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Magazin Mitbestimmung

: EXKLUSIV ONLINE Geschichte und Zukunft der Mitbestimmung

Ausgabe 04/2006

Vortrag auf dem Workshop "30 Jahre Mitbestimmungsgesetz 1976. Mehr Demokratie in der Wirtschaft" am 16. März 2006 in Berlin, veranstaltet von der Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund.



Von Jürgen Kocka

Prof. Dr. Dr. h.c. Jürgen Kocka ist Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für Geschichte der industriellen Welt (Freie Universität Berlin) sowie Direktor am Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas (Freie Universität Berlin und Humboldt-Universität zu Berlin)


Die Geschichte der Mitbestimmung ist lang, und ihre Zukunft dauert wahrscheinlich noch länger. Die Mitbestimmung, wie sie heute existiert, ist das Produkt tief greifender historischer Wandlungen, harter Auseinandersetzungen, komplexer Kompromisse und hochpolitischer Entscheidungen, aber auch das Produkt unzähliger alltäglicher Arrangements in den Betrieben und Unternehmen, das Ergebnis vielfältiger Problemlösungen und Lernvorgänge.

Die Mitbestimmung ist ein Phänomen, an dem man Eigenarten der deutschen Sozial-, Politik- und Wirtschaftsgeschichte erkennen kann, denn in ihrer hierzulande entwickelten Form ist sie ein deutsches Phänomen geblieben. Nachdem es in Publizistik, Politik und Wissenschaft lange still um die Mitbestimmung geworden war, ist das Thema seit den späten 1990er Jahren in die öffentliche Debatte zurückgekehrt, und zwar kontrovers. Die heutige Mitbestimmung findet sich mit neuen Herausforderungen konfrontiert, besonders mit den Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung. Darauf muss sie reagieren. Ihre Zukunft wird zweifellos anders sein als ihre bisherige Geschichte.

Unter Mitbestimmung verstehe ich gemeinsame - also nicht bloß individuelle - Einwirkungen von Arbeitnehmern in Betrieben und Unternehmen auf die personalpolitischen, sozialen und/oder wirtschaftlichen Entscheidungen der Leitungen dieser Betriebe und Unternehmen, Mitwirkung an Entscheidungen in mehr oder weniger kontinuierlicher Form (nicht nur momentan oder punktuell), in dafür eigens vorgesehenen, zumindest teilweise formalisierten Verfahren, also nicht nur nebenbei, informell oder als indirekte Nebenfolge der Arbeitsbeziehungen. Ich spreche von geregelter Arbeitnehmermitbestimmung durch Vertreter in Betrieben und Unternehmen, dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechend.

Das Wort Mitbestimmung setzte sich erst in den 1950er Jahren durch. Das Phänomen, das es bezeichnet, ist aber älter. Die Hauptstationen seiner Entwicklung seien kurz dargestellt.

Stationen der Entwicklung 

Ich lasse die vorindustriellen Jahrhunderte beiseite, nehme vielmehr das 19. Jahrhundert als Ausgangspunkt, als mit der "Gewerbefreiheit" der Kapitalismus zur dominanten Wirtschaftsform wurde, die Unterscheidung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern an Schärfe und das Verhältnis zwischen den Klassen an Gegensätzlichkeit gewannen, und mit der Industrialisierung nicht nur die Zahl der gewerblichen Betriebe und Unternehmen, sondern auch deren durchschnittlicher Umfang erheblich wuchs. Folglich entfielen immer mehr Arbeiter und später auch Angestellte auf einen Arbeitgeber, und immer häufiger nahmen die Arbeits- und Abhängigkeitsverhältnisse einen unpersönlichen, großbetrieblichen Charakter an.

Bis zum Ersten Weltkrieg, dem eigentlichen Ende des 19. Jahrhunderts, blieb die einseitige Betriebsverfassung die Regel, also die alleinige Entscheidungskompetenz des Geschäftsinhabers und seiner Helfer in den Unternehmensleitungen. Es fehlte also - das war die Regel im 19. Jahrhundert - an Mitbestimmung im vorher definierten Sinn.

