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Magazin Mitbestimmung

: Die Stunde der Tarifpolitik

Ausgabe 03/2010

FLEXIBILISIERUNG Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, Betriebsräte und Manager leisten in Krise Beachtliches: Sie passen Arbeitszeiten und Löhne an die Unterauslastung an und erhalten das Know-how der Facharbeit. Von Matthias Helmer

 MATTHIAS HELMER ist Journalist in Göttingen

Ein aufsehenerregendes Tarifpaket haben IG-Metall-Vorsitzender Berthold Huber und Gesamtmetall-Chef Martin Kannegiesser Mitte Februar geschnürt. Es gibt den Metallunternehmen Instrumente in die Hand, mit denen sie - zu reduzierten Kosten - weitere Durststrecken mit Personalüberhängen überdauern können. Das erhält den Unternehmen qualifiziertes Fachwissen und ist darauf angelegt, 3,4 Millionen Menschen die wirtschaftliche Existenz zu sichern. Einige Betriebsräte der Metall- und Elektroindustrie hatten ihre Verhandlungen um betriebsbedingte Entlassungen ausgesetzt, um den Tarifabschluss abzuwarten: Zentraler Inhalt des Jobpakets ist der Erhalt des industriellen Know-hows durch eine starke Flexibilisierung der Arbeitszeiten bis zu 26 Wochenstunden. Außerdem können Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen verstärkt Auszeiten für Weiterbildung nutzen wie auch Übernahmequoten für die jungen Fachkräfte vereinbart wurden.

Nimmt eine Firma die tarifliche Kurzarbeit in Anspruch, darf sie während dieser Zeit ihren Beschäftigten nicht kündigen. "Die Tarifpartner haben damit ein Vertrauenskapital geschaffen, das es auch über die Krise zu bewahren gilt", kommentiert das "Handelsblatt". Jetzt ist beim neuen Bündnis für Arbeit die Politik gefragt, um das bundesdeutsche Jobwunder in den Metall- und Elektrounternehmen fortsetzen zu können: Obwohl die Produktion um rund ein Drittel einbrach, wurde nicht mehr als fünf Prozent des Personals reduziert.

Dies ist nur zum Teil den Unterstützungsleistungen des Staates zu verdanken - durch Kurzarbeit oder die Abwrackprämie. Ohne das aktive Krisenmanagement der Tarifparteien wäre "eine faire Lastenteilung" (Berthold Huber) nicht möglich. Und ohne gewisse Vorarbeiten auch nicht. Seit Mitte der 90er Jahre haben die Tarifvertragsparteien in Deutschland die Arbeitszeit flexibilisiert, um das Arbeitsvolumen an den nachfragebedingten Produktionsrückgang anzupassen. In der Krise konnten die tarifpolitischen und betrieblichen Verhandlungspartner sofort auf diese Instrumente zurückgreifen.

Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung ermöglichen in der Metall- und Elektroindustrie schon länger eine Verkürzung der Arbeitszeit um maximal fünf oder sechs Stunden pro Woche. Abweichende Tarifvereinbarungen für alle Tarifgebiete im Bereich Metall/Elektro sind zudem auf Grundlage des Pforzheimer Abkommens von 2004 in Form von betriebsbezogenen Ergänzungstarifverträgen möglich. Allein im Organisationsbereich der IG Metall sind - parallel zum Flächentarifvertrag - zurzeit 550000 Arbeitnehmer durch betriebliche Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung vor betriebsbedingten Kündigungen geschützt. Diese Vereinbarungen existieren bei vielen Großunternehmen wie etwa BMW, VW, Daimler, MAN ebenso wie bei Linde, ThyssenKrupp, Siemens, BASF oder Bayer.

Auch in der chemischen Industrie gibt es die mit der Auftragslage atmende Fabrik. In der Chemie einigten sich die Sozialpartner - ebenfalls bereits in den 90er Jahren - auf Arbeitszeitkorridore, vorrangig mit dem Ziel, die Bindekraft von Flächentarifverträgen zu stärken. Damit ist - konkretisiert in Betriebsvereinbarungen und firmenbezogenen Verbandstarifverträgen - eine Absenkung oder Anhebung der wöchentlichen Arbeitszeit um zweieinhalb Stunden möglich. In der Folge wurden Korridore für Entgeltleistungen und tarifliche Einmalzahlungen geschaffen, die in Zeiten von Boom und Abschwung Arbeitnehmereinkommen um bis zu zehn Prozent höher oder niedriger ausfallen lassen können.

