zurück
Magazin Mitbestimmung

: Dicht dran an der Praxis

Ausgabe 04/2006

Die Umsetzung von Tarifverträgen stellt komplexe Anforderungen an die Unternehmen. Betriebsräte-Netzwerke befördern das Know-how - und zugleich den Kulturwandel hin zur Kooperation, weg vom Zentralismus.


Von Renate Hebauf.
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Frankfurt am Main.


Bei der Firma URACA im schwäbischen Bad Urach wird mit Hochdruck gearbeitet, und das nicht nur, weil die Auftragsbücher voll sind. Das mittelständische Unternehmen hat sich auf den Bau von Spezialpumpen und Hochdruck-Reinigungssystemen spezialisiert, die mit einem Druck von bis zu 3000 Bar auch noch die hartnäckigsten Verkrustungen wegfräsen. URACA-Pumpen stecken in Kanalreinigungsfahrzeugen, sie werden bei der Reinigung von Tankwagen gebraucht, bei der Haussanierung zum Entfernen alter Putze oder zur Kohleverflüssigung in der Schwerindustrie - einem Marktsegment, in dem die Schwaben weltweit führend sind.

Neben einer Tochtergesellschaft in Paris unterhält die kleine Firma Vertretungen rund um den Globus sowie Verkaufsbüros in Thailand und Abu Dhabi. Die Firma hat jetzt sogar einen Großauftrag in China an Land gezogen. Der chinesische Energiekonzern Shenhua hat sechs Riesenpumpen bestellt, die in der inneren Mongolei helfen sollen, Benzin aus Kohle herzustellen - der Auftragswert: rund 14 Millionen Euro.

Wer auf dem globalen Markt seine Position sichern will, der ist gut beraten, mit dem Know-how der Mitarbeiter sorgsam umzugehen, es beständig weiterzuentwickeln. Für die rund 300 Beschäftigten von URACA wird die Fort- und Weiterbildung systematisch geplant - etliche Beschäftigte haben bereits Computerschulungen absolviert und gelernt, wie man beispielsweise dreidimensionale Konstruktionen am Bildschirm macht. Doch das war nicht immer so.

Die Fort- und Weiterbildung richtete sich auch hier - wie in vielen anderen Unternehmen - nur am akuten Bedarf aus: "Wenn eine neue Maschine angeschafft wurde, sprach man mit dem jeweiligen Mitarbeiter und schickte ihn dann etwa zu einem Steuerungskurs", beschreibt Roland Rother, der Betriebsratsvorsitzende, die früheren Zustände. Wer welche Weiterbildung erhielt - das wurde einseitig von der Firmenleitung definiert.

Vom Tarifvertrag zum Personalplan

Heute geht es systematischer zu - und mit mehr Mitarbeiterbeteiligung. Grundlage für das neue Personalmanagement ist der Qualifizierungstarifvertrag, der im Jahr 2001 zwischen der IG Metall und den Arbeitgebern der baden-württembergischen Metall- und Elektroindustrie abgeschlossen wurde. Er garantiert allen Beschäftigten der Branche, dass einmal im Jahr ein Gespräch mit dem Vorgesetzten stattfindet, in dem Weiterbildungsmöglichkeiten und -bedarf erörtert werden. Aus einem solchen formalen Recht einen ordentlichen Qualifizierungsplan zu machen ist freilich noch einmal ein ganzes Stück Arbeit.

Dass dies gelang, verdankt Roland Rother nach eigenem Bekunden auch der Mitarbeit in einem neuartigen Branchennetzwerk der IG Metall in Baden-Württemberg, das im Juni 2002 von der Bezirksleitung und den Teilnehmern der IG-Metall-Maschinenbau-Konferenz, Betriebsräten aus der Branche, gegründet wurde.

Mit rund 150 Mitgliedern aus 70 Unternehmen, aber auch mit Blick auf seine Kontinuität und die Qualität der Arbeitsergebnisse ist dieses Branchennetzwerk inzwischen einzigartig. Ein Kernteam, rund ein Dutzend Betriebsräte, trifft sich zwei- bis dreimal jährlich und koordiniert die gesamte Arbeit - es existieren drei Untereinheiten, die sich um besonders wichtige Themen kümmern: Qualifizierung, Arbeitszeitkonten und Beschäftigungssicherung.

Roland Rother gehört zu den Gründern: Für ihn wie für viele seiner Kollegen war das Thema Weiterbildung bisher eher unbekanntes Terrain. Im Netzwerk konnte er sich mit Amtskollegen über gemeinsame Fragen dazu beraten: "Wie informiert und motiviert man die Belegschaft, welche Bündnispartner und Hilfsmittel gibt es, wie geht man vor?" Fragebögen, mit denen sich Beschäftigte auf das Qualifizierungsgespräch vorbereiten können, wurden auf ihre Praxistauglichkeit abgeklopft, neue Präsentationsformen für Betriebsversammlungen vorgestellt und auch Bausteine für eine Betriebsvereinbarung gemeinsam erarbeitet.