Doch immer wieder gab es Mitbestimmungsexperimente, so in der Revolution von 1848/49. Immer wieder wurden Mitbestimmungsvorschläge in Schriften christlicher, liberaler, auch konservativer Reformer geäußert, kaum jedoch aus sozialistischer Sicht. Arbeiterausschüsse entwickelten sich im Zusammenhang mit betrieblichen Krankenkassen und anderen unternehmensinternen Sozialleistungen, aber auch im Zusammenhang mit Tarifabschlüssen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, vor allem im mittelbetrieblichen Bereich. Oft hatten sie eine antigewerkschaftliche Stoßrichtung. Durchweg besaßen sie geringe Kompetenz.

Als freiwillige Einrichtungen der Unternehmen konnten sie jederzeit zurückgenommen werden. Nur im preußischen Bergbau wurden 1905 Arbeiterausschüsse als obligatorisch durchgesetzt. Die meisten Unternehmer hielten wenig davon, sie wollten Herr im Hause bleiben. Auch die Sozialdemokraten konnten mit solchen Ausschüssen wenig anfangen. August Bebel sprach 1889 vom "scheinkonstitutionellen Feigenblatt, mit dem der Fabrikfeudalismus verdeckt werden soll". Das war eine Zeit höchster Klassenspannung, in der es wenig Platz für Mitbestimmung gab.

Das Jahrhundert der einseitigen Betriebsverfassung ging erst im Weltkrieg und unmittelbar danach zu Ende. Dieser Krieg mutete auch der Zivilbevölkerung riesige Opfer und Anstrengungen zu. Die wirtschaftlichen Kriegsanstrengungen - nicht nur die Waffen- und Munitionsproduktion -und damit die Arbeiter wurden kriegswichtig, ja kriegsentscheidend. Um sie zu mobilisieren und zu organisieren, wurde das "Hilfsdienstgesetz" vom Dezember 1916 erlassen.

Um die Arbeiter und ihre Organisationen, also die Gewerkschaften, für die damit verfügte Dienstpflicht zu gewinnen, gewährte die Regierung in Übereinstimmung mit der militärischen Führung mehrere Konzessionen. Neben der erstmaligen Anerkennung der Gewerkschaften als Sprecher der Arbeiter gehörte dazu die Einrichtung obligatorischer Arbeiter- und Angestelltenausschüsse in den kriegswichtigen Betrieben mit 50 Beschäftigten und mehr. Die Unternehmerseite wehrte sich dagegen vergeblich, die Gewerkschaften drängten darauf, sie nutzten die Ausschüsse zur Interessenvertretung und Agitation. Die Distanz früherer Jahrzehnte zwischen Gewerkschaften und Arbeiterausschüssen schwand dahin, die frühere Distanz zwischen Gewerkschaft und Regierung auch.
Dies war die eine Wurzel der Betriebsräte der Weimarer Republik.

Die andere Wurzel war revolutionär. Spontan gebildete Räte, darunter sehr viele Arbeiterräte in den Betrieben, wurden zur wichtigsten Plattform für revolutionäre Forderungen nach Demokratie, Enteignung, Sozialisierung und anderen Veränderungen, zur Basis der teils sozialistischen, teils kommunistischen, teils radikaldemokratischen Rätebewegung von 1918/19, die sich bekanntlich nicht nur gegen den Staat und die alten Gewalten, sondern z. T. auch gegen die meist moderaten, meist unrevolutionären Gewerkschaften richtete.

Über die Macht und die Ohnmacht, die verschiedenen Strömungen und die Niederschlagung dieser Rätebewegung wäre vieles zu sagen. Hier ist nur zu erwähnen, dass einige ihrer Ideen und Begriffe und ein Rest ihrer Energie Eingang in die Verhandlungen fanden, die zur Weimarer Reichsverfassung führten. Deren Artikel 165 sah die "gleichberechtigte Mitwirkung" der Arbeiter und Angestellten an der "Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte" vor wie auch die Einrichtung von Arbeiter- und Wirtschaftsräten zu diesem Zweck.

