sich die neue Juncker-Kommission mehr denn je auf Entbürokratisierung und Deregulierung.

Hier soll die Forderung nach europäischen Mindeststandards für die Arbeitnehmerbeteiligung einen Riegel vorschieben. „Wir wollen nicht, dass die Mitbestimmung dem Entbürokratisierungswahn geopfert wird“, betont Kluge. Ähnlich sieht es sein EGB-Kollege Kowalsky in Brüssel. Erst einmal müsse man Juncker von der „extremen Deregulierung“ abbringen, wie sie die alte EU-Kommission mit dem REFIT-Programm versucht hat (siehe Mitbestimmung 7+8/2014).

Zudem will der EGB abwarten, ob Juncker seine Versprechen einhält. „Wenn er eine Wende versucht, dürfen wir ihm nicht in den Rücken fallen“, so Kowalsky. Im nächsten Jahr endet die Schonfrist. Dann wollen die Gewerkschaften in Brüssel zur Offensive blasen – der Kurswechsel beim EGB hat sie wieder sprachfähig gemacht.

MEHR INFORMATIONEN

Die Entschließung des EGB-Exekutivausschusses „Ein neuer Rahmen für mehr Demokratie bei der Arbeit“ vom 20.–21. Oktober 2014

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