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Magazin Mitbestimmung

: Gefühltes Unrecht

Ausgabe 12/2008

TARIFPOLITIK Im öffentlichen Dienst gibt es Unmut wegen längerer Arbeitszeiten und erhöhter Belastungen. Den letzten Abschluss hat ver.di mit 30 Minuten Mehrarbeit erkauft. Ausnahmen von der Regel schüren weitere Konflikte.

Von PETRA WELZEL, Journalistin in Berlin / Foto: picture alliance

"Wenn Frank früher was gesagt hat, dann war das so!", sagt Peter Reißaus, Betriebsratsvorsitzender der üstra Hannoversche Verkehrsbetriebe AG. Frank, das ist der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske, der den Leuten im letzten Tarifkonflikt öffentlich immer wieder versprach, mit ver.di werde es keine Arbeitsverlängerung geben. Auch noch kurz vor der Schlichtung. Der Opernplatz war brechend voll damals. Ein paar Tage und eine Verhandlungsrunde später kam dann die "nüchterne Erkenntnis", wie Peter Reißaus sagt. Seit dem neuen Tarifabschluss im öffentlichen Dienst vom Frühjahr dieses Jahres gibt es für die - grob gerechnet - zwei Millionen Beschäftigten beim Bund und in den Kommunen mehr Geld, aber eben auch eine halbe Stunde Mehrarbeit pro Woche.

Betriebsrat Reißaus macht ein ernstes Gesicht, wenn er erzählt. Vor der Tarifrunde hatte er eine Umfrage bei den Beschäftigten machen lassen. Den meisten üstra-Leuten ging es vor allem ums Monatsgehalt. Viele wären bereit gewesen, mehr Stunden in der Woche zu arbeiten, wenn nur das Konto stimmte. Aber dann erklärte ihnen die Gewerkschaft, sie dürften sich auf solche Deals nicht einlassen. Die Arbeitszeit sei nicht verhandelbar. Aber auf nichts und niemanden scheint mehr Verlass zu sein, auch nicht auf Bsirske. Peter Reißaus musste am Ende stinksauren U-Bahn-, Straßenbahn- und Busfahrern erläutern, warum die Gewerkschaft am Ende doch einer Verlängerung der Wochenarbeitszeit von 38,5 auf 39 Stunden zugestimmt hatte. Der Gewerkschaftsvorsitzende war da längst wieder weg.

Er "habe ein gutes Gesamtergebnis nicht durch einen Streik aufs Spiel setzen wollen", erklärt Bsirske heute. Zudem weist er darauf hin, dass die Arbeitszeit dadurch nur in vier Bundesländern verlängert wurde - darunter in Niedersachsen. Und auch hier nur auf ein Niveau, das, so Bsirske, "bereits im Vorfeld in anderen Bundesländern das Ergebnis langer und harter Arbeitskämpfe war". Er verweist auf den neun Wochen langen Streik in Baden-Württemberg im Jahr 2006, der nicht verhindern konnte, dass die Arbeitszeit damals auf 39 Stunden erhöht wurde. "Hätten die Arbeitgeber weiterhin auf ihrer eigentlichen Forderung nach 40 Stunden für alle bestanden", erklärt der ver.di-Vorsitzende, "dann hätten wir sicher gestreikt."

EINE DIFFUSE UNZUFRIEDENHEIT_ Kaum ein Tarifwerk von ver.di wurde seit Gründung der Gewerkschaft in den Medien und der Öffentlichkeit derartig gelobt wie der jüngste Abschluss für den öffentlichen Dienst im Bund und in den Kommunen. Mit rund acht Prozent mehr Lohn im Verlauf von 24 Monaten nach zwei Nullrunden und Zuwächsen im Bereich von zwei Prozent in den vorangegangenen Tarifrunden wurden der Gewerkschaft erstmals wieder Stärke und kluge Verhandlungsführung attestiert. Die halbstündige Arbeitszeitverlängerung schien da kaum ins Gewicht zu fallen - wie bei einer saftigen Kirsche, die man mit dem Kern verschluckt.

Es schien, als habe ver.di sich selbst in der Arbeitszeitfrage noch Gestaltungsraum bewahren können, indem besonders belastete Berufsgruppen wie etwa Schwestern und Pfleger in den Krankenhäusern von einer Arbeitszeiterhöhung ausgeschlossen wurden. Für ver.di aber war das niemals mehr als ein zäh ausgehandelter Kompromiss. Es waren andere, die dies gern als einen modernen Ansatz für eine differenzierte Zeitpolitik interpretierten. Tatsächlich würde ver.di wohl gern an einer 39-Stunden-Woche festhalten - mit gleichen Arbeitszeiten für alle.