Das Betriebsrätegesetz von 1920 fußte darauf. Die in Betrieben mit 20 und mehr Beschäftigten obligatorischen Räte - Betriebsräte der Arbeiter und Angestellten - blieben in ihren Kompetenzen im wesentlichen auf personalpolitische und soziale Angelegenheiten beschränkt. Sie sollten die Arbeitnehmerinteressenwahrnehmung mit der Unterstützung der Unternehmensleitung "in der Erfüllung der Betriebszwecke" verbinden - eine Verbindung, die in der klassengespaltenen Gesellschaft der 1920er Jahre nicht leicht zu realisieren war.

Die Betriebsräte stießen an enge Grenzen: auf die Zurückweisung durch viele Unternehmer, die sie mit dem Weimarer System ablehnten und auf die Skepsis mancher Gewerkschaftler, die zwar ein Stück weit kooperierten, aber doch - als Sozialdemokraten - ein gewisses Misstrauen gegen allzu radikale Räte behielten oder - als Linke - allzu friedliche "Werkgemeinschaften" ablehnten. Letztlich hielt der ADGB die überbetriebliche Sozial- und Interessenpolitik für wichtiger als die Ebene der Betriebe, so auch in der oft zitierten Schrift "Wirtschaftsdemokratie", die Fritz Naphtali, der Leiter der gewerkschaftlichen "Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik", 1928 veröffentlichte: reformistisch durchaus und orientiert an der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, aber primär durch staatliche Intervention und ohne besonderes Interesse für das Innere der Unternehmen.

Auf die Tradition der Betriebsräte der Weimarer Republik griff die Gewerkschaftsbewegung zurück, als sie sich nach der Zerschlagung durch NS-Diktatur und Krieg in den westlichen Zonen nach 1945 neu konstituierte. Doch sie konstituierte sich bekanntlich, und das war neu, als Einheitsgewerkschaft. Es hing mit dem Einfluss der christlichen Gewerkschaftsbewegung im neu entstehenden DGB zusammen, dass die paritätische Mitbestimmung im Unternehmen unter den gewerkschaftlichen Zielen nun stärker gewichtet wurde als vom ADGB in der Weimarer Republik, und zwar sowohl als Basis gewerkschaftlicher Gegenmacht und Kapitalkontrolle, sogar als Schritt zur graduellen Verwirklichung einer anderen, nichtkapitalistischen Ordnung wie auch als Element der gleichberechtigten, gleichverantwortlichen, leistungsorientierten Kooperation von Kapital und Arbeit.

Neu waren auch die Erfahrung von Demokratiezerstörung und Diktatur sowie die tiefe Diskreditierung der Kapitalseite aufgrund ihrer engen Kooperation mit den Nationalsozialisten, während die Linken, und darunter sehr viele Gewerkschaftler, verfolgt, unterdrückt oder doch marginalisiert worden waren. Daraus ergaben sich starkes gewerkschaftliches Selbstbewusstsein und eine neue Begründung für die Mitbestimmung. "Politische Demokratie, die wir anstreben", formulierte Hans Böckler 1946, "hat zur Voraussetzung wirtschaftliche Demokratie". Und weiter: "Wir dürfen … eigentlich die Unternehmer keinen Augenblick unter sich lassen … Wir müssen in der Wirtschaft selber sein, also völlig gleichberechtigt vertreten sein … Also der Gedanke ist der: Vertretung in den Vorständen und Aufsichtsräten der Gesellschaften."

Die Gelegenheit ergab sich bekanntlich im Zusammenhang der Entflechtungspolitik der britischen Besatzungsmacht gegenüber Eisen und Stahl an Rhein und Ruhr schon 1946/47. Die Konzerne suchten, gegen die Zerschlagungspolitik der Briten, den Schulterschluss mit den bei den Besatzern besser angesehenen Gewerkschaften und boten diesen dafür notgedrungen "volle Mitwirkungsrechte" sowie die "Gleichstellung von Kapital und Arbeit" in den Aufsichtsräten. Die Briten ließen sich darauf ein, sie wollten die Produktion so rasch wie möglich wieder in Gang setzen.

