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Ukrainische Erntehelfer auf einem Erdbeerfeld in Mecklenburg-Vorpommern Magazin Mitbestimmung

Saisonarbeit: Hilfe für Erntehelfer

Ausgabe 03/2021

In der deutschen Landwirtschaft arbeiten viele Osteuropäer als Saisonkräfte. Seit Anfang des Jahres versucht ein Kooperationsprojekt in Nordrhein-Westfalen, Betroffene aufzuspüren und zu unterstützten. Von Annette Jensen

Ohne Pässe und Geld standen die zehn Männer am Morgen des 4. Februar auf einer Straße am Niederrhein und waren obdachlos. Seit Januar hatten sie bei einer Baumschule gejobbt, zehn bis zwölf Stunden Pflanzen gestutzt, oft im Regen und bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. Wer sich zwischendurch etwas Wärmeres anziehen oder zur Toilette gehen wollte, bekam dafür Lohn abgezogen. Als sich einige von ihen über die Wohn- und Arbeitsbedingungen beschwerten, kündigte der Chef ihnen fristlos.

Nun standen sie auf der Straße, einer von ihnen googelte und fand das auf Rumänisch geschriebene Hilfsangebot von „Arbeit und Leben“ des DGB und des Vereins VHS NRW. Mit Beraterin Catalina Guia hatten sie eine Frau am Handy, die ihre Sprache spricht und sich außerdem mit dem deutschen Arbeitsrecht auskennt.

Die Löhne in der Heimat sind schlecht

Unter den zehn Männern, die Anfang Februar bei „Arbeit und Leben“ anriefen, war auch Andre Stan (Name geändert). Inzwischen arbeitet er wieder in Rumänien auf einer Baustelle. „Irgendeinen Job zu finden ist nicht schwierig“, sagt der 23-Jährige. Doch die Bezahlung in Rumänien ist schlecht: Der gesetzliche Mindestlohn wurde Anfang 2020 auf monatlich umgerechnet 467 Euro hochgesetzt – brutto. Deshalb war Andre Stan schon mehrfach in Westeuropa, hat bei Amazon in England gejobbt, in Deutschland Erdbeeren im Akkord gepflückt und in diesem Januar bei einer Baumschule in Brüggen Pflanzen gestutzt. Wie oft in der Landwirtschaft musste er zu Arbeitsbeginn seinen Pass abgeben. Er unterschrieb einen Vertrag in einer Sprache, die er nicht lesen konnte. Eine Kopie bekam nicht. Untergebracht war er mit rund 40 Männer in Containern ohne funktionierende Heizung; viele schliefen in ihren Jacken. „In der Küche waren die Rohre verstopft, die Räume dreckig, die Toiletten weit entfernt“, berichtet Andre Stan.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt

Nachdem sie Beraterin Catalina Guia ihre Lage geschildert hatten, schrieb sie eine dringende E-Mail an die Beratungsstelle Arbeit in Mönchengladbach, wo sich Karl Sasserath, der Leiter des dortigen Arbeitslosenzentrums, ans Telefon klemmte und versuchte, einen Polizeieinsatz zu organisieren. „Das war gar nicht so einfach“, berichtet er. Die zuständige Dienststelle war nicht erreichbar, er erstattete eine Onlineanzeige und konnte veranlassen, dass ein Streifenwagen zu den frierenden Rumänen fuhr.

Derweil sprach Guia mehrfach mit dem Baumschulbetreiber. „Er hat sehr schlecht über die Arbeiter geredet und wollte, dass die Anzeige zurückgenommen wird.“ Mehrere Stunden dauerten die Verhandlungen mit Arbeitgeber und Polizei. Erst als es längst dunkel war, bekamen die Männer ihre Pässe ausgehändigt und wurden nach dem Mindestlohngesetzes bezahlt. Nun überprüft die Staatsanwaltschaft Krefeld die Anschuldigungen gegen den Arbeitgeber.

Fast 300 000 Saisonarbeitskräfte kommen jährlich nach Deutschland, um Spargel zu stechen, Wein und Obst zu ernten oder in einer Baumschule zu helfen, so eine Studie des Bundeslandwirtschaftsministeriums. Erntehelfer sind formal einzeln beschäftigt, auch wenn Vermittler in den Heimatländern eine wichtige Rolle spielen. Derzeit könnn sie vier Monate ohne Sozialversicherung arbeiten. Wer schlecht behandelt wird, hatte bisher kaum eine Anlaufstelle.

„Es ist sehr schwierig, an die Menschen ranzukommen“, berichtet Pagonis Pagonakis, Koordinator des Projekts „Arbeitnehmerfreizügigkeit fair gestalten“ von DGB und VHS NRW. Die Einsatzorte liegen verstreut, die Beschäftigten werden abgeschottet. Weil kaum jemand gewerkschaftlich organisiert ist, bleibt oft nur die Möglichkeit, Flyer in den Muttersprachen am Feldrand loszuwerden. Als im letzten Jahr wegen Corona Sonderflüge für Saisonarbeitskräfte stattfanden, nutzten Gewerkschafter die Chance, den Ankommenden an den Flughäfen Informationen in die Hand zu drücken. „Die Vorarbeiter versuchen oft, so etwas zu unterbinden“, so Pagonakis.

Seit Anfang des Jahres kooperiert sein dreiköpfiges Team mit den über 70 Beratungsstellen Arbeit in NRW. Deren Zielgruppe sind seither nicht mehr allein Erwerbslose, sondern auch Menschen, die unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen schuften. Sprachkenntnisse und Fachexpertise auf der einen Seite und dezentrale Strukturen auf der anderen Seite wirken nun zusammen.

Nicht ohne Sozialversicherung

Derweil versucht die zuständige Gewerkschaft, die IG BAU, auf politischer Ebene voranzukommen. Am selben Tag, an dem die zehn Rumänen von der Baumschule auf der Straße ausharrten, veranstaltete sie einen ersten sozialen Dialog mit Vertretern der Arbeitgeberverbände, den zuständigen Ministerien und Bundestagsabgeordneten zu den Arbeitsbedingungen auf deutschen Feldern. „Unser Ziel ist, dass auch die Saisonkräfte in der Landwirtschaft von Anfang an sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden müssen“, sagt Jörg Heinel, Leiter des Forst- und Agrarbereichs bei der IG BAU. In der Fleischindustrie ist das seit 1. Januar vorgeschrieben.

Dagegen hat die große Koalition die allgemeine Frist für eine sozialversicherungsfreie Anstellung im vergangenen Jahr auf Druck der Arbeitgeber sogar noch von 70 auf 115 Tage erhöht.

Für ausländische Erntehelfter gelten 102 Tage, was vier Monaten entspricht. Die Regelung soll noch einmal verlängert werden. Das Bundeskabinett stimmte zu, dass Erntehelfer weiterhin vier Monate ohne Beiträge zu Renten- und Krankenversicherung in Deutschland arbeiten können. Agrarministerin Julia Klöckner begründete die Verlängerung ausgerechnet mit dem Infektionsschutz. Weniger Wechsel im Personal würde das Ansteckungsrisiko verringern. DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel warnt dagegen vor unhaltbaren Zuständen in der Ernte. Sie fordert den Bundestag auf, diese Regel abzuwenden.

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