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20 bis 30 Euro bleiben den Tagelöhnern am Ende eines zwölfstündigen Arbeitstages. Magazin Mitbestimmung

Von MICHAELA NAMUTH: Wie die Mafia in Süditalien Flüchtlinge ausbeutet

Ausgabe 06/2017

Reportage Die Deutschen lieben die italienische Küche. Doch manche Lebensmittel haben eine dunkle Vergangenheit. So wie die Tomaten, deren Geschichte in einem Immigranten-Ghetto im Süden Italiens beginnt.

Von MICHAELA NAMUTH

Der Asphalt der Straße ist glühend heiß. Zwei junge Männer schieben ihre Fahrräder. Eine Frau trägt einen Wassereimer zum einzigen WC-Container. Links und rechts reihen sich Lagerhäuschen an Baracken aus Plastik und Pressholz. Dahinter türmen sich Müllhaufen. Hinter dem Müll erstrecken sich kilometerweit grüne Felder. Auf einem freien Platz verkauft jemand Turnschuhe, Batterien, einen Gaskocher. Wer hier im Ghetto von Borgo Mezzanone untergekommen ist, braucht alles zum Leben. Denn er hat alles verloren – meist auf der Flucht über das Mittelmeer.

Der Rand Europas

Auch Aliou, 24, ist vor ein paar Monaten in einem überfüllten Kutter auf der Insel Lampedusa gelandet. Jetzt sitzt er auf einer Plastikkiste vor seinem Ein-Raum-Wohnbunker und raucht. Drinnen hat er die Hitze nicht mehr ausgehalten. In der Behausung schlafen noch acht Männer, Senegalesen wie er. „Wir warten auf die Tomatenernte“, erklärt Aliou in gebrochenem Italienisch. Denn hier, in den illegalen Baracken nahe der apulischen Stadt Foggia, beginnt die Produktionskette der italienischen Tomaten, die geschält in Dosen oder verpackt in Plastikkörbchen auch in deutschen Supermärkten landen.

Das Ghetto, eine Art Township am Rande Europas, ist ein Reservoir von Tagelöhnern zum Billigstpreis. Die Bewohner – Flüchtlinge und Immigranten, vor allem aus dem Senegal, aus Nigeria, Ghana, Marokko und Afghanistan – leben und arbeiten unter sklavenähnlichen Bedingungen. Sie werden morgens von einem sogenannten Caporale, einem Mittelsmann zwischen Arbeitern und Landwirtschaftsunternehmern, im Kleinbus abgeholt und auf die Felder gekarrt. Der Caporale kassiert für seine „Dienstleistungen“ ordentlich ab. Er lässt sich die Fahrt, das Trinkwasser und die Arbeitsutensilien teuer bezahlen, und er verdient an jeder Kiste Tomaten, die sein Trupp erntet. Den Männern bleibt am Ende eines zwölfstündigen Arbeitstages in der Sommerhitze Süditaliens ein Verdienst von 20 bis 30 Euro.

Allein in der Provinz Foggia existieren sechs dieser Ghettos, in manchen hausen bis zu 3000 Menschen. In den letzten Monaten hat es vereinzelt Proteste gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen gegeben. Doch das System des sogenannten Caporalato, das in der Regel von lokalen Mafiaorganisationen kontrolliert wird, hält sich hartnäckig. „Die Einwanderer sind illegal und somit total erpressbar“, erklärt Maurizio Carmeno von der Gewerkschaft CGIL Foggia.

Die kriminellen Netzwerke in der italienischen Landwirtschaft setzen jährlich zwischen 14 und 17,5 Milliarden Euro um, so ein Bericht der Branchengewerkschaft FLAI-CGIL. 430 000 Menschen sind in das Caporalato eingebunden, rund 100 000 davon leben unter prekären Lebensbedingungen in illegalen Ghettos. Die Studie listet 80 Distrikte in Italien auf. Dabei geht es mitnichten nur um die Tomaten im tiefen Süden. Die Tagelöhner und Tagelöhnerinnen ernten auch Äpfel in Südtirol, Weintrauben im Chianti, Melonen in der Gegend von Mantua und Gemüse auf den Feldern bei Terracina-Fondi zwischen Neapel und Rom.

