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Neue Montageanlage mit Stapelroboter James in der Fertigung der Gustav Hensel GmbH; Mitarbeiterin Lydia Reichling fährt nur noch die Paletten weg. Magazin Mitbestimmung

Von CARMEN MOLITOR: Erst Menschen vernetzen, dann die Maschinen

Ausgabe 05/2018

Reportage Auf einmal arbeiten Menschen an einer Maschine, zu der ein Roboterarm gehört. Das Projekt „Arbeit 2020 in NRW“ hilft Betriebsräten, digitale Veränderungsprozesse systematisch und aus der Sicht der Mitarbeiter anzugehen.

Von CARMEN MOLITOR

Bevor James kam, war Industrie 4.0 für Lydia Reichling kein Thema. „Nee, darüber hab ich mir nie großartig einen Kopf gemacht“, erzählt die junge Frau im roten Pulli freimütig. Reichling arbeitet in der Fertigungsabteilung der Gustav Hensel GmbH & Co. KG in Lennestadt. Ein mittelständisches Familienunternehmen mit Sitz in einem engen Tal im Sauerland und Hidden Champion, der Elektroinstallations- und Verteilungstechnik in alle Welt exportiert.

Eine durchdigitalisierte Industriewelt, in der die Gerätschaften selbstständig miteinander kommunizieren und die Fabrikhallen menschenleer werden, schien Lydia Reichling weit weg. Bevor James kam, legte sie an ihrer Verpackungsanlage Material nach, bündelte kleine Pakete mit fertig befüllten Kabelzweigkastenanlagen und wuchtete sie auf Paletten. Ein körperlich anstrengender Job.

Neue Montageanlage mit Stapelroboter James in der Fertigung der Gustav Hensel GmbH; Mitarbeiterin Lydia Reichling ist froh, dass ihre Arbeit weniger belastend ist.

2016 zog Industrie 4.0 auch in Reichlings Joballtag ein. Damals entschied sich das Unternehmen dafür, eines seiner erfolgreichsten Produkte, die Enycase-Kabelabzweigkästen, in einer vollautomatischen, digital gesteuerten Anlage zu bestücken und zu verpacken. Seither surren in einem Teil der großen Fertigungshalle hinter Schutzglas topmoderne Maschinen. Sie sorgen dafür, dass Roboter unablässig kleine Kästen bestücken. Kameras kontrollieren automatisch, ob alles ordnungsgemäß und exakt passend läuft.

Lydia Reichling arbeitet jetzt an einer Maschine, zu der ein langer, frei stehender Roboterarm gehört. Er legt fortwährend vier fertige Päckchen auf die Bündelmaschine, zieht ein Umreifungsband fest darum und stapelt alles fein säuberlich auf den bereitgelegten Paletten. Den Spitznamen, den die Mitarbeiter ihm gaben, haben sie auf seine nimmermüden Gliedmaßen geklebt: James. Wie der Butler. Stets zu Diensten.

Arbeit körperlich leichter, aber anspruchsvoller

Seit es ihn gibt, hat sich Reichlings Joballtag verändert. Zum Besseren, wie sie findet: „Die Arbeit ist körperlich leichter geworden, aber durch die ganzen Computersachen und das Abrufen von Programmen ist sie auch anspruchsvoller“, erzählt die Schichtarbeiterin. Eine Woche lang sind sie und ihre Kollegen zu Beginn beim Hersteller der Maschine in die Finessen eingearbeitet worden. James’ Verpackungsdienste verschaffen ihr jetzt mehr Zeit, Störungen im Ablauf sofort zu beseitigen und Material zum Befüllen passgenau nachzulegen. „Das hier ist besser als früher“, sagt sie. „Schwere Arbeiten erledigen wir jetzt durch Knöpfchendrücken.“

„Wir leben nicht so sehr unter dem Druck, immer etwas Neues machen zu müssen“, sagt Ulrich Cater, der Vorsitzende des elfköpfigen Betriebsrats, der für 450 Mitarbeiter zuständig ist – 350 am Standort Lennestadt, weitere 100 in fünf Außenbüros des Unternehmens. Hensel ist ein Familienunternehmen vom alten Schlag, der junge Chef kennt alle hier persönlich und anders als in vielen Aktiengesellschaften geht es hier um langfristiges, solides Geschäft und nicht um den schnellen Euro. „Bei uns ist Industrie 4.0 eher ein schleichender Prozess“, erklärt Betriebsrat Cater. „Die Entwicklung floss langsam rein, sodass man sie zuerst gar nicht so wirklich wahrnahm.“