So wurde das Modell der Montanmitbestimmung, recht lautlos, schon 1946/47 geboren, das dann die Gewerkschaften 1950/51 im harten Konflikt - einschließlich einer Streikdrohung - verteidigten und auf die gesamte Montanindustrie auszuweiten vermochten. Zurecht feierten dies die Gewerkschaften als Sieg. Aber es war auch ein Sieg des Kanzlers Adenauers, der den Gewerkschaften zu diesem Erfolg verhalf, und im Gegenzug ihren Verzicht auf weitergehende Forderungen nach Sozialisierung und ihre Unterstützung im Kampf gegen weitere Entflechtung sowie überhaupt für seine Politik der Westintegration erhielt. Es war ein komplex geschnürtes Paket von langfristig wohltuender Wirkung.

Ein Jahr später hatten sich die Machtverhältnisse schon verschoben. Die Gewerkschaften, nun unter Böcklers Nachfolger Christian Fette, scheiterten mit ihrem Versuch, das Montanmitbestimmungsmodell - mit Parität im Aufsichtsrat und dem nicht gegen die Arbeitnehmerseite zu ernennenden Arbeitsdirektor im Vorstand - auf die gesamte Großwirtschaft auszudehnen. Das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 wurde von den Gewerkschaften als Niederlage interpretiert. Aber man sollte bedenken, dass neben der kompetenzmäßig eingeschränkten betrieblichen Mitbestimmung - dies sehr in der Tradition des Weimarer Betriebsrätegesetzes - auch Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten in Kapitalgesellschaften mit mehr als 500 Beschäftigten festgeschrieben wurde. Zwar geschah dies nur in Form der drittelparitätischen Mitwirkung im Aufsichtsrat, aber das war mehr als irgendwo sonst im damaligen Europa.

Die nächste Station: die 1970er Jahre. Willy Brandt hatte 1969 die Regierungserklärung der sozialliberalen Koalition unter das Motto "Mehr Demokratie wagen" gestellt. Das lange tief umstrittene Mitbestimmungsgesetz von 1976, das bekanntlich weit über die Lösung von 1952 hinausging, wenn es auch hinter den Erwartungen der Gewerkschaften und der Messlatte des Montanmodells zurückblieb, war letztlich der späte Ausfluss des Aufbruchs, der die Bundesrepublik in den 1960ern und frühen 1970er Jahren erfasste.

Damals traten wir vehement für die Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse ein, was nicht die Übertragung der Regeln politisch-parlamentarischer Demokratie auf alle Lebensbereiche bedeuten sollte, vielmehr Demokratisierung je nach Eigenart des jeweiligen Lebensbereichs. Für die Wirtschaft hieß dies: Verstärkung der Arbeitnehmermitbestimmung. Anders als 20 Jahre vorher und 20 Jahre nachher hatte die gewerkschaftliche Forderung nach Ausweitung und Vertiefung der Mitbestimmung in den 1970er Jahre den Wind im Rücken, den Zeitgeist an der Seite und viel Unterstützung auch außerhalb der Gewerkschaften.

Am Resultat von 1976 kritisierten die Gewerkschaften vieles: die Stellung des Aufsichtsratsvorsitzenden mit seinem Recht zur Doppelstimme war so konstruiert, dass die volle Parität nicht verwirklicht wurde; der Faktor "Disposition" war neben "Arbeit" und "Kapital" von der FDP ins Spiel gebracht worden und hatte zu Sonderrechten für Leitende Angestellte auf der Arbeitnehmerbank geführt; der Arbeitsdirektor blieb dem besonderen Mitbestimmungseinfluss entzogen; der Einfluss der Gewerkschaften auf die Arbeitnehmerbank blieb durch die Wahlordnung begrenzt. Von der größten Enttäuschung seiner Amtszeit hat Heinz-Oskar Vetter gesprochen.

