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Magazin Mitbestimmung

Von JEANNETTE GODDAR: "Die Berufsschule muss aufgewertet werden"

Ausgabe 07/2018

Wissen Der Lehrkräftemangel hat mit Wucht auch die Berufsschulen erreicht. Während die Schüler einen immer vielfältigeren Hintergrund besitzen, fehlt das Personal, das dieser Heterogenität gerecht werden kann.

Von JEANNETTE GODDAR

Ein Besuch an der Berufsschule in Berlin-Charlottenburg macht schnell deutlich, welche vielfältigen Herausforderungen sich durch die heterogen zusammengesetzten Schülergruppen heutzutage für die Lehrerschaft ergeben. Viele der jungen Menschen holen in der Berufsvorbereitung das nach, was sie in der Schule nicht gelernt haben, die Vorbildung variiert stark, ebenso das Alter, sie besitzen unterschiedliche Migrationshintergründe oder einen sehr differenzierten Förderbedarf.

Im Leitbild des Oberstufenzentrums (OSZ) Kraftfahrzeugtechnik Berlin, auf das Schulleiter Ronald Rahmig von seinem Schreibtisch blickt, ist von „drei gleichwertigen Säulen“ die Rede: „Ausbildungsqualifizierung, Ausbildung, Studienqualifizierung“. An der Schule wird dual ausgebildet: zum Zweiradmechatroniker für Fahrrad wie Motorrad; und natürlich zum Kfz-Mechatroniker. Die Ausbildung zum Fahrradmonteur beispielsweise ist vollschulisch und findet komplett im Haus statt.

Rund 1600 Unterrichtsstunden kommen jede Woche zusammen; die meisten in Fächern, in denen eine äußerst heterogene Gruppe an all das herangeführt werden soll, was es für einen fahrzeugtechnischen Beruf im 21. Jahrhundert braucht; handwerklich-technische, digitale, inklusive mathematischer und kommunikativer Kompetenzen. „Wer heute ein Auto repariert, liest häufig zuerst einmal Daten aus“, erklärt Rahmig, „die muss er interpretieren und gegebenenfalls auch mit den Kunden besprechen können. Mit Herumschrauben ist es nicht getan.“

Um das zu vermitteln, braucht es Berufsschullehrer. Eigentlich sind das Menschen, die in zwei Fächern einen akademischen Abschluss haben: in einem technischen wie etwa Kraftfahrzeugtechnik und Mathematik und einem allgemeinen wie etwa Finanzverwaltung und Englisch.

In der Lehrerausbildung werden diese Fächer mit pädagogischen und didaktischen Kenntnissen verknüpft. Bestenfalls zusätzlich mit Kursen in Deutsch als Zweitsprache – in Zeiten, in denen immer mehr Azubis zuhause nicht mit Deutsch aufgewachsen sind, ist es wichtig, Fachsprache so zu vermitteln, dass auch sie mitkommen.

Solche Lehrer zu finden, wird vor allem in technischen Fächern immer schwieriger: „Erst vor wenigen Wochen wollte ich eine Stelle in Elektro- und Metalltechnik besetzen – und habe keinen sogenannten Laufbahnbewerber gefunden “, erzählt Rahmig. Und dann? „Dann bemühen wir uns zum Beispiel um jemanden, der einen Master in Metalltechnik oder Maschinenbau hat und der ein zweites Fach nachstudiert, gegebenenfalls berufsbegleitend.“

Jeder vierte Lehrer am OSZ Kfz-Technik ist bereits Quereinsteiger – zum nächsten Schuljahr kommen noch einmal fünf hinzu. Sie alle müssen das lernen, was es in der Schule so braucht – und zwar ohne dass der Leiter oder das Kollegium dafür ein Zeitkontingent bekommen: Wie baut man eine Unterrichtsstunde auf, wie schreibt man ein Zeugnis, was sind Lernfelder? Dazu kommt die fachliche Qualifizierung. Im Grunde, sagt Rahmig, komme alles, was die Neulehrer benötigten, zu kurz: „Das Pädagogische, das Didaktische, das Fachliche.“

Mit Wucht hat der Lehrkräftemangel die Berufsschulen erreicht. Nahezu 22.000 zusätzliche Lehrkräfte werden nach Schätzungen der GEW bis 2025 bundesweit benötigt.

Berlinweit und über die Schultypen hinweg werden laut der Bildungsgewerkschaft bereits heute mehr als vier von zehn Lehrerstellen mit Quereinsteigern besetzt. Rahmig, selbst ehemaliger Referatsleiter in der GEW Berlin und heute Vorsitzender der Vereinigung der Leitungen berufsbildender Schulen in Berlin e. V.: „Der Berufsschulbereich ist nicht der einzige, den der Lehrkräftemangel trifft. Aber die Anforderungen sind immens.“

Um so überraschender, dass der Berufsschullehrermangel – anders als etwa jener an Grundschulen – kaum diskutiert wird. „Während die duale Ausbildung immer wieder im Fokus steht, kommt der schulische Teil sehr kurz“, konstatiert Michaela Kuhnhenne, die das Referat „Bildung in der und für die Arbeitswelt“ der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) leitet.

Wenn über Berufsschulen gesprochen werde, so Kuhnhenne, stehe meist das sogenannte Übergangssystem, also die Berufsvorbereitung im Vordergrund. Für die Hans-Böckler-Stiftung und die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) Anlass genug, innerhalb eines Projekts die „Berufsschule – Der schulische Teil dualer Ausbildung“ näher zu betrachten. Nach einem ersten Gespräch mit Praktikern – Rahmig zum Beispiel – und Wissenschaftlern wurden zwei Expertisen in Auftrag gegeben, die nun vorliegen: Eine zur Ausbildung von Lehrkräften, und eine, die den Blick auf die Bedeutung der Berufsschulen auch in der regionalen Wirtschaft legt.