Doch als 2016 die topmodernen Maschinen in der Fertigungshalle standen, stellten sich für Cater und seine Betriebsratskollegen neue Fragen: Wie geht’s der Belegschaft damit? Kommen die Menschen dieser Entwicklung hinterher? Haben die Beschäftigten den nötigen Ausbildungsstand? In dieser Umbruchsituation kam ihnen ein Angebot wie gerufen: Ihre Firma konnte als eines von inzwischen 34 Unternehmen an dem Projekt „Arbeit 2020 in NRW“ teilnehmen.

PROJEKT „ARBEIT 2020 IN NRW“

Die erste Phase des Projekts ging Mitte 2017 zu Ende. Bis Ende 2019 will man in einer zweiten Phase Anzahl und Branchenvielfalt der Projekt¬unternehmen erweitern und mehr Handwerksbetriebe ansprechen. Die Broschüre „Industrie 4.0 im Betrieb gestalten“ nennt Ansprechpartner und erste Ergebnisse.

Darin arbeiten unter Federführung der IG Metall die IG BCE, die NGG und der DGB NRW zusammen, finanziert wird das Ganze durch das Arbeitsministerium in Düsseldorf. Die Idee ist, die ganz konkreten betrieblichen Herausforderungen für die Beschäftigten durch die Digitalisierung direkt in den Betrieben zu analysieren und ihnen externen Sachverstand anzubieten, Probleme zu lösen.

Das kostenlose Angebot an die Betriebe: Unterstützung bei einer betrieblichen Analyse, wo man in Sachen 4.0 steht, und eine enge, fachkundige Begleitung, Weiterbildung und Moderation durch Gewerkschafter und Berater. Außerdem eine überregionale Qualifizierungsreihe von praxisnahen, zweitägigen Workshops und Veranstaltungen, die die Chance bieten zur Vernetzung mit Betriebsräten in ähnlicher Lage. Ulrich Cater und seine Betriebsratskollegen fanden das Angebot attraktiv und holten auch ihre Geschäftsleitung mit ins Boot. Der Arbeitgeber stimmte auch zu, wann immer nötig, Beschäftigte für das Projekt freizustellen. Die Analyse konnte beginnen.

Industrie 4.0 muss konkret werden

Unternehmen zu finden, die bei dem Projekt „Arbeit 2020 in NRW“ teilnehmen wollten, war für die treibenden Kräfte bei der IG Metall NRW anfangs gar nicht so leicht, berichten die Gewerkschaftssekretäre Gabi Schilling, Projektleiterin, und ihr Kollege Patrick Loos. „Industrie 4.0? Das gibt es bei uns gar nicht!“, entgegneten die meisten. Doch bei näherem Nachfragen stellte sich oft heraus, dass in vielen Betrieben schon viel in Sachen Digitalisierung läuft. Mit dem Oberbegriff Industrie 4.0 wird das aber nicht verknüpft. „Es geht um Transformation“, erklärt Patrick Loos, „um Veränderungsprozesse, die durch digitale Technologie getrieben werden und dadurch eine neue Qualität oder Dringlichkeit erhalten.“

Erfolgreiche Betriebe sind in der Regel ständige Weiterentwicklung gewohnt und auch für die Digitalisierung offen. „Wenn man Industrie 4.0 auf den Betrieb selber herunterbricht, ist es ganz selten ein angstbesetztes Thema“, sagt Loos. „Es geht eher um Belastung, Qualifizierung und die Frage, wie über die Einführung neuer Technologien mit den Beschäftigten und den Betriebsräten gesprochen wird.“

Genau auf solche praktischen Fragen zielt das Projekt. Der diffuse Begriff Industrie 4.0 wird in jeder Abteilung auf den Grad der Vernetzung und der Steuerung durch Technik heruntergebrochen und damit fassbarer. Am Anfang steht jeweils eine Analyse, welche Abteilungen schon mit Vernetzung und Steuerung durch digitale Technologien zu tun haben und wie die Betroffenen selbst den Stand der Dinge und den Handlungsbedarf bewerten. Ein Projektteam aus Gewerkschaftern und externen Beratern der Technologieberatungsstelle (TBS) NRW und von Sustain Consult aus Dortmund hilft den Betriebsräten dabei, Informationen aus allen Unternehmensbereichen strukturiert aufzubereiten. Auf diese Art entsteht in allen Projektunternehmen eine sogenannte Betriebslandkarte.