Auf der anderen Seite protestierten aber die Arbeitgeber. Sie gingen nach Karlsruhe und legten gegen das neue Gesetz Verfassungsbeschwerde ein. Damit unterlagen sie. Das Bundesverfassungsgericht sah die Mitbestimmung als verfassungsgemäß, formulierte aber gleichzeitig Grundsätze, die ihrer weiteren Ausdehnung und Intensivierung Grenzen gezogen hätten. Dazu kam es in den letzten 30 Jahren aber ohnehin nicht, angesichts fehlender gesellschaftlich-politischer Kraft. Die Reform von 2001 hat zwar die Arbeitsfähigkeit, auch die Ressourcen der Betriebsräte noch einmal gestärkt, doch im wesentlichen stoppte und korrigierte sie die Erosion der betrieblichen Mitbestimmung, wie sie sich in den 1990er Jahren aus strukturellen Gründen abgezeichnet hatte.

Kontinuität und Wandel

Über die Jahrzehnte hinweg lässt sich ein rasanter Wandel in den Begründungen beobachten, die für die Mitbestimmung ins Feld geführt wurden und werden:

• Mitbestimmung als Kernstück der Wirtschaftsdemokratie und Motor auf dem Weg in eine nachkapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung;

• Mitbestimmung als Hebel der wirtschaftlichen Demokratisierung und Mittel der Absicherung politischer Demokratie;

• Mitbestimmung als Mittel und Ausdruck der gleichberechtigten Sozialpartnerschaft von Arbeit und Kapital;

• Mitbestimmung als Mittel der Arbeitnehmerinteressenwahrnehmung und gewerkschaftliches Machtinstrument;

• Mitbestimmung als funktionales Mittel der wirtschaftlichen Effektivitätssteigerung durch Sicherung von sozialem Frieden, Verbesserung der Arbeitnehmermotivation, Gewährleistung von Langfristigkeit und Bindung im Unternehmen sowie Ko-Management.

Viele dieser Begründungen werden heute nicht mehr benutzt, während heute dominierende - wie die letzte - früher fehlten. Auch die Argumente gegen die Mitbestimmung haben sich geändert.

Durchgehend aber gilt, dass die Mitbestimmung in der bei uns dominierenden Form niemals aus rein ökonomischen Gründen, sondern immer auch aus politischen, moralischen, gesellschaftspolitischen Gründen durchgesetzt worden ist. Mitbestimmung hat viel mit Wirtschaft zu tun, aber sie ist nicht nur ein wirtschaftliches Phänomen, sondern auch ein Teil unserer politischen Ordnung. Sie unterliegt deshalb nicht nur der ökonomischen Beurteilung. Sie ist auch Gegenstand der demokratietheoretischen Diskussion.

Mitbestimmungsregeln sind fast immer gegen Unternehmerskepsis und -widerstand durchgesetzt worden, fast immer durch ein Bündnis zwischen staatlicher und gewerkschaftlicher Macht. Aber Mitbestimmung war immer auch etwas, was sich gegen weiter links absetzte und gegen radikalere Linkspositionen durchgesetzt wurde. Mitbestimmung stand und steht für den nichtrevolutionären, auch den nichtkommunistischen Weg, den Weg der Reform und des Ausgleichs.

Mitbestimmung war nie primär eine Strategie des Kampfes, sondern immer auch der Integration. Denn zu Mitbestimmung gehört Mitverantwortung, nicht primär Gegenmacht. Sie war leichter durchzusetzen, so lange sie als weniger radikale Alternative zu drohenden radikaleren Modellen der Revolution, der Sozialisierung oder des Kommunismus dargestellt und empfohlen werden konnte. Solch radikalere Alternativen gibt es - als Hoffnung oder Drohung - spätestens seit 1989-91 in unserem Teil der Welt kaum mehr.

Es ist bemerkenswert, wie sehr die entscheidenden Schübe bei der Durchsetzung der Mitbestimmung mit Kriegen und Niederlagen zusammenhingen: mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und den beiden Nachkriegszeiten; ich habe es geschildert. So erklärt sich, warum die Mitbestimmung in Deutschland - und Österreich - besonders ausgeprägt und verankert ist. Die beste Zeit der Mitbestimmung war das dritte Viertel des 20. Jahrhunderts, genauer 1946-1976.

In diesen drei Jahrzehnten wurde das System etabliert. Das war gleichzeitig eine Zeit besonders erfolgreichen Wirtschaftswachstums in Deutschland und Europa, das war die Zeit des Ausbaus des Sozialstaats und gewerkschaftlicher Stärke, zugleich eine angespannte Phase des Kalten Krieges. Vor 1933 war die Mitbestimmung schwächer und überdies weniger klar gewerkschaftlich gewollt.

Was zwischen 1933 und 1945 an Mitbestimmung  überlebte - wenig genug im betrieblichen Führer-Gefolgschafts-Modell der nationalsozialistischen Zeit - , überlebte ohne gewerkschaftliche Stütze. Zwischen 1946 und 1976 wurde Mitbestimmung dagegen zum zentralen gewerkschaftlichen Programm und befand sich im Aufschwung. Nach 1976 blieb die Mitbestimmung ein zentraler Programmpunkt der Gewerkschaften, doch immer häufiger als Gegenstand der Konsolidierung und Verteidigung statt als Zielpunkt neu ausgreifender Innovationen und Offensiven.

Und was ist für die nächsten drei Jahrzehnte zu erwarten?

Ich prognostiziere keine größere Ausweitung oder Intensivierung über den Stand hinaus, der 1976 im wesentlichen erreicht war und vom Bundesverfassungsgericht abgesegnet wurde.

Umgekehrt ist aber auch kein Abbau und keine tief greifende Erosion der Mitbestimmung zu erwarten. Sie ist kein Auslaufmodell. Auch zu dieser Prognose gibt die Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte Anlass. Denn in diesem Zeitraum erwies sich das System Mitbestimmung als sehr flexibel: die Funktion der Kapitalkontrolle trat zurück, das Moment des Ko-Managements wurde wichtiger, die Funktion der Arbeiterinteressenwahrnehmung blieb.

Die Unternehmensmitbestimmung ist tendenziell zum verlängerten Arm der betrieblichen Mitbestimmung geworden. Ein Prozess der "Verbetrieblichung" der Mitbestimmung fand statt. Ausdifferenzierung gelang, in dem Sinn, dass statt des starren Festhaltens an einem Modell über Verhandlungen lokal und fallweise Modifikationen erlaubt und realisiert wurden. Man einigte sich auf Abweichungen, Mitbestimmung existiert in vielfachen Ausprägungen - und das ist Anpassung an eine Unternehmenswelt, in der ebenfalls die Zeichen auf Dezentralisierung, Ausdifferenzierung und Enthierarchisierung stehen.

Die Akzeptanz der Mitbestimmung hat insgesamt zugenommen. Die Meinungsumfragen zeigen es. Auch die Kritik der Arbeitgeber der letzen Jahre ist bekanntlich keine Totalkritik, vielmehr sehr viel zurückhaltender als 1976 oder 1951. Die Argumentation pro und contra ist nüchterner geworden. Es amtieren mehr als 220.000 gewählte Betriebsräte in der Republik. Welch eine aufwendige Unternehmung der Integration, die weit über die Betriebe und Unternehmen in die Gesellschaft hineinwirkt.

Gegenwärtige Herausforderungen

Am unsichersten bin ich in Bezug auf die dadurch vertretenen Arbeitnehmer selbst. Sie bejahen die Mitbestimmung in ihrer Mehrheit im Prinzip. Aber mit welcher Intensität? Würden sie dafür kämpfen, etwa für die Differenz zwischen Halb- und Drittelparität im Aufsichtsrat? Wie stark ist das Interesse wirklich? Und wie verbreitet ist Desinteresse? Ich nenne abschließend drei weitere Herausforderungen, die sich dem System der Mitbestimmung in Deutschland stellen.

