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Die Produktionsanlage der Yara in Poppendorf, südlich von Rostock. Das weiß-pulverige Ammoniumnitrat ist hier allgegenwärtig. Magazin Mitbestimmung

Von GUNNAR HINCK: Düngemittelhersteller Yara: Den Rhythmus aufgelockert

Ausgabe 09/2018

Betriebsrat Flexibilität, die den Beschäftigten der Yara GmbH & Co. KG nutzt: Durch das „Potsdamer Modell“ der ostdeutschen Chemieindustrie können Betriebsrat und Arbeitgeber innerhalb eines Korridors von 32 bis 40 Stunden befristet eine betriebliche Arbeitszeit festlegen und ab 2019 Wahlarbeitszeiten vereinbaren.

Von GUNNAR HINCK

Zu Besuch in der Herzkammer des nahe Rostock gelegenen Düngemittelherstellers Yara: Wer einen ruhigen, luftigen und ungefährlichen Arbeitsplatz sucht, ist hier fehl am Platz. Weißer Staub liegt überall in der Produktionshalle: auf dem Boden, auf den Stahltreppen, auf den Maschinen. Man schmeckt ihn in der Luft.

Der weiße Staub ist Ammoniumnitrat, ein wichtiger Bestandteil von Düngemitteln. Eine meterdicke Stahltrommel dreht sich, im Sekundentakt fallen Hämmer krachend darauf. So soll verhindert werden, dass sich das Pulver in der Trommel festsetzt.

Um das Salz zu gewinnen, werden Salpetersäure und Ammoniak, zwei stark gesundheitsschädliche Flüssigkeiten, zusammengebracht. Ein Nebenprodukt der Reaktion ist der feine Staub, der sich nicht binden lässt. Am Ende entstehen Kristalle, die harmlos aussehen, es aber nicht sind: Ammoniumnitrat ist unter bestimmten Bedingungen hochexplosiv – und damit ein Rohstoff für die Sprengstoffindustrie.

Im Pausenraum zählt Chemikant Thomas Kräutner, der gerade Frühschicht hat, die Belastungen der Arbeiter auf: „Wir sind Staub, Lärm und Hitze ausgesetzt.“ Natürlich gibt es bei Yara die vorgeschriebenen Schutzmaßnahmen, aber komplett vermeiden lassen sich die Belastungen nicht. Verstärkt werden sie durch den Schichtdienst in der Produktion, die rund um die Uhr läuft.

Am Wochenende dauert eine Schicht zwölf Stunden. Die besonders anstrengende Nachtschicht läuft in bis zu sieben Tage langen Blöcken. Die Umstellung auf die Tagschichten fällt den Arbeitern schwer, weil sich der Körper bei solch langen Zeiträumen an das Wachbleiben in der Nacht gewöhnt. „Die Schlafstörungen werden stärker, die Probleme nehmen mit dem Alter zu“, sagt Thomas Kräutner, der auf Mitte 50 zugeht.

Ab Januar wird es erheblich besser werden, hoffen die Beschäftigten. Dafür sorgt eine neue Betriebsvereinbarung. Es wird nur noch maximal drei Nachtschichten hintereinander geben und mehr freie Tage, wenn der Arbeitnehmer es will. Christian Selck, seit fast 30 Jahren der Betriebsratsvorsitzende, beugt sich in seinem Büro über den neuen Schichtplan, zeigt auf eine Spalte und zählt auf: „Drei Frühschichten, zwei Tagschichten, einmal frei, zwei Spätschichten, zweimal frei, drei Nachtschichten, einmal frei.“ So aufgelockert wird ab nächstem Jahr ein typischer Schichtrhythmus eines Arbeiters aussehen.

Möglich geworden ist die Reform durch das Potsdamer Modell der ostdeutschen Chemieindustrie. Betriebsrat und Unternehmensleitung dürfen seit diesem Jahr innerhalb eines Korridors von 32 bis 40 Stunden befristet eine betriebliche Arbeitszeit festlegen – entweder für den gesamten Betrieb oder für bestimmte Arbeitnehmergruppen wie Schichtarbeiter. Ab 2019 können individuelle Wahlarbeitszeiten für jeden Arbeitnehmer vereinbart werden. Diese zweite Variante will Yara im Produktionsbereich umsetzen – strittig sind nur noch Details. Den entscheidenden Anstoß gab nicht unbedingt der Wunsch nach individueller Flexibilität, meint Christian Selck. Die Belegschaft wollte vielmehr wegkommen von den anstrengenden Schichtblöcken.

POTSDAMER MODELL

Die Tarifparteien von Arbeitgeberverband Nordostchemie und IG BCE brachten 2017 einen neuen Manteltarifvertrag für die über 30 000 Beschäftigten in der ostdeutschen Chemieindustrie auf den Weg, auch Potsdamer Modell genannt. Die Betriebsparteien können per Betriebsvereinbarung innerhalb eines Rahmens von 32 bis 40 Stunden eine betriebliche Arbeitszeit festlegen. In einem zweiten Schritt ist ab 2019 eine individuelle Arbeitszeit innerhalb dieses Rahmens möglich. Gleichzeitig sinkt die Arbeitszeit in drei Schritten bis 2023 auf 38,5 Stunden. Zusammen mit dem geltenden „Tarifvertrag zur lebensphasengerechten Arbeitszeitgestaltung“ (LephA-TV) kommen die Ost-Beschäftigten dann auf die im Westen geltende Arbeitszeit von 37,5 Stunden.

Selck und seine Betriebsratskollegen standen vor der Frage: Wie kann man die Schichtarbeit entzerren und gleichzeitig auch die Arbeitnehmer berücksichtigen, die nicht weniger arbeiten wollen? Herausgekommen ist ein Fünfschichtmodell. Die Arbeiter sind ab 2019 statt auf bislang vier auf fünf Schichtgruppen verteilt, während der Tag weiter in drei Achtstundenschichten unterteilt ist.

Zwei von fünf Schichtgruppen haben pro Tag frei. So arbeitet jeder Beschäftigte im Schichtbetrieb künftig 33,6 Stunden. Die geringere Arbeitszeit wird durch neu eingestelltes Personal und übernommene Auszubildende aufgefangen. Inzwischen arbeiten bei Yara Rostock wieder 270 Beschäftigte; die geringste Mitarbeiterzahl lag einmal bei 200.

Leichtere Schichten dazwischen

Der Kniff ist: Die Arbeitszeit kann individuell auf bis zu 38,4 Stunden hochgesetzt werden. Dann leisten die Arbeiter zusätzliche, aber leichtere Tagschichten, voraussichtlich bei der Rohstoffentladung, bei der Werksfeuerwehr oder bei Reinigungsarbeiten. So können sie ihre Arbeitszeit schrittweise auf 38,4 Stunden hochschrauben. Da im Jahr 2019 die Arbeitszeit in der Ost-Chemie bei 39,5 Stunden liegt und bei Yara über eine jetzt schon geltende Tarifklausel eine Stunde weniger gearbeitet wird, bleibt der Grundlohn praktisch gleich.

Ohne das Potsdamer Modell wäre das neue Schichtsystem nicht möglich gewesen – dann wären Zusatzschichten für alle verpflichtend, um die tarifliche Arbeitszeit zu erreichen. Das hätte weder die Belegschaft noch der Arbeitgeber gewollt, der natürlich die Personalkosten im Blick hat. Das Potsdamer Modell macht außerdem möglich, dass die 33,6 Stunden rechtlich als Vollzeit gelten und nicht als Teilzeit. Das sind wichtige Unterschiede: Die Stundenreduzierung nach dem Potsdamer Modell ist zeitlich befristet. Außerdem bleiben die Jahresleistungen und die Beiträge für die betriebliche Altersvorsorge gleich.

Egal, ob die Arbeiter bei Yara mit Tagschichten außerhalb der Produktion aufstocken oder das Minimum von 33,6 Stunden wählen – beide Varianten reduzieren den körperlichen und psychischen Stress. „Ich erwarte eine deutliche Entlastung“, sagt Thomas Kräutner. Er wird die „Bringetage“ (Zusatzschichten) machen, um keine Lohneinbußen hinnehmen zu müssen.

Die treibende Kraft war der Betriebsrat

Für Betriebsrat Christian Selck ist Thomas Kräutner eine Ausnahme: „Die Älteren werden wohl eher keine Bringetage wollen. Die Jüngeren dagegen schon.“ So wie Sebastian Lüning, der in der Salpetersäure-Produktion im Pausenraum sitzt.

Der junge Chemikant will auch aufstocken. „Ich probiere das erst einmal ein Jahr aus“, sagt er. Weniger Stunden könnte er sich wegen des guten Tarifgehalts durchaus leisten, aber er möchte erst einmal Geld verdienen. Welche Arbeit bei den Zusatzschichten auf ihn zukommt, wartet er ab. „Acht Stunden lang den Hof fegen wäre allerdings nicht so toll“, sagt er.

Die treibende Kraft bei der Entwicklung des neuen Schichtsystems war der Betriebsrat, weniger die Unternehmensseite, sagt Christian Selck. So schafft das Potsdamer Modell ganz neue ­Gestaltungsmöglichkeiten für die betriebliche Mitbestimmung: Wenn ein Manteltarifvertrag flexible Arbeitszeitmodelle im Unternehmen ermöglicht, ist der Betriebsrat als Verhandlungspartei gefragt – seine Rolle im Unternehmen wird noch gewichtiger.