Oft spezialisieren sich Gruppen nach Nationalität. Die Erdbeeren auf den Feldern um Caserta pflücken Frauen aus Osteuropa ebenso wie die Strauch- und Kirschtomaten in Sizilien. Für die Orangenernte im kalabresischen Rosarno hingegen werden fast ausschließlich Afrikaner angeheuert, die wie Aliou in Slums hausen. Obwohl die meisten jung sind und Hitze und Anstrengung aushalten, brechen jedes Jahr Menschen tot auf den Feldern zusammen.

Bei der Ernte arbeiten und sterben aber nicht nur Immigranten. Im Juli 2015 fiel die damals 49-jährige Italienerin Paola Clemente auf einem Rebenfeld im apulischen Andria einfach um. Ihr Herz hatte versagt. Sie verdiente 27 Euro am Tag. Der Fall ging durch die Presse, und fünf Caporali wanderten ins Gefängnis. „Die Medien stürzen sich nur auf das Thema, wenn es Tote gibt“, ärgert sich Gewerkschafter Carmeno.

Im Treppenhaus vor seinem Büro warten junge Afrikaner geduldig in der Schlange. Das CGIL-Gewerkschaftshaus ist ein Anlaufpunkt für alle, die einen provisorischen Wohnsitz, juristische Unterstützung beim Asylantrag oder einfach nur Infos über ihre Rechtslage brauchen. Viele wenden ihre Gesichter ab. Sie wollen nicht gesehen und nicht fotografiert werden. Keiner von ihnen hat eine Aufenthaltserlaubnis. „Sie wissen noch nicht mal, wo sie einen Antrag stellen können“, erklärt Carmeno.

Im Mikrokosmos der Misere

Er und sein Kollege Daniele Calamita erklären sich bereit, mit uns in das Ghetto von Borgo Mezzanone zu fahren. Die Mafia und ihre Caporali schirmen die illegalen Baracken ab, auch mit Gewalt. Wir fahren los, obwohl heute kein CGIL-Kontaktmann im Lager ist. Es geht vorbei an Weinreben, Getreidefeldern und Olivenhainen. In der roten Erde Apuliens gedeiht alles.

Der Ort liegt rund zehn Kilometer von Foggia entfernt. Wir machen halt auf dem Kirchplatz. Dort wartet Azmi Jarjawi von der Landwirtschaftsgewerkschaft FLAI-CGIL Bari. Er ist Jordanier mit palästinensischen Wurzeln. Für ihn ist Ausgrenzung das große Thema. „Es ist wichtig, dass wir hier draußen was machen. Die Leute auf dem Dorf fühlen sich genauso abgehängt vom Staat wie die im Ghetto“, sagt er. Während der Ernte fährt die FLAI-CGIL mit Campern zu den Tagelöhnern auf die Felder. Im Ghetto ist die Kontaktaufnahme schwieriger.

Die Baracken liegen außerhalb des Ortes auf dem Gelände des verlassenen Militärflughafens. Wir fahren an verfallenen Bauernhöfen vorbei, vor denen dunkelhäutige Männer sitzen. Manchmal steht ein Transporter oder Minibus daneben. „Das heißt, dass hier ein Caporale wohnt“, erklären unsere Begleiter. Die Caporali der unteren Hie­rarchie sind heute meistens keine Italiener mehr. Die mafiosen Organisationen beauftragen Afrikaner mit dem Transport der Arbeitstruppen und dem Verkauf von Lebensmitteln, Arbeitshandschuhen und Handys zu überteuerten Preisen.

Wir fahren auf der ehemaligen Flugpiste langsam in das Ghetto, halten vor einem Müllberg, steigen aus und bleiben neben dem Auto stehen. Der Müll gärt und stinkt in der Mittagshitze. Ein paar Männer sitzen auf Obstkisten vor einer Holzhütte, die ein handgeschriebenes Schild als „Bar Nigeria“ ausweist. Es gibt auch ein Bordell und eine Diskothek, erzählen unsere Begleiter. Aber keiner weiß genau, wer die Menschen sind, die in diesem Mikrokosmos der Misere leben. Der Staat schaut zu. Wenn er aufräumen würde, müsste er sich um sie alle kümmern.