Eigentlich hat ver.di alles richtig gemacht. Mit einer Imagekampagne für den öffentlichen Dienst mit dem Slogan "Genug Gespart" konnte die Gewerkschaft bereits vor der eigentlichen Tarifrunde in der breiten Öffentlichkeit deutlich machen, dass es ums Eingemachte gehen würde. Dass die Beschäftigten an der Grenze von Belastbarkeit, Zumutbarkeit und Entlohnung arbeiteten - und das für alle Bürger, sei es im Krankenhaus, bei der Feuerwehr oder im Kindergarten. Zu Beginn des Jahres und im Verlauf der sechs Verhandlungsrunden bis Ostern kamen punktuelle Warnstreiks hinzu. Das Nein zu längeren Arbeitszeiten wurde dabei wie eine Monstranz vorangetragen. Mit Erfolg: Erstmals seit der ver.di-Gründung traten der Gewerkschaft während und auch noch nach der Tarifrunde mehr Personen bei als austraten.

Doch das Verhältnis könnte sich auch wieder umkehren. Bei der üstra verzeichnet Peter Reißaus inzwischen wieder mehr Aus- als Eintritte in die Gewerkschaft. Die Ursachen der Unzufriedenheit sind nicht leicht zu fassen. Denn auf den ersten Blick scheint es, als hätten die Beschäftigten bekommen, was sie ursprünglich wollten - mehr Geld, auch um den Preis längerer Arbeitszeiten. Statt wie früher 1712 und 1767 Euro verdienen die Fahrer jetzt 1835 und 1890 Euro brutto.

Doch erst jetzt merken sie, was die Mehrarbeit bedeutet. Die Schmerzgrenze war für viele schon vor der Tarifrunde erreicht. Zwar hat niemand bei der üstra längere Dienstzeiten als zuvor. Dafür aber sind freie Tage weggefallen, die die Mitarbeiter nun schmerzlich vermissen. Betriebsrat Reißaus klagt zudem über "Arbeitsverdichtung und kürzere Pausen". Er fügt hinzu: "Und nach 20 bis 25 Jahren ist der Rücken kaputt."

UNGLEICHE ARBEITSZEITEN_ Nicht nur das 30-Minuten-Opfer sorgt für den Unmut unter den Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Seit dem Ausstieg der Länder aus dem Flächentarifvertrag und der Tarifgemeinschaft aus Bund, Ländern und Kommunen im Jahr 2004 sorgt ein Flickwerk unterschiedlicher Arbeitszeiten vielerorts für Neid und Unverständnis. ver.di hat eine solche Kleinstaaterei nie wirklich gewollt - Ausrutscher nach oben sind das Ergebnis von Zugeständnissen, die man hier und dort machen musste, Ausrutscher nach unten sind alte Besitzstände, die niemand kampflos preisgeben wird, der es nicht muss. Bei den Beschäftigten des Bundes wird seit 2005, nach dem Inkrafttreten des neuen Tarifvertrags im öffentlichen Dienst, zwar einheitlich in West und Ost 39 Stunden lang gearbeitet, doch bei den Kommunen sieht es wieder ganz anders aus.

Im Osten gilt im Prinzip die 40-Stunden-Woche, wobei in einigen Kommunen jedoch nur 32 oder 36 Stunden gearbeitet wird - ein Ergebnis von Kurzarbeit zur Sicherung von Arbeitsplätzen, für entsprechend weniger Geld. Bei den Kommunen im Westen galt dagegen bis zum jüngsten Tarifabschluss weitgehend die 38,5-Stunden Woche, eine günstigere Regel als im Osten. Doch schon 2005 wurde durch Öffnungsklauseln die Verlängerung der Arbeitszeit auf bis zu 40 Stunden möglich.