Birgit Grunow, bei der IG BCE Nordost Projektsekretärin für das Potsdamer Modell, sagt: „Das Modell bietet die großartige Möglichkeit, die betriebliche Arbeitszeit flexibel zu gestalten, und die Entscheidung dazu treffen die Betriebsparteien. Sie sind die Experten und kennen die spezifische Situation vor Ort am besten. Das ist bisher einzigartig. Die Tarifparteien haben mit dem Tarifvertrag die Flanken gesetzt, die konkrete Ausgestaltung übernehmen die Betriebsparteien.“

Das Pendel schlägt um

Aber ohne die Beschäftigten geht es auch nicht. Swen Ohlert, der als IG-BCE-Sekretär in Rostock Yara betreut, sagt mit Blick auf das Potsdamer Modell: „Jetzt muss das Bewusstsein geschaffen werden, dass es die Arbeitnehmer sind, die ihre Arbeitszeiten bestimmen können. Das Thema Flexibilität war über 20 Jahre von der Arbeitgeberseite dominiert. Jetzt schlägt das Pendel zur Arbeitnehmerseite um.“

Die neuen Möglichkeiten brechen für ihn alte Routinen auf: „Die Beschäftigten waren es gewohnt, sich zwischen Teilzeit und Vollzeit zu entscheiden. Nun gibt es etwas, das dazwischen liegt – das müssen die Kolleginnen und Kollegen erst einmal für sich annehmen.“

Zur Geschichte des Potsdamer Modells gehört, dass die IG BCE ursprünglich eine Angleichung an die westdeutsche Arbeitszeit von 37,5 Stunden wollte – im Osten liegt die Arbeitszeit in der Regel noch bei 40 Stunden. Weil die Arbeitgeberseite die Angleichung kategorisch ablehnte, musste sie Alternativen anbieten. So zeigte sie sich bei der Arbeitszeitflexibilität kompromissbereit. Swen Ohlert sieht den Tarifabschluss als vorbildlich für Gesamtdeutschland: „Im Westen gibt es nicht diese Flexibilität, aber auch nicht diesen Handlungsbedarf wegen der kürzeren Arbeitszeit. Unsere Herangehensweise weckt Interesse im Westen. Für die gesamtdeutsche Debatte kann das Flexi-Modell ein Gewinn sein.“

Aber auch im Osten geht die Arbeitszeit durch das Potsdamer Modell in mehreren Schritten herunter. „2023 haben wir endlich eine endgültige Angleichung bei der Arbeitszeit zwischen Ost und West. Das möchte ich noch erleben – ich kann gar nicht vorher in Rente gehen“, sagt Christian Selck.

Aufmacherfoto: Stephan Pramme

 

WEITERE INFORMATIONEN

Zeit oder Geld?

Das Potsdamer Modell der IG BCE setzt neue Maßstäbe. Aber auch andere Gewerkschaften haben mehr Wahlmöglichkeiten ausgehandelt.

IG Metall Baden-Württemberg: Ab 2019 können Beschäftigte ihre Arbeitszeit für sechs und bis 24 Monate auf bis zu 28 Wochenstunden absenken. Im Gegenzug können die Arbeitgeber mehr Arbeitsverträge mit bis zu 40 Wochenstunden abschließen. Statt des neuen tariflichen Zusatzgelds von 27,5 Prozent eines Monatsgehalts ist es bestimmten Beschäftigtengruppen erlaubt, sich für acht zusätzliche freie Tage zu entscheiden – darunter Beschäftigte mit kleinen Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen und Schichtarbeiter.

EVG: Die zweite Stufe der Lohnerhöhung des laufenden Tarifvertrags bei der Deutschen Bahn kann alternativ in sechs Tage zusätzlichen Urlaub oder eine Stunde weniger Arbeitszeit pro Woche umgewandelt werden. Nach einer Umfrage der EVG hat sich die Mehrheit für die sechs Tage entschieden, 42 Prozent nehmen mehr Geld – und nur zwei Prozent wählen die Arbeitszeitverkürzung.

ver.di: Bei der Rhein-Necker-Verkehr GmbH gilt ein Demographie-Tarifvertrag. Ab 55 Jahren sind maximal 51 Entlastungstage möglich. Die Arbeitnehmer beteiligen sich mit drei Prozent durch Lohnverzicht, der Rest wird vom Arbeitgeber aufgebracht. Zusätzlich gibt es einen Tarifvertrag Zeitwertkonten: Arbeitnehmer können Teile ihres Gehalts aufsparen und sie für Freizeitphasen auszahlen lassen. Der Arbeitgeber schießt 0,4 Prozent des Jahresgehalts zu. Zusätzlich können jährlich 50 Arbeitsstunden, in Geld umgerechnet, in das Zeitwertkonto eingespeist werden.

Bei der Telekom reguliert der Tarifvertrag Telearbeit, Anlage „Mobile Working“, Homeoffice und Co. Jede Arbeit wird per App dokumentiert und ist nur werktags (6 bis 22 Uhr) erlaubt. Mit einem Belastungsschutz-Tarifvertrag sind individuelle Gegenmaßnahmen möglich, wenn die Arbeitsbelastung zu stark ist.

Durch den neuen Tarifvertrag bei der Deutschen Post können die drei Prozent Lohnerhöhung in 60 Stunden weniger Arbeit pro Jahr umgewandelt werden – die 2,1 Prozent 2019 zusätzlich in 42 Stunden.

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