Die Männer vor der Bar beobachten uns misstrauisch. Dann kommt Aliou, der junge Senegalese, langsam auf uns zu. Er ist neugierig, fragt, wer wir sind. Die Tomatenernte ist wichtig, sagt er, einen Teil des Geldes schickt er nach Hause. Morgens früh um vier kommt der Caporale. Die Arbeit auf dem Feld endet abends um sechs. Für eine Kiste Tomaten, die 300 Kilo wiegt, bekommt Aliou­ drei Euro fünfzig.

Auch die beiden Männer mit dem Fahrrad bleiben stehen. Einer erzählt auf Französisch, dass sein Asylantrag zweimal abgelehnt wurde. Er will mit einem Anwalt sprechen. Maurizio Carmeno gibt ihm seine Telefonnummer. Der Mann ist ebenfalls Senegalese und war bis vor Kurzem im offiziellen Auffanglager, ein paar Meter weiter auf der anderen Seite des Feldes, untergebracht.

Im Centro di Accoglienza per Richiedenti Asilo, kurz CARA, leben vor allem Frauen und Kinder. Die Männer, deren Antrag abgelehnt wurde, fliegen raus und landen direkt auf der anderen Seite im illegalen Ghetto. Dieses nährt sich – wie die anderen Slums – vom immensen Immigrantenfluss. Ihn kann die Mafia missbrauchen, weil sich in Italien und Europa sonst niemand kümmert. Sogar einige der offiziellen Auffanglager, wie das größte Lager Europas im kalabresischen Isola di Capo Rizzuto mit aktuell rund 1500 Immigranten, sind offensichtlich in Mafia-Hand. Im Mai wurden dort 68 Personen verhaftet.

Sechs Cent für ein Kilo Tomaten

„Die Auflösung der Ghettos, wo sich die Caporali ihre Sklaventrupps zusammenstellen, wäre ein entscheidender Schlag gegen die Mafia“, erklärt Daniele Calamita. Aber dann müssten die Institutionen reagieren: menschenwürdige Unterkünfte schaffen, beispielsweise in verlassenen Bauernhöfen, den Transport auf die Felder organisieren und Finanzmittel zur Verfügung stellen.

Das Caporalato erzeugt nicht nur Armut und moderne Sklaverei, sondern auch hohe Verluste an Steuereinnahmen und Arbeitsplätzen. Trotz fortschreitender Automatisierung ist die italienische Landwirtschaft auf eine große Zahl von Saison- und Wanderarbeitern angewiesen. 2013 betrug der offizielle Umsatz der Branche 43 Milliarden Euro. Das illegale Geschäftsvolumen, unter anderem Caporalato und Schwarzmarkt, wird aktuell in einem Bericht des Forschungsinstituts Eurispes auf 21,8 Milliarden Euro beziffert. Unter dem Druck dieser Daten hat die Regierung im vergangenen Jahr ein wichtiges Gesetz erlassen, das erstmals auch die Landwirtschaftsunternehmer unter Strafe stellt, die sich der illegalen Arbeitsbeschaffung bedienen.

Die Crux des Problems ist aber nicht die italienische Justiz, sondern die Produktions- und Lieferkette, die längst über nationale Grenzen hinausgeht und von keinem Gesetz kontrolliert wird. „Wie ist es möglich, dass die Landwirte sechs bis acht Cent für ein Kilo Tomaten bekommen und der Verbraucher im Supermarkt dafür zwei Euro bezahlt? Wer verdient daran so viel?“, fragt Gewerkschafter Calamita. Er hat ausgerechnet, dass die Tomatenanbauer 235 Millionen Euro Mehreinnahmen hätten, wenn die Handelsketten nur zwei Cent pro Kilo mehr bezahlen würden. „Damit könnte man menschenwürdige Unterkünfte und Arbeitsbedingungen schaffen, und das Caporalato würde sich von selbst erledigen“, so Calamita.

