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Dirk Mareck, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, Nordex Energy, Rostock Magazin Mitbestimmung

Öffentlicher Nahverkehr: „Eine gute Idee schlecht umgesetzt“

Ausgabe 04/2022

Noch bis Ende August können die Menschen für neun Euro im Monat in ganz Deutschland Bus und Bahn fahren. Das 9-Euro-Ticket gehört zum Paket, mit dem die Bundesregierung die Menschen angesichts der steigenden Energiepreise entlasten will. Fünf Erfahrungsberichte nach den ersten Wochen. Von Fabienne Melzer

"Das 9-Euro-Ticket bringt mir nur etwas, wenn ich es auch nutzen kann"

  • Dirk Marek am Bahnhof Rostock

Dirk Mareck, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, Nordex Energy, Rostock

„Das 9-Euro-Ticket bringt mir ja nur etwas, wenn ich es auch nutzen kann. Wir arbeiten in der Gondelproduktion in zwei Schichten. Die ersten fangen um 6 Uhr an und die letzten hören um 23.45 Uhr auf. Weder morgens noch abends fahren um diese Zeit Busse oder Züge zum Werk. Wer morgens zur Schicht muss oder abends nach Hause will, ist aufs Auto angewiesen. Daher sind ÖPNV-Tickets für unsere fast 600 Kolleginnen und Kollegen in der Produktion uninteressant. Das haben wir auch beim Jobticket gemerkt. Von den Beschäftigten in der Verwaltung und anderen indirekten Bereichen nutzen es gut 90 Prozent, in der Produktion nur 10 Prozent.

Ich denke schon, dass ein preiswertes Ticket mehr Menschen auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen ließe. Das funktioniert aber nur, wenn die Verkehrsbetriebe auch entsprechende Angebote schaffen.“
 

"Die Idee ist löblich, aber leider nicht zu Ende gedacht"

  • Erik Rindler, Betriebsratsratsvorsitzender, SWEG, Verkehrsbetrieb Ortenau-S-Bahn

Erik Rindler, Betriebsratsratsvorsitzender, SWEG, Verkehrsbetrieb Ortenau-S-Bahn

„Die Idee ist ja löblich, aber leider nicht zu Ende gedacht. Ausbaden müssen das die Beschäftigten in den Bussen und Bahnen. Denn wir sind für die Kunden greifbar und ihre Wut über das Chaos entlädt sich bei den Kolleginnen und Kollegen im Fahrbetrieb und auf den zuständigen Leitstellen. Sie werden in Bussen und Bahnen beschimpft, bespuckt und manchmal wird ihnen auch Prügel angedroht.

Die Beschäftigten sind für die Sicherheit im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) mitverantwortlich. Zur Sicherheit der Fahrgäste müssen beispielsweise Fluchtwege jederzeit frei bleiben. Es war schon vor dem 9-Euro-Ticket nicht immer leicht, aber jetzt sind die Busse und Bahnen vor allem an den Wochenenden oft völlig überfüllt. Dann bleibt die Entscheidung am Fahrer hängen: Fährt er los, trägt er die Verantwortung, wenn etwas passiert. Fordert er Fahrgäste auf auszusteigen oder lässt womöglich räumen, beschimpfen ihn die Fahrgäste. Immer wieder kommen Kollegen zu mir, weil sie nervlich am Ende sind.

Ich hätte mir gewünscht, dass die Politik mit Beschäftigen und Geschäftsführern der Verkehrsunternehmen spricht, bevor sie das 9-Euro-Ticket gestartet haben. Die Verkehrsunternehmen müssen es umsetzen, sie hätten sicher Ideen gehabt, wie es besser laufen könnte. Denn bei aller Kritik, wie es bis jetzt gelaufen ist – alle Beschäftigten finden es richtig, den ÖPNV am Ende attraktiver zu machen. Das 9-Euro-Tickt sollte nur der Anfang sein, das Ziel ein kostenloser und attraktiver ÖPNV. Aber eine gute Idee schlecht umgesetzt – brauchen weder Beschäftigte noch die Fahrgäste.“
 

"Natürlich kostet das, aber es ist finanzierbar"

  • Dennis Junghans, Sprecher Allianz pro Schiene

Dennis Junghans, Sprecher Allianz pro Schiene

„Das 9-Euro-Ticket finden wir gut, weil die Politik bei Entlastung nicht nur an Autofahrer, sondern zum ersten Mal auch an Bus- und Bahnfahrer gedacht hat. Mit gut 30 Millionen verkauften Tickets zeigt es auch: Die Menschen wollen Bahnfahren. Natürlich fällt uns in so einem Moment auf die Füße, was in den vergangenen Jahren alles versäumt wurde. Seit 1994 gingen 15 Prozent des Schienennetzes verloren. Gleichzeitig wuchs der Personenverkehr um 40 und der Güterverkehr um über 80 Prozent. Die Politik will die Fahrgastzahlen verdoppeln und einen Deutschlandtakt einführen. Dank des 9-Euro-Ticktets sehen wir, was uns dafür fehlt.

Das muss sich ändern, und es bewegt sich auch was. Jetzt wird über ein Klimaticket nach dem Vorbild Österreichs diskutiert und es steht auch im Klimaschutzsofortprogramm. Mit dem Deutschlandtakt haben wir ein Ziel, wo wir hinwollen und eine Liste von Maßnahmen von der Bahnsteigverlängerung bis zur Überholschiene, die uns dorthin führen. Dahinter kann Herr Wissing nicht zurück. Natürlich kostet das, aber es ist finanzierbar, wenn wir andere Prioritäten setzen. Kerosin muss nicht steuerfrei sein und die Lkw-Maut nicht nur für Straßenbau eingesetzt werden.“
 

"Bitte, lasst die Wut nicht an uns aus, denn wir geben gerade wirklich alles"

  • Victoria Ebnet, regionale Jugendkoordinatorin bei der Deutschen Bahn für die Region Südost, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen

Victoria Ebnet, regionale Jugendkoordinatorin bei der Deutschen Bahn für die Region Südost, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen

„Würden die Eisenbahner in den Zügen, den Stellwerken, an den Bahnsteigen und Schaltern im Moment nicht täglich an ihre Grenzen gehen, bräche der Zugverkehr sicher an manchen Stellen zusammen. Die Stellwerker halten ständig Kontakt zu den Zugführern und versuchen, überall noch die letzten fünf Minuten herauszuholen. Alles, was Räder hat, fährt. Wir sind materiell, aber auch personell am Anschlag. Wir sehen schon nach vier Wochen, wie die Krankenstände steigen, Kollegen während der Arbeit umkippen.

Vor kurzem noch, während Corona, kannten wir in unseren Zügen die wenigen Fahrgäste fast alle persönlich. Nun, von heute auf morgen, fährt alle Welt Zug, auch Menschen, die gar nicht wissen, wie das geht. Die einen fragen, wie sich die Türen öffnen lassen, die anderen laufen bei einem Gleiswechsel einfach über die Schienen. Zu den Stoßzeiten ist es noch voller als vor der Pandemie und jeder ist froh, wenn er nicht am Wochenende arbeiten muss. Jetzt lachen wir darüber, dass wir die Züge früher voll fanden.

Die Züge, die Bahnsteige, die Personaldecke nichts ist auf einen solchen Ansturm ausgelegt, auch weil über die Jahre so viel gespart wurde. Wir von der Interessenvertretung haben immer davor gewarnt, dass das nicht gut geht. Statt uns mit Ländern wie Italien zu vergleichen, sollten wir lieber in die Schweiz schauen und uns dort Ideen holen.

Wahrscheinlich hätte sich der Ansturm in Grenzen gehalten, wenn es von vornherein auch ein preiswertes Anschlussticket gegeben hätte. Dann würden sich nicht alle auf diese drei Monate konzentrieren. Die Politik hat es anders entschieden und nun müssen wir damit umgehen. Nur eins wünschen wir Eisenbahner uns im Moment von den Fahrgästen: Bitte, lasst die Wut nicht an uns aus, denn wir geben gerade wirklich alles.“

"Der einzige Nachteil ist, dass die Züge jetzt immer so voll sind"

  • Karin Telljohann, Mitglied im Verdi-Erwerbslosenausschuss, Berlin

Karin Telljohann, Mitglied im Verdi-Erwerbslosenausschuss, Berlin

„Für mich ist das 9-Euro-Ticket eine sehr gute Sache. In meinem Teilzeitjob verdiene ich so wenig, dass ich ergänzende Leistungen bekomme. Ein Monatsticket für Berlin kostete mich 27,50 Euro. Durch das 9-Euro-Ticket bleiben mir nun fast 20 Euro mehr im Monat. Aber es gibt mir auch mehr Freiheit, denn ich kann durch ganz Deutschland reisen. Vor Kurzem bin ich damit zur Ostsee gefahren. Ein normales Ticket hätte mich normalerweise 38 Euro gekostet, da hätte ich es mir schon dreimal überlegt, ob ich mir das leiste.

Ursprünglich komme ich aus Osnabrück. Dort habe ich immer noch Freunde. Sie will ich demnächst auch einmal mit dem 9-Euro-Ticket besuchen. Der einzige Nachteil ist, dass die Züge jetzt immer so voll sind, und ich bis zur Ostsee stehen musste.“
 

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