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Amelie Sutterer-Kipping  Magazin Mitbestimmung

Zur Sache: Die Mindestlohnrichtlinie ist eine Kehrtwende zu einem sozialen Europa

Ausgabe 02/2023

Amélie Sutterer-Kipping über die neue Richtung der europäischen Arbeits- und Sozialpolitik

Die Mindestlohnrichtlinie markiert eine Kehrtwende in der europäischen Arbeits- und Sozialpolitik. In der  Europäischen Union herrschte über Jahrzehnte eine neoliberal geprägte Auffassung vor, wonach allein ein gemeinsamer Binnenmarkt Löhne angleichen und Wohlstand gerecht verteilen würde. Die Spanne zwischen den  gesetzlichen Mindestlöhnen in Europa – 363 Euro monatlich in Bulgarien und 2.257 Euro in Luxemburg – zeigt jedoch, dass diese Hoffnungen sich nicht erfüllt haben. Ziel der Richtlinie ist es daher, auf Unionsebene angemessene Mindestlöhne zu gewährleisten und Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung zu fördern.

Kein einheitlicher Mindestlohn

Obwohl die Richtlinie keinen einheitlichen europäischen Mindestlohn oder die Höhe nationaler Mindestlöhne festlegt, verpflichtet Artikel 5 der Bestimmung die Mitgliedstaaten, Kriterien für die Festlegung und  Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne auszuarbeiten, die zu ihrer Angemessenheit beitragen. Dazu sollen ein oder mehrere Gremien zur Beratung der zuständigen Behörde in Fragen des gesetzlichen Mindestlohns bestimmt oder eingerichtet werden. Diesen Vorgaben trägt das Mindestlohngesetz (MiLoG) mit der Errichtung einer Mindestlohnkommission bereits Rechnung (Paragraf 4 Absatz 2 MiLoG).

Gemäß Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie müssen die nationalen Kriterien zur Festsetzung des Mindestlohns mindestens vier Parameter umfassen: Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne mit Blick auf die  Lebenshaltungskosten, das Niveau und die Verteilung der Löhne, die Wachstumsrate der Löhne, und die langfristige nationale Entwicklung der Arbeitsproduktivität. 

Die Aufzählung ist nicht abschließend, und die Mitgliedstaaten haben bei der Bestimmung und Gewichtung der Indikatoren einen großen Ermessensspielraum. Darüber hinaus sind die Mitgliedstaaten bei der Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne verpflichtet, Referenzwerte zugrunde zu legen. Sie können diese allerdings frei wählen. Die Richtlinie sieht keine verbindlichen Lohnuntergrenzen vor. Das bedeutet für die Mindestlohnkommission in Deutschland, dass sie bei der Festsetzung des gesetzlichen Mindestlohns neben der Tariflohnentwicklung künftig weitere Parameter berücksichtigen muss (Paragraf 9 Absatz 2 MiLoG).

Schließlich soll die Richtlinie auch die Tarifbindung stärken. Um diese in den Mitgliedstaaten zu erhöhen und die Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung zu erleichtern, müssen Mitgliedstaaten, in denen weniger als 80 Prozent der Beschäftigten unter einen Tarifvertrag fallen, zusätzlich einen Rahmen festlegen, der die  Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft, und einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen
vorlegen.

Richtige Impulse gesetzt
Die geforderten 80 Prozent erreichen bislang nur Österreich, Frankreich, Belgien, Italien, Finnland, Dänemark und Schweden. In Frankreich ist die Tarifbindung zwar sehr hoch, der gewerkschaftliche Organisationsgrad
hingegen sehr gering. In Deutschland liegt der Wert bei unter 50 Prozent. Obwohl der Arbeitsminister das Ziel als ambitioniert bezeichnet, setzt die Richtlinie die richtigen Impulse: Sie schafft einen europäischen Referenzrahmen, der eine starke Tarifbindung für eine nachhaltige und inklusive Wirtschaftsentwicklung fördert und entsprechend aufbaut.


Amélie Sutterer-Kipping ist Wissenschaftliche Referentin am Hugo Sinzheimer Institut der Hans-Böckler-Stiftung.

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