QUER DURCH ALLE WIRTSCHAFTSBEREICHE_ Wie eine Auswertung des WSI-Tarifarchivs in der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, existieren tarifliche Regelungen zur Beschäftigungssicherung quer durch alle Wirtschaftsbereiche - vom Bankgewerbe bis zur Ziegelindustrie. In den meisten Fällen erlauben sie eine Arbeitszeitverkürzung über freiwillige Betriebsvereinbarungen. In der Energiewirtschaft und der chemischen Industrie ist eine Zustimmung der Tarifparteien erforderlich.

Vielfach ist festgeschrieben, dass während der Laufzeit keine betriebsbedingten Kündigungen ausgesprochen werden dürfen. Bei allen Unterschieden eröffnen die existierenden Regelungen den Unternehmen erhebliche Gestaltungsspielräume. Insgesamt reicht die Spanne der möglichen Arbeitszeitverkürzung dabei von zweieinhalb bis zehn Stunden pro Woche.

Der Tarifvertrag in der Stahlindustrie erlaubt schon länger eine Absenkung der wöchentlichen Arbeitszeit auf bis zu 28 Stunden - mit dabei ist ein gestaffelter Teillohnausgleich. Hier liegt allerdings ein Knackpunkt, denn die WSI-Forscher weisen darauf hin, dass nur in wenigen Bereichen ein - zumindest teilweiser - Lohnausgleich vorgesehen ist. Hier wird vom WSI ein verpflichtender (Teil-)Lohnausgleich angemahnt. "Ziel muss dabei vor allem eine Einkommensstabilisierung der Beschäftigten sein", sagt Reinhard Bispinck, Leiter des WSI-Tarifarchivs. Denn bei einer Verkürzung der Arbeitszeit auf unter 30 Stunden pro Woche seien die finanziellen Einbußen für die Arbeitnehmer - insbesondere in den unteren Lohngruppen - zu stark. Im neuen Tarifabschluss für die Metallindustrie ist auch ein Teillohnausgleich bei einer Verkürzung auf 30 Stunden und weniger vorgesehen. Außerdem besteht die Möglichkeit, die Sonderzahlungen (Weihnachts- und Urlaubsgeld) auf die einzelnen Monate umzulegen.

Besser sind die Beschäftigten gestellt, die tariflich vereinbarte Zuschüsse zum staatlich gezahlten Kurzarbeitergeld erhalten. So sieht der Tarifvertrag in der chemischen Industrie eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf 90 Prozent des Nettoarbeitsentgelts vor.

In der Metallindustrie Nordwürttemberg-Nordbaden sind über den Arbeitgeberzuschuss 80 Prozent des Brutto- bzw. 100 Prozent des Nettoentgelts gesichert. Ungeachtet solcher Regelungen müssen die von Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmer zum Teil empfindliche Einbußen hinnehmen. Das IAB beziffert den Einkommensverlust der etwa 1,2 Millionen Beschäftigten, die 2009 von Kurzarbeit betroffen waren, mit rund drei Milliarden Euro. Die Unternehmen kostete die Kurzarbeit im Gegenzug errechnete fünf Milliarden Euro.

