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Magazin Mitbestimmung

Zur Sache: Die verlorene Generation

Ausgabe 06/2012

Die Jugendarbeitslosigkeit ist im Euroraum seit 2008 von 15 auf 22 Prozent gestiegen. Besonders betroffen: Griechenland, Spanien, Italien, Portugal."Ohne strukturelle Entwicklungen auch im Bildungswesen werden die Krisenstaaten keinen nachhaltigen Aufschwung nehmen", sagt Winfried Heidemann.

Vor einer „verlorenen Generation“ warnt der neue Report der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu den globalen Beschäftigungstrends für Jugendliche. In der Eurozone hat die Arbeitslosigkeit der 15- bis 24-Jährigen seit 2008 von 15 auf 22 Prozent zugenommen. In Griechenland und Spanien liegt sie bei 50, in Portugal und Italien bei 36 und in Frankreich bei 22 Prozent. Demgegenüber glänzt Deutschland mit einer Quote von knapp acht Prozent und unterbietet damit die bisherigen Musterschüler Österreich und die Niederlande. Einzig in Deutschland ist die Quote seit der Wirtschaftskrise gesunken. Überdurchschnittlich betroffen sind überall junge Männer – eine von der Genderforschung ausgeblendete Tatsache.

Nicht erst seit der Wirtschaftskrise ist Jugendarbeitslosigkeit ein Problem. Insbesondere in den „Südstaaten“ und Frankreich, aber auch in Großbritannien und Schweden ist die Quote seit Langem sehr hoch. Ist es Zufall, dass sie in Ländern mit betriebsnaher Ausbildung – Deutschland, Österreich, Schweiz und Niederlande – niedriger ist? Das ist sicher nicht die einzige Ursache, sind diese betriebsnahen Ausbildungssysteme doch höchst unterschiedlich konturiert und sind die jeweilige Wirtschaftsstruktur, die industriellen Beziehungen und kulturellen Ursachen zu betrachten. Dennoch: Eine mit betrieblichen Arbeitsmärkten verzahnte Ausbildung eröffnet bessere Beschäftigungschancen als eine betriebsferne – wer einmal im Beschäftigungssystem drin ist, bleibt eher dort, als dass Außenstehende hineinkommen.

Die Einbettung der Ausbildung in die betrieblichen Arbeitsmärkte sorgte in Deutschland auch in den Krisenjahren für relativ stabile Beschäftigung der betrieblich Ausgebildeten. Betriebsräte haben zäh für möglichst stabile Ausbildungsquoten gestritten; die Gewerkschaften haben in den Schlüsselsektoren der Wirtschaft eine Beschäftigung von mindestens einem Jahr im Anschluss an die Ausbildung durchgesetzt, im neuen Metall-Tarifvertrag sogar den Regelfall eines nicht befristeten Arbeitsvertrages; auch die Politik des „Hortens“ der Arbeitskräfte unter Nutzung der Kurzarbeit hat Beschäftigung aufrechterhalten. Der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie hat das genutzt. Anders in den von der Krise stärker betroffenen Ländern: Berufsbildung ist dort nicht auf Arbeitsmärkte bezogen; Betriebe übernehmen keine Verantwortung für ihren eigenen Qualifikationsbedarf; Ausbildung ist für Gewerkschaften kein zentrales Thema. Ohne strukturelle Entwicklungen auch im Bildungswesen werden die Wirtschaften der Krisenstaaten keinen nachhaltigen Aufschwung nehmen – Finanzspritzen von außen lösen die Probleme nicht.

Es gibt aber auch in Deutschland Schattenseiten. Längst nicht alle Interessenten für einen betrieblichen Ausbildungsplatz erhalten einen; vielerorts liegt die Angebot-Nachfrage-Relation deutlich unter 100 Prozent; auch in Regionen mit einem Angebotsüberhang gehen Bewerber leer aus; so kamen 2011 fast 300 000 junge Menschen – sie stehen für 15 Prozent des gesamten Ausbildungsgeschehens – in Maßnahmen des „Übergangsbereichs“, reduzieren also die Arbeitslosenquote; die Ausbildungsabbrüche liegen durchschnittlich bei 22 Prozent der Verträge, in ­einigen Berufen weit darüber; die Struktur betrieblicher Ausbildung hinkt hinter der der Arbeitsmärkte her; Studienabsolventen müssen Praktikarunden drehen; die OECD verweist regelmäßig auf die geringe Durchlässigkeit von betrieblicher Ausbildung zum Bildungssystem und auf geringe Studienquoten. Eine Folge früherer Versäumnisse: Ein Sechstel der heute 30- bis 35-Jährigen sind ohne Abschluss geblieben. Für die Behauptung nachlassender Ausbildungsreife der Jugendlichen gibt es nach einer neuen Studie der Hans-Böckler-Stiftung keine belastbaren Belege – eher kann man von mangelnder Ausbildungsfähigkeit vieler Betriebe sprechen. Diese Probleme erscheinen zwar im Vergleich zu denen in anderen Ländern als gering, auch wird an vielen „Baustellen“ bereits gearbeitet. Doch stellt sich die Frage: Lassen sich die Probleme allein durch immanente Verbesserung von Ausbildungsordnungen und betrieblichen Ausbildungsprozessen lösen? Oder sind strukturelle Weiterentwicklungen nötig, da das „Schisma des Bildungssystems“ (Martin Baethge) – die wechselseitige Abschottung von allgemeiner und betrieblicher Bildung – soziale Ausschließung und Unterinvestition in zukunftsfähige Ausbildung befördert?

Winfried Heidemann leitet das Referat Qualifikation in der Hans-Böckler-Stiftung.

Mehr Informationen

Rolf Dobischat u.a.: AUSBILDUNGSREIFE – Ein umstrittener Begriff beim Übergang Jugendlicher in eine Berufsausbildung. ­Arbeitspapier Nr. 189 der Hans-Böckler-Stiftung, 2012

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