Bei der Firma Hensel kümmerte sich um die Erstellung dieser Betriebslandkarte ein Trio von Betriebsräten, die speziell für die Betreuung des Projekts zuständig waren. Ulrich Cater, Guido Mester und Maria Sellmann verschafften sich, unterstützt durch das NRW-Projektteam, zunächst durch jeweils 30-minütige Interviews Einblicke in alle 16 Abteilungen. „Wir haben die einzelnen Abteilungsleiter eingeladen und zwei oder drei Beschäftigte der Abteilungen gefragt: Was macht ihr eigentlich? Wie weit sind wir in Sachen Digitalisierung? Wie seht ihr die Entwicklung?“, erzählt Ulrich Cater. „Die fanden es gar nicht schlecht, das mal vorzuführen.“ Am Ende hatte man die Ansichten von zehn Prozent der Belegschaft erhoben und im Stile einer Landkarte übersichtlich protokolliert. „Das ist kein Superergebnis, aber immerhin eine Basis“, zeigt sich Cater zufrieden.

Alle Seiten schließen eine Zukunftsvereinbarung

Mehr Qualifizierung, bessere Führung, umfangreichere innerbetriebliche Kommunikation und weniger psychische Belastung – das waren die vier Punkte, die die befragten Mitarbeiter in der weiteren digitalen Entwicklung bei Hensel besonders wichtig fanden. Das Betriebsratstrio trug die Ergebnisse der Geschäftsleitung vor. „Wir haben uns darauf geeinigt, schwerpunktmäßig bei den Themen Führung 4.0 sowie Qualifizierung und Weiterbildung etwas zu tun“, sagt Ulrich Cater. In diesem Sinne schlossen IG Metall, Betriebsrat und Geschäftsleitung im Mai 2017 eine Zukunftsvereinbarung. Danach werden paritätisch besetzte Arbeitsgruppen eingesetzt, die die Qualifizierung der Beschäftigten systematisch fördern, psychische Belastungen am Arbeitsplatz reduzieren und den Aufbau einer modernen „Führung 4.0“ voranbringen sollen, die „auf Respekt, Wertschätzung und Unterstützung gegenüber den Beschäftigten basiert“.

Die Gespräche rund um die Betriebslandkarten haben in vielen Betrieben positive Effekte gehabt, sagt Projektleiterin Gabi Schilling: „Man hat ja nicht so wirklich im Blick, ob das, was in der eigenen Abteilung geschieht, Auswirkungen auf einen anderen Arbeitsbereich hat. Das Gespräch darüber schafft dafür Verständnis, was da eigentlich passiert.“ Der Landkarten-Prozess sorgt, so Schilling, dafür, die Zusammenarbeit im Betrieb weiterzuentwickeln. Er stärke die Gesprächsebene von Geschäftsführung und Betriebsrat und die Verhandlungsposition der Beschäftigtenvertreter. Außerdem vernetze er Betriebsrat und Beschäftigte besser miteinander. Auch verbessere er die Teamarbeit im Betriebsratsgremium und das Verhältnis von Beschäftigten und Management.

„Wir arbeiten grundsätzlich daran, beim Management Verständnis dafür zu wecken, dass Beteiligung nicht einfach nur stumpfes ‚Mitnehmen‘ ist, sondern ein Gegenstromprinzip haben muss“, erklärt Patrick Loos. „Wissen und Kenntnisse der Menschen müssen im Mittelpunkt stehen. Auf dieser Basis sollte das Management fragen, wie das Zusammenspiel von Organisation, Menschen und Technik gestaltet werden muss, um bessere und wirklich intelligente Lösungen für den Betrieb und die Beschäftigten umsetzen zu können.“

Ein Fazit des Projekts zieht Gabi Schilling: „Die Technik strebt ja an, alles mit allem zu vernetzen. Wir treffen aber viel zu wenige Strukturen an, wo Menschen, die an unterschiedlichen Ecken und Enden des Betriebes arbeiten, Möglichkeiten des Austausches finden.“ Beim Weg in Richtung Industrie4.0 sollten sich die Unternehmen nicht nur auf Technik verlassen, „sondern Räume schaffen, wo innerbetrieblich an diesem Vernetzen gearbeitet und der Technikeinsatz selbst mitgestaltet werden kann“.

Eine Zukunftsvereinbarung wie in Lennestadt haben von 34 Unternehmen sechs abgeschlossen. Meistens sind das Prozessvereinbarungen, die beschreiben, wie es nach der Analyse weitergehen kann. „Uns kommt es im Projekt nicht auf das bedruckte Papier am Ende an“, betont Schilling. „Schön, wenn es klappt, aber uns geht es darum, dass im Betrieb gemeinsam mit den Beschäftigten an den zukünftigen Herausforderungen gearbeitet und dafür eine verbindliche Zusammenarbeit geschaffen wird.“

Es zählt, was die Beschäftigten denken

Dass die innerbetriebliche Kommunikation stark angeregt wurde, ist auch aus Sicht der Wissenschaft ein positiver Effekt des Projekts. Vier Wissenschaftler des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen widmen sich in dem Begleitforschungsprojekt „Arbeit 4.0“, das die Hans-Böckler-Stiftung fördert, insbesondere der Frage, wie Betriebsräte die Einführung von Industrie 4.0 gestalten. Außerdem beleuchten sie, wie sich arbeitspolitische Handlungsfelder wie Arbeitszeit, Qualifikation und Entgelt – und deren Gestaltung – durch die Digitalisierung verändern.

Sie nahmen dafür an den Workshops und der Betriebslandkarten-Erstellung beobachtend teil und führten vertiefende Interviews in den Betrieben. „Das Projekt bietet eine Erarbeitung von Industrie 4.0 von unten. Es zählt nicht, was Techniker und Unternehmensleitungen denken, sondern der und die Beschäftigte selbst. Das finde ich einen ganz wichtigen Prozess“, zieht Gerhard Bosch, einer der Forschungsleiter, eine erste Bilanz. „Da sieht man, dass an ganz vielen Stellen die angeblich perfekten technischen Abläufe so nicht funktionieren. Im Alltag gibt es Tausende von Schnittstellen, wo der Mensch mit seiner Erfahrung die Probleme lösen muss. Die Visionen, dass morgen der Roboter uns alle ersetzt, sind deshalb geradezu absurd.“

Es gebe eine große Bandbreite an Strategien, die Betriebsräte in Sachen 4.0 entwickeln, sagt Bosch. „Die meisten Betriebsräte in unserem Projekt begreifen es als Chance, mehr über den Betrieb zu erfahren, die eigenen Mitarbeiter einzubeziehen, die Kollegen im Betriebsrat zu aktivieren. Sie versuchen, Prozesse zu steuern, Einfluss zu nehmen auf Arbeitsgestaltung, Qualifizierung und so weiter.“ Das Projekt sei „ein sehr vielversprechender Ansatz der Aktivierung von Betriebsräten, der in hohem Maße geglückt ist“, betont Bosch. „Die offene Frage für uns ist, wie man diesen Prozess aus der Sondersituation dieses Projekts in Gewerkschaftsarbeit umsetzen und verstetigen kann.“ Die Entwicklung einer Best Practice, mit der Betriebsräte den Umbruch zu Industrie 4.0 begleiten können, sei so aber auf einem guten Weg.

Aufmacherfoto: Karsten Schöne

 

WEITERE INFORMATIONEN

Böckler-Begleitforschung

„Arbeit 4.0 – Arbeiten in und an der Industrie der Zukunft“, Forschungsprojekt des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen. Projektteam: Gerhard Bosch, Thomas Haipeter, Tabea Bromberg, Jutta Schmitz, Anne-Christin Spallek. Laufzeit: April 2016 bis Juni 2018

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