Meist beginnt der Druck auf die Landwirte und somit auf die Feldarbeiter damit, dass die Zulieferer der Handelsketten die Preise schon vor der Ernte diktieren. Dies gilt vor allem für die Industrie der Tomatendosen, die die Discounterketten beliefern und in der Region Kampanien­ zum großen Teil von der Camorra kontrolliert werden. Auch zwischen den Supermarktketten tobt der Preiskrieg.

Immerhin haben Handelsriesen wie Coop in Italien und Rewe in Deutschland und Österreich erkannt, dass sich immer mehr Verbraucher für die Herkunft der Waren interessieren. Sie haben begonnen, Lieferketten zu kontrollieren und soziale Standards einzufordern – auch bei Tomaten. Bislang sind diese Kontrollen freiwillig. Es gibt kein europäisches Gesetz, das Transparenz einfordert. Die Tatsache, dass die Mafia in Mailand mehrere Lidl-Filialen führte, lässt erahnen, wie weit ihre Macht entlang der Handelsketten reicht.

Die freiwilligen Lieferkontrollen von Coop und Rewe seien ein wichtiger Schritt, findet Bernhard Franke, verantwortlich für den Bereich Handel bei ver.di Baden-Württemberg. „Konzerne wie Rewe wollen aus der Kritik herauskommen. Deshalb können sie sich reines Wortgeklingel nicht leisten“, sagt er. Für ver.di ist das Thema seit vielen Jahren aktuell. Die Gewerkschaft engagiert sich in dem internationalen Projekt ExChains, das den Austausch mit Arbeiterinnen der Nähfabriken in Bangladesch, China und anderen Ländern sucht.

„Diese Erfahrungen tragen die Betriebsräte in ihre Geschäfte hinein“, so Franke. Zudem ist ver.di wie auch die NGG und weitere 24 Organisationen an dem Bündnis Supermarkt-Initiative beteiligt, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Marktmacht der Handelsketten transparent zu machen. Dabei ging es zuletzt um Bananen und brasilianische Orangensaftkonzerne. Die Tomaten aus Italien waren bislang kein Thema.

Gottes Segen. Und Informationen

Im Ghetto bereiten sich Aliou und die anderen auf die Ernte vor. Ein Mann fegt ein Lagerhäuschen aus, auf dem „Christ Church“ geschrieben steht. Charles Ojieaga ist Pastor, aus Nigeria. „Hier gibt es keine Hoffnung, keine Medikamente und keine Ausweispapiere, nur Frustration. Deshalb hat mich Gott hierhergerufen“, sagt er und lässt uns eintreten.

Im Inneren stehen zwar mehr Mülltüten als Kirchenbänke herum, aber nebenan steht schon ein Betongerüst, das einmal die neue Kirche werden soll. Pastor Ojieaga möchte sein Haus auch für die Gewerkschafter öffnen, für eine wöchentliche Beratungsstelle, so sein Angebot an unsere Begleiter. Sie könnten kommen, um den Menschen das zu geben, was sie – fast – noch dringender bräuchten als den Segen Gottes: Informationen, um der Misere im Ghetto zu entrinnen.

 

WEITERE INFORMATIONEN

Auch die DGB-Gewerkschaften sind engagiert: Die NGG veranstaltete im Mai eine Konferenz zum Thema Gute Arbeit. Gutes Essen. Dabei stand auch die Frage nach einer internationalen Lebensmittelpolitik auf dem Programm. Eine Dokumentation wird vorbereitet.

In Apulien existieren Initiativen wie Capo Free – Ghetto Off, die Gewerkschaften, Produzenten, Verbraucher- und Hilfsorganisation an einen Tisch bringen. Es gibt auch private Unternehmen wie Funky Tomatoe, in denen junge Landwirte gemeinsam mit afrikanischen Einwanderern Tomaten anbauen und weiterverarbeiten. Ihre Produkte gehören zu den wenigen, die absolut „caporalato free“ sind.

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