In Hamburg wurde bisher zwischen 38 und 40 Stunden gearbeitet - abhängig vom Alter der Beschäftigten, ihrem Einkommen und der Existenz von Kindern unter zwölf Jahren. Damals schrieb ver.di sich auf die Fahne, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mitgedacht zu haben und die Gutverdiener für ihr Salär auch etwas mehr in die Pflicht zu nehmen. Fragt man heute nach den Hamburger Erfahrungen, sagt Andreas Gehrke, Bereichsleiter Tarifpolitik öffentlicher Dienst in der ver.di-Bundesverwaltung: "Uns war schnell klar, dass das kein Modell für die Zukunft ist. Es war so kompliziert, dass es Zweifel gesät hat." Mit dem neuen Tarifabschluss wurden deshalb auch alle diese Regelungen wieder gestrichen.

In Baden-Württemberg galt und gilt im kommunalen Bereich, ausgenommen bei Auszubildenden und Praktikanten, generell die 39-Stunden-Woche: In Bayern, Bremen, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland gab es noch die 38,5-Stunden-Woche, die jetzt auf 39 Stunden angehoben wurde. In Niedersachsen mit der Landeshauptstadt Hannover hing seit dem 1. April 2006 die Arbeitszeit vom Beruf ab. Für Beschäftigte in Kindergärten, Krankenhäusern und anderen Bereichen mit hoher körperlicher Belastung galt weiterhin die 38,5-Stunden Woche. Dafür mussten die Beschäftigten aber bis zu drei Tage unbezahlt für ihre Fortbildung aufbringen. Für Erzieherinnen und Krankenschwestern und Pfleger gilt diese Arbeitszeitregelung in der Stadt Hannover bis heute.

In anderen Ländern, wo erst ab Januar 2009 verhandelt werden wird, sind die Regelwerke so kompliziert, dass man ohne Taschenrechner kaum eine Chance hat, seine tatsächliche Arbeitszeit auszurechnen. Selbst die Tarifexperten geraten da gelegentlich in Erklärungsnot. Unverständlich nach dem Abschluss in Bund und Kommunen bleibt für Außenstehende auch, warum in der Stadt Hannover eine Kindergärtnerin von einer Erhöhung ihrer Arbeitszeit um eine halbe Stunde verschont blieb, ihre Kollegin im Umland aber nicht. Der Hintergrund: Ende 2004 schlossen die Städter einen Vertrag zur Beschäftigungssicherung ab, der nun weiter gilt. Dabei dürften die Stadtkinder kaum anstrengender sein als die im Speckgürtel.

Maud Lehmann-Musfeldt ist Leiterin der Kindertagesstätte Krähenwinkel in der Stadt Langenhagen, die sich nahtlos an Hannover anschließt. Am späten Mittag kann es dort unter zwei Dreijährigen schon mal zu einem lauten Streit wegen eines roten Tuchs kommen. So laut, dass sie vor die Tür ihres Büros tritt, um nachzusehen, was da vor sich geht. Vom anderen Ende des Gangs naht schon eine Erzieherin, um zwischen den Streithähnen zu schlichten. Dabei könnten sie und ihre Kolleginnen derzeit selbst einen Schlichter gebrauchen. Denn seit dem Tarifabschluss im Frühjahr sprechen sie und die Stadtverwaltung Langenhagen nämlich nicht mehr dieselbe Sprache.

Erst überwog auch in Langenhagen die Genugtuung über den gestiegenen Lohn und darüber, dass - als Ausgleich für die halbstündige Arbeitszeitverlängerung pro Woche - jetzt 19,5 Stunden im Jahr für die Weiterbildung zur Verfügung stehen sollten. Das sieht der Arbeitgeber allerdings anders. Die Stadtverwaltung meint, diese Stunden gehörten mit in die Dienstzeit, so dass der Arbeitgeber über ihre Verwendung bestimmen könne. Eine Einigung ist noch nicht in Sicht. Bei ver.di ist das Problem bekannt, weil es diesen Konflikt bundesweit in den Kommunen gibt. Seit kurzem werden die Personalräte aufgerufen, den Anspruch auf Weiterbildung durchzusetzen.