In Sachen Lehrkräftemangel bestätigt der Berufs- und Wirtschaftspädagoge Dietmar Frommberger die Herausforderungen: „Die extreme Heterogenität der Schüler; die Herausforderungen, die mit der Inklusion auf die Schulen zukommen; die zu vermittelnden beruflichen Kompetenzen, die einem immens schnellen Wandel unterworfen sind. Die pädagogisch-didaktischen und fachlichen Anforderungen sind weitaus höher als für allgemeine Lehrkräfte“, so Frommberger.

Insbesondere bei gewerblich-technischen Fachrichtungen stünden der Personalbedarf der kommenden Jahre und die Zahl der Studienfänger sowie Absolventen in einem „prekären Missverhältnis“.

Seine Expertise schlägt eine Reihe Maßnahmen vor: verstärkte Werbung für den Beruf Berufsschullehrer, von dem zu viele laut Frommberger nur eine „diffuse Vorstellung“ hätten, ebenso wie das Bemühen um neue Zielgruppen: Frauen, Studierende aus zugewanderten Familien, Menschen, die ohne Abitur an die Hochschule kommen – sie alle sind in den Studiengängen deutlich unterrepräsentiert. Frommberger: „Dabei ist beispielsweise ein Meister oder Techniker, der sich noch einmal umorientieren will, doch prädestiniert für diesen Lehrerberuf.“

Eine Absage erteilt Frommberger Überlegungen, die Ausbildung durch Abstriche bei der pädagogisch-didaktischen und fachwissenschaftlichen Ausbildung zu entwerten: „Die berufliche Bildung bietet gute individuelle Entwicklungsperspektiven, genügt hohen Standards und verknüpft berufliche Praxis mit fundierten Fachinhalten. Dafür benötigen Lehrkräfte eine hohe Expertise. Davon abzurücken wäre völlig kontraproduktiv.“

Der Berufsbildungsforscher macht zudem auf ein doppeltes Problem aufmerksam: Während die Anforderungen spezieller werden, sinkt durch den demografischen Wandel und den Trend zur Akademisierung die Zahl der Auszubildenden in vielen Regionen. Das verändert auch die Bewerbungen und Zielgruppen in der Berufsbildung.

Das Resultat: Laut dem im Juni vorgestellten Nationalen Bildungsbericht von Bund und Ländern ging die Zahl der beruflichen Schulen in strukturschwachen Regionen von 2006 bis 2016 um 26 Prozent zurück. Längst findet Unterricht immer häufiger an weit entfernten Standorten im Blockunterricht statt, verbunden mit Internatsaufenthalten – das macht eine duale Ausbildung weder für Jugendliche noch für Arbeitgeber attraktiver.

In mehreren Bundesländern, Schleswig-Holstein zum Beispiel, ersetzen Regionale Bildungszentren (RBZ) die auf Fachrichtungen spezialisierten Schulen „Wir bilden in 64 Berufen aus – von der medientechnischen Assistentin bis zum Holzbildhauer“ erzählt Sven Mohr, Leiter des RBZ in Flensburg, der ebenfalls an dem HBS-FES-Projekt teilnahm.

Von 147 Klassen, die am RBZ unterrichtet werden, bietet keine dasselbe an wie eine andere. Mohr: „Angesichts des breiten Bildungsangebots, das nicht nur unsere Schule hat, muss man sagen: Im Grunde läuft es beeindruckend gut an den Berufsschulen, auch ihre Ausstattung ist nicht so schlecht wie in vielen allgemeinbildenden. Aber die Herausforderungen sind enorm.“

Um die Berufsschule zu stärken, plädiert die zweite von HBS und FES in Auftrag gegebene Expertise „Berufsschulen in der dualen Ausbildung und regionalen Wirtschaft“ dafür, sie als „gleichberechtigte Partnerin“ in der dualen Ausbildung wie auch in der regionalen Wirtschaft zu etablieren. Auch das ist eine doppelte Herausforderung – schließlich gehört sie sowohl zum Bildungs- wie auch zum Beschäftigungssystem. Die Berufsschule müsse „aufgewertet und besser ausgestattet werden“, fordert die Hamburger Forscherin Karin Büchter. Um das zu erreichen empfiehlt die Expertise unter anderem die Einbindung in regionale Netzwerke und Gremien.

Immerhin ist zurzeit mit Blick auf die oberste Bildungsverantwortliche im Bund nicht ausgeschlossen, dass den Berufsschulen künftig mehr Aufmerksamkeit zuteilwird: Anja Karliczek von der CDU hat sowohl eine Ausbildung zur Bankkauffrau als auch zur Hotelfachfrau absolviert. Und so konnte sie im Juni auf dem Jahreskongress des Berufsinstituts für berufliche Bildung (BIBB) mit einer bisher ungekannten Glaubwürdigkeit auftreten. Karliczek: „Was man mit einer dualen Ausbildung alles werden kann? Zum Beispiel Bundesbildungsministerin!“

Aufmacherfoto: Rolf Schulten

WEITERE INFORMATIONEN

Dietmar Frommberger und Silke Lange: „Zur Ausbildung von Lehrkräften für berufsbildende Schulen. Befunde und Entwicklungsperspektiven“, Working Paper Forschungsförderung 060, März 2018, HBS 2018

Karin Büchter: „Berufsschulen in der dualen Ausbildung und regionalen Wirtschaft. Gleichberechtigte Partnerschaft durch Reformen?“, Working Paper Forschungsförderung 059, März 2018, HBS 2018

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