Zum einen, die wirtschaftlichen Effekte der Mitbestimmung werden unterschiedlich beurteilt. Die einen unterstreichen, dass sie Kosten verursacht und die Entscheidungen verlangsamt. Manche glauben, dass sie ausländische Investoren abzuschrecken hilft und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beeinträchtigen kann. Die anderen weisen darauf hin, dass Mitbestimmung die Unternehmen integriert, teure Arbeitskämpfe zu vermeiden hilft, Arbeitnehmer einbezieht und dadurch motiviert, für die langfristige Bindung des Personals und die Planung der Unternehmen gut ist - was langfristig auch ihrem wirtschaftlichen Erfolg dienlich ist. Diese Autoren können darauf verweisen, dass unsere erfolgreichsten Exportindustrien - darunter Kraftfahrzeugbau, Maschinenbau, Chemie - zu den ‚mitbestimmtesten' gehören.

Wahrscheinlich gibt es beides, oft nebeneinander: ökonomische Nachteile und Vorteile. Was den Stand der Forschung betrifft, muss man sagen, dass er uneinheitlich ist und dass der präzisen Kausalanalyse große methodische Schwierigkeiten im Weg stehen. Aber insgesamt erhärten die Ergebnisse der empirischen Forschung die These nicht, dass die Mitbestimmung der Leistungskraft der Unternehmen mehr schadet als nutzt, im Gegenteil.

Aber der Wettbewerb erhöht den Entscheidungsdruck und verlangt verkürzte Entscheidungszeiten; Konsensbildung durch Mitbestimmung braucht dagegen Zeit und tendiert bisweilen zur Behäbigkeit. Mitbestimmung fördert Kontinuität und inkrementelle Weiterentwicklung. Erschwert sie hoch riskante Basis- oder Sprunginnovationen, die für wirtschaftlichen Erfolg ebenfalls nötig sind? Die Kapitalmärkte sind für die Finanzierung der Wirtschaft wichtiger geworden, die Investoren ungeduldiger, zudem oft sehr kurzfristig orientiert.

Diese Erwartungen können mit den Zeitrhythmen in Spannung treten, die von der Mitbestimmung nahe gelegt werden. Die Mitbestimmung vertritt die Interessen der Arbeitsplatzbesitzer. Kann sie auch die Anliegen der Arbeitssuchenden berücksichtigen? Kaum, doch dies wäre im Zeitalter der Massenarbeitslosigkeit wichtig. Oft werden Frieden stiftende Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern im Unternehmen durch Externalisierung der Kosten, also auf Kosten der Allgemeinheit, erreicht. Die Geschichte des Bergbaus in den letzten Jahrzehnten kann dafür als Beispiel dienen.

Eine zweite Herausforderung lautet heute: In der Diskussion über "corporate governance", die in Wissenschaft und Öffentlichkeit über gute Unternehmensführung stattfindet, wird - international und auch hierzulande - in den letzten Jahren immer stärker betont, dass Kontrollen wichtig sind, dass für die Evaluation von Unternehmensleitungen durch externe Beobachter Sorge getragen werden muss, dass die Vermischung von Rollen, dass Filz zwischen zu Kontrollierenden und Kontrolleuren vermieden werden muss.

Diesem Prinzip steht in der Welt der Unternehmen vieles entgegen, hier wie in anderen Ländern. Und es ist ein kompliziertes Problem, da neben Rollentrennung und Kontrolle auch enge Kooperation und Verständigung um Unternehmenserfolg beitragen. Aber zweifellos funktioniert Mitbestimmung häufig im stillen, durch Personalunion zwischen der Betriebsrats- und der Aufsichtsratsebene, durch Vereinbarung statt durch Konflikt. Manches wird dadurch unter den Teppich gekehrt, manche Kritik bleibt aus Rücksicht oder Selbstschutz unausgesprochen, es gibt spezielle Verführungen. Die Kritik daran ist nötig; gerade Wissenschaftler haben Klartext zu sprechen, doch empfiehlt es sich immer auch mit zu bedenken, wie die "Transaktionskosten" - um den neutralen Begriff der Ökonomen zu benutzen - in anderen, nicht mitbestimmten Konstellationen aussehen bzw. aussähen.

Schließlich ist die Herausforderung der Europäisierung und überhaupt der Internationalisierung zu nennen. Die transnationale Verflechtung der Wirtschaft hat immens zugenommen und wächst weiter. Die Mobilität von Unternehmen und Personal über die Grenzen hinweg wird innerhalb der EU mit guten Gründen bewusst gefordert. Die großen Unternehmen haben Beschäftigte in vielen Ländern - darauf muss das System der Mitbestimmung, wie wir es kennen, erst noch reagieren. In ein und demselben Raum, ja in ein und demselben europäischen Land konkurrieren Unternehmen unterschiedlichen Rechts und also Unternehmen mit unterschiedlichen Mitbestimmungsanforderungen.

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erleichtert das. Dabei wird zum Problem, dass zwar in den meisten europäischen Ländern Mitbestimmungsregeln existieren, aber nirgends in so gründlicher, ausgebauter und durchregulierter Form wie in Deutschland und Österreich. Es gibt neue EU-weite Richtlinien, es gibt für Unternehmen die - bisher nur wenig wahrgenommene - Möglichkeit des Wechsels aus dem einen ins andere Recht (ohne notwendigerweise den Geschäftssitz zu ändern), es gibt die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft SE (Societas Europaea). Vieles ist im Fluss, ja in reißender Bewegung. Als sehr unwahrscheinlich muss gelten, dass es zu einem einheitlichen europäischen Unternehmens- und Mitbestimmungsrecht kommt, die nationalen Wege sind dafür zu unterschiedlich.

Verflechtung und Vielfalt schließen sich nicht aus. Aber spurlos wird dieser Prozess an der deutschen Mitbestimmung nicht vorübergehen. Er wird sie unter Druck setzen und oft Verhandlungslösungen ratsamer scheinen lassen als die rechtliche Fixierung bis ins Detail. Andererseits ergibt sich die Chance, für deutsche Regelungen verstärkt in andern Ländern zu werben. Beides ist derzeit zu beobachten.

Dies sind Herausforderungen, mit denen die deutsche Mitbestimmung umgehen muss. Wie, wird man sehen - vermutlich in Richtung noch größerer Flexibilität als bisher. Im Wandel der zurückliegenden Jahrzehnte hat das System der Mitbestimmung große Anpassungsfähigkeit, Vitalität und Bodenhaftung bewiesen. Es steht zu erwarten, dass es auch die anstehenden Herausforderungen meistern kann.

Mitbestimmung ist kein Relikt der Vergangenheit und auch kein Resultat einer spezifischen, vorübergehenden Konstellation. Sie entspricht vielmehr den Imperativen einer gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit, für die - jedenfalls in großen Teilen der Welt - demokratische Teilhabe in der einen oder anderen Form heute wichtiger ist als vor 50 oder 100 Jahren und vermutlich - zumindest als Anspruch - weiter an Bedeutung gewinnt. Schließlich sprechen auch die Veränderungen in der Ökonomie dafür, dass Arbeitnehmermitbestimmung kein Auslaufmodell ist.

Denn es ist ja ein säkularer Trend, dass die aktive Einbeziehung der Beschäftigten in Zweckzusammenhänge der Wirtschaftseinheiten, der Beitrag ihres selbständigen Engagements, ihr Wissen, ihre Motive und ihre - begrenzte - Identifikationsbereitschaft immer wichtiger für den wirtschaftlichen Erfolg werden. Hierarchische Anordnungen und finanzielle Anreize allein können dies nicht gewährleisten. Arbeitnehmermitbestimmung ist vielmehr wichtig und dürfte eher wichtiger werden, wenngleich die Formen ihrer Verwirklichung variieren und wechseln.
 

Merksatz:
Zum 19. Jahrhundert: Arbeiterausschüsse entwickelten sich im Zusammenhang mit betrieblichen Krankenkassen und anderen unternehmensinternen Sozialleistungen.


 

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