Eine neue Diskussionskultur

Das Branchennetzwerk ist Teil des Betriebsräte-Netzwerks der IG-Metall, zu dem auch das Netzwerk Gruppenarbeit gehört. Rolf Köhler, Betriebsratsvorsitzender bei der Firma Gehring in Ostfildern, lobt das Gesprächsklima: "Die kontinuierliche Arbeit, die sich auf die betrieblichen Probleme einlässt, ganz nah dran an der Praxis, ist etwas völlig Neues. Sonst laufen Gewerkschaftsveranstaltungen ja eher nach dem Schema: Einer weiß, wie es geht, und der sagt, was zu tun ist." Dagegen scheint die Atmosphäre im Netzwerk wesentlich ungezwungener. 

So lässt eine innerhalb des Netzwerkes getroffene Zielvereinbarung, zur Umsetzung des Qualifizierungstarifvertrags eine Betriebsvereinbarung abzuschließen, offen, wann dies geschehen soll. Eine Mehrheit der Betriebsräte entschied sich allerdings - wie Rolf Köhler - dafür, "nicht schon am Anfang alles abschließend zu regeln, sondern die Regelungen als Betriebsvereinbarung verbindlich zu machen, die sich in der Praxis bewähren."

Auch bei URACA entschied man sich für diesen Weg. In einer paritätisch besetzten Arbeitsgruppe und mit Unterstützung der Agentur Q, einem gemeinsamen Weiterbildungsträger der IG Metall und der Industrie, legten der Betriebsrat und die Geschäftsleitung fest, wie die Qualifizierungsgespräche im Betrieb konkret organisiert werden sollten. Mittlerweile gibt es ein festes Verfahren zur Bedarfserhebung und Planung der Fort- und Weiterbildung, das aus der Praxis heraus weiterentwickelt wird. Im April 2005 wurde bei URACA eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen, in die all diese Erfahrungen einbezogen wurden. Gleich danach begannen die Qualifizierungsgespräche.

"Wir haben es geschafft, dass 98 Prozent der Gespräche innerhalb von sechs Wochen in allen Abteilungen stattfanden", berichtet Roland Rother mit einigem Stolz. Auch URACA-Geschäftsführer Johann Amon, für den die gute Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat, wie er sagt, zur "guten Tradition" gehört, zeigt sich mit dem Ergebnis zufrieden: "Durch die Qualifizierungsgespräche wissen wir heute mehr über die Verzahnungen innerhalb des Hauses und darüber, wer welche Qualifizierung benötigt. So können wir effektiver weiterbilden."

Elmar Dannecker, Betriebsratsvorsitzender der Firma Trumpf im Stammwerk Ditzingen, gehört zum Kernteam des Netzwerkes. Mit einem Umsatz von 1,4 Milliarden Euro und 6100 Mitarbeitern weltweit, davon rund 1900 im Stammwerk, ist Trumpf der größte Werkzeugmaschinenbauer Europas. Dannecker kam zum Maschinenbau-Netzwerk dazu, weil er sein Know-how über Arbeitszeitkonten und Beschäftigungssicherung weitergeben wollte. "Wir hatten dazu sehr früh ein Modell entwickelt, das recht gut funktionierte", berichtet der Arbeitnehmervertreter.

Auf der Grundlage einer Umfrage der Bezirksleitung in der Branche entwickelten die Betriebsräte ein Regelsystem, das gemeinsame Ziele zur Gestaltung flexibler Arbeitszeiten formuliert - außerdem bewährte Grundsätze, wie Zeitkonten so gehandhabt und kontrolliert werden können, dass sie Beschäftigung sichern und die angesammelte Zeit nicht irgendwann verfällt. Eine Empfehlung etwa sieht vor, für die Kosten eine Belastbarkeit zwischen 100 und 250 Stunden nach oben oder unten zu vereinbaren - sowie Gespräche mit der Geschäftsleitung, sobald die kritischen Zeitlimits erreicht sind.

Der Anspruch war, anderen zu helfen und auch allgemeine Grundsätze und Überlegungen zur tarifvertraglichen Regelung von Zeitkonten beizusteuern. Seit 2004 sind Zeitkonten über den Manteltarifvertrag geregelt. Die Tarifverhandlungen zu Zeitkonten liefen parallel zur Arbeit der Netzwerkgruppe. Schon daran wird deutlich, dass das Netzwerk nicht nur einseitig funktioniert. Hier werden Tarifverträge nicht nur umgesetzt, sondern hier wird auch wichtige Vorarbeit geleistet.

Offizielle Positionspapiere der IG Metall sind die Ergebnisse des Netzwerkes freilich nicht - das erkennt man schon daran, dass sie strittige Punkte benennen, zum Beispiel ob die Zuflüsse auf die Arbeitszeitkonten zuschlagsfrei sein sollen oder nicht und ob Mehrarbeit stundenweise oder mit ganzen freien Tagen vergolten werden soll.