40 GEGEN 39 STUNDEN_ "Für mein Geld arbeite ich mehr als früher", sagt Maud Lehmann-Musfeldt sichtlich enttäuscht. "Wenn die 19,5 Stunden noch dazukommen, sehe ich die acht Prozent Lohnerhöhung nicht mehr." Den neuen Tarifvertrag hält sie für nicht gut formuliert. "ver.di wollte das Beste rausholen", meint sie, "aber der Vertrag lässt den Kommunen viel Spielraum." Lehmann-Musfeldt geht auf ihrer 30,5-Stunden-Stelle mit 1500 Euro netto nach Hause, die Erzieherin Nadine Seegers mit 11 Jahren Berufserfahrung und Vollzeitstelle erhält 1350 Euro. Die Leiterin der Tagesstätte ist sich sicher, was bald kommen wird: "Die 40-Stunden-Woche, da muss man sich nur mal in Europa umsehen." Ein heikles Thema - denn ver.dis Obergrenze, so Andreas Gehrke, soll "die 39-Stunden-Woche für alle" sein - für den Bund, die Länder und die Kommunen, für Ost und West. Gehrke geht davon aus, dass in der nächsten Länder-Tarifrunde die Arbeitszeitfrage erst einmal ausgeklammert wird. Aber sie wird wieder gestellt werden. Die ver.di-Linken stellen sie bereits seit dem Abschluss vom Frühjahr.

Im Mai schrieb David Matrai, ver.di-Jugendsekretär im Bezirk Weser-Ems, in einem Nachschlag auf die Tarifrunde in der Tageszeitung "Junge Welt": "Die Weigerung der Gewerkschaft, selbstbewusst mit einer eigenen Arbeitszeitforderung in die Auseinandersetzung zu gehen und verhandelbare Haltelinien festzulegen, musste zu einer Verschlechterung führen." Seine kühne Forderung: "Erstens: ver.di akzeptiert prinzipiell keine weiteren Arbeitszeitverlängerungen. Zweitens: In die in zwei Jahren anstehende Tarifrunde bei Bund und Kommunen geht ver.di mit einer klaren Forderung nach kollektiver Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich."

Für Andreas Gehrke ist solche Kritik viel zu schlicht: "In allen Tarifkommissionen hieß es immer nur, wir wollen mehr Geld. Die Arbeitszeitverkürzung spielte einfach keine Rolle." Doch dann sagt er einen Satz, der erkennen lässt, dass er inhaltlich gar nicht weit von Leuten wie Matrai entfernt ist: "Prinzipiell halte ich", sagt auch Gehrke, "die Arbeitszeitverkürzung wirtschafts- und beschäftigungspolitisch für alternativlos." Er schätzt nur die Machbarkeit anders ein. Vorläufig wird ver.di - wenn überhaupt - nur über die Altersteilzeit an der Arbeitszeit schrauben können: Ende 2009 läuft der Altersteilzeitvertrag mit dem Bund und der Vereinigung kommunaler Arbeitgeberverbände aus. Schon jetzt steht fest, dass die Arbeitgeber den Vertrag nicht verlängern wollen. ver.di will deshalb schon ab Anfang 2009 über andere Altersteilzeitmodelle verhandeln. Etwa über Arbeitszeitkonten, die man im Alter abbummeln kann. Aktuell führen die längeren Arbeitszeiten zu einer weiteren Arbeitsverdichtung, und die höheren Gehälter erhöhen aus Sicht der Kommunen zusätzlich den Rationalisierungsdruck.

Bei der Abfallwirtschaft im niedersächsischen Holzminden, wo derzeit 27 Männer beschäftigt sind, soll jetzt eine Tour täglich eingespart werden. Fuhren bisher täglich sieben Sammelfahrzeuge durch den Landkreis, um jede Woche 20 000 Behälter zu leeren, sollen es bald nur noch sechs sein. Der Müll ist nicht weniger geworden, aber ein Gutachten, das die Abfallwirtschaft in Auftrag gegeben hat, kam zu dem Ergebnis, dass in der Arbeitsorganisation noch Luft ist.

So wie in Holzminden wird derzeit überall in Deutschland gerechnet. Bei der üstra in Hannover werden so die nächsten Arbeitsplätze abgebaut werden. Im Krähenwinkel wollte die Stadt die 5,5-Stunden-Nachmittagsstelle des Kindergartens streichen. Und in Holzminden arbeiten die Müllmänner jetzt täglich sechs Minuten mehr. Übergangsweise, bis die neuen Schichten stehen. Dann wird manche Fahrgemeinschaft platzen, die die Müllmänner nach der Arbeit schnell und billig nach Hause brachte. Johannes Antpöhler, ihr Personalratsvorsitzender bei der Abfallwirtschaft im Kreis Holzminden, bestätigt: "Die Beschäftigten sind nicht amüsiert." Über die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche könnten sie heute wohl nur höhnisch lachen.

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