ARBEITSZEITKONTEN ALS PUFFER_ Angesichts dieser Zahlen überrascht es, dass - zumindest bis Sommer 2009 - die Arbeitszeitkonten unter den Instrumenten an erster Stelle rangierten, mit denen die Betriebe versucht haben, in der Phase des Absatzeinbruchs gegenzusteuern. Das zeigt die Betriebsrätebefragung des WSI, an der 2300 Arbeitnehmervertreter teilgenommen haben. Demnach versuchten 42 Prozent der von der Krise betroffenen Betriebe mit Betriebsrat, über den Abbau von Zeitguthaben auf den Arbeitszeitkonten Beschäftigung zu halten. Dabei kamen ihnen die prallvollen Zeitkonten aus den Boomjahren 2007 und 2008 zugute. Der starke Rückgriff auf die Arbeitszeitkonten ist Voraussetzung für die Gewährung von Kurzarbeitergeld. Das erklärt, warum Kurzarbeit nur in einem Drittel der vom WSI befragten Betriebe gefahren wurde. Lediglich acht Prozent nutzten tarifliche oder andere Regelungen zur befristeten Arbeitszeitverkürzung, der Rest versuchte, über vorgezogene Urlaube oder betriebliche Umsetzungen Auftragsflauten aufzufangen. In einigen Betrieben mussten die Belegschaften auch Einschnitte bei Löhnen oder Sozialleistungen hinnehmen. Deutlich macht diese Auflistung, dass auch unternehmensintern ein großer Handlungsspielraum besteht, um Entlassungen zu verhindern.

Dieser Spielraum wurde intensiv genutzt - auch von Firmen, die nicht unmittelbar von der Krise berührt waren. Sie passten ebenso - verunsichert durch die wirtschaftliche Entwicklung - ihr Arbeitsvolumen nach unten an: 18 Prozent über den Abbau von Zeitkonten, fünf Prozent über Kurzarbeit. Besonders gefordert waren die Hersteller von Investitionsgütern und Grundstoffen: Hier haben drei Viertel der Unternehmen flexible interne Maßnahmen gestartet, wohingegen es bei Banken und Versicherungen nur jedes fünfte Unternehmen war. Bei der Kurzarbeit lag bundesweit die Metall- und Elektroindustrie vorn, mit rund 700000 kurzarbeitenden Beschäftigten. Nach Berechnungen des IAB sind auf diese Weise insgesamt 1,2 Millionen Arbeitsplätze gesichert worden, etwa zu je einem Drittel über Kurzarbeit und den Abbau von Überstunden oder Zeitguthaben.

BLEIBEKOSTEN MACHEN SORGEN_ Auch im März 2010 sind größere Entlassungswellen - trotz anziehender Konjunktur - noch nicht gebannt. Gesamtmetall-Chef Kannegiesser äußerte die Hoffnung, dass zumindest ein Dammbruch vermieden werden könne. Für die Verhandlungen der firmenspezifischen Jobpakete, wie sie in vielen Großunternehmen existieren, eröffnet der jüngste Metall-Tarifvertrag neue Möglichkeiten, weiterhin Personal zu halten. Denn das Jobpaket, das den Unternehmen zwei Jahre lang Planungssicherheit gibt, verbilligt die Remanenzkosten - das sind die Kosten, die trotz Kurzarbeit und Arbeitsausfall für die Betriebe anfallen. Sie lagen im Metallbereich nach IAB-Berechnungen bei rund 26 Prozent der vollen Lohnkosten und können jetzt auf 15 Prozent gesenkt werden durch eine anteilige Reduzierung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Die Remanenzkosten machen allen Branchen Sorgen - so auch der Chemieindustrie. Sie können dort auch höher ausfallen, abhängig davon, welche tariflichen Zuschüsse bezahlt oder Sozialversicherungsbeiträge erstattet werden. Von Michael Vassiliadis, dem IGBCE-Vorsitzenden kam Ende 2009 der Vorschlag, diese über einen Bankenfonds zu finanzieren.

Der jetzt abgeschlossene Metalltarifvertrag kommt erst dann zum Zuge, wenn die gesetzliche Kurzarbeit ausgeschöpft ist. "Der Tarifvertrag baut sinnvoll auf den existierenden Regelungen zur Kurzarbeit auf", sagt Thomas Haipeter, Wissenschaftler am IAQ in Duisburg-Essen. Er hält den Tarifvertrag auch für wegweisend für andere exportorientierte Branchen. Dessen jobsichernde Wirkung wird jedoch stark davon abhängen, ob der Staat die Unternehmen auch über 2010 hinaus bei Kurzarbeit von Sozialabgaben entlastet.

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