"Für mich war die Zusammenarbeit im Netzwerk eine Bestätigung, dass wir auf dem richtigen Weg sind", freut sich Elmar Dannecker - "wir haben dieses Frühwarnsystem zur Beschäftigungssicherung noch ausgebaut und führen regelmäßig Arbeitszeit-Bilanzgespräche mit der Geschäftsführung." Dabei, sagt er, kämen dann alle Daten und Kennziffern auf den Tisch: "Wir können die Ausgleichszeiträume der Situation entsprechend handhaben und besser planen. So konnten wir sogar noch zusätzliche Fachkräfte einstellen."



Im Internet
Arbeitsergebnisse und Material sowie Newsletter des Betriebsräte-Netzwerks findet man unter:
http://Brnetz.bw.igm.de


 


INTERVIEW "Die Entscheidungen fallen woanders"

Rainer Salm, Sekretär der IG-Metall-Bezirksleitung Baden-Württemberg, über die Vorteile von Netzwerken und ihr Zusammenspiel mit den traditionellen Gewerkschaftsgremien

Herr Salm, Sie haben das Betriebsräte-Netzwerk mit aufgebaut und koordiniert. Spielte auch das knappe Geld eine Rolle bei der Entscheidung der IG Metall, Netzwerke zu fördern?
Es gab eher eine qualitative, nicht direkt aufs Geld bezogene Überlegung: Wir haben strukturell steigende Ansprüche von Betriebsräten auf gewerkschaftliche Beratung, denen aber keine steigenden gewerkschaftlichen Ressourcen gegenüberstehen.

Was können Betriebsräte-Netzwerke, was Gewerkschaften und Betriebsräte bisher nicht konnten?
Sie ermöglichen eine Branchenarbeit, die Tarif- und Betriebspolitik verbindet. Das hilft, Tarifverträge umzusetzen - es dient aber auch der Abwehr von Dumping-Strategien der Arbeitgeber. Die Zusammenarbeit im Netzwerk schafft Vertrauen - unter den Betriebsräten, aber auch zur Bezirksleitung. Falls Betriebe gezwungen werden, die Arbeitszeit zu verlängern, können wir sie leichter zusammenholen und Absprachen treffen. Das ist dann aber keine Netzwerkarbeit mehr, sondern die klassische Koordination über das Tarifsekretariat im Bezirk.

Das Netzwerk hat aber Einfluss auf die Arbeit in den Tarifkommissionen?
Wir haben einen besseren Überblick. Bei den Zeitkonten etwa. Da haben wir durch die Umfrage im Netzwerk viel konkreter erfahren, was sich in den Betrieben entwickelt hat. Es gibt durchaus Wechselwirkungen zwischen der Bestandsaufnahme, der Entwicklung von bestimmten Grundsätzen oder Eckpunkten zur betrieblichen Gestaltung und der tariflichen Regulierung.

Zeichnet sich hier eine Wende in der Betriebspolitik ab - dezentrale Strukturen und Beteiligung statt Zentralismus?
Die Netzwerkarbeit ist auch eine Reaktion auf eine Trendwende im Ehrenamt - weg vom Sendungsbewusstsein, hin zur Nutzen-Orientierung. Es geht um einen strukturierten Erfahrungsaustausch. Die traditionellen Ebenen demokratisch legitimierter hierarchischer Koordinierung wie Tarifkommissionen oder Ortsvorstände sind aber weiter notwendig.

Was genau ist denn im Netzwerk anders als in diesen klassischen Gremien?
Die Kultur der Offenheit und Transparenz funktioniert auf der Basis, dass dies kein repräsentatives Entscheidungsgremium ist. Hier kann man offener ungeschützte Positionen vertreten und auch über Niederlagen und Probleme sprechen. Das ist ein großer Vorteil für die Betriebsräte, aber auch für uns. Doch die Entscheidungen fallen woanders - sie sollten den repräsentativen Gremien vorbehalten bleiben.

Konnten Sie neue Mitgliedergruppen einbinden? 
Ja, wir haben einen sehr großen Anteil an Betriebsratsvorsitzenden aus Klein- und Mittelbetrieben, von denen die Mehrheit nicht in den Ortsvorständen oder anderen Gremien sitzt. Wir sind auch offen für nicht tarifgebundene Betriebe.

Welche Rolle spielen Netzwerke für die Tarif- und Betriebspolitik der IG Metall?
Noch nicht die Rolle, die ich mir wünsche: die eines dritten Standbeins neben Betriebsräte-Qualifizierung und der Einzelbetreuung der Betriebe vor Ort. Es gibt Netzwerkansätze in vielen Bezirken, eine flächendeckende Strategiediskussion fehlt jedoch. In Baden-Württemberg werden wir die Netzwerke in den begonnenen Bereichen fortsetzen.

Bislang profitieren erst wenige Betriebe von der Netzwerkarbeit. Woran liegt das?
Das braucht Zeit. Wir sind jederzeit offen für neue Kollegen. Dadurch hat sich der Kreis von Netzwerkern erweitert: Die Adressenlisten wurden und werden immer noch größer. Im Zusammenhang mit der Umsetzung des Entgeltrahmenabkommens ERA greifen jetzt auch die Verwaltungsstellen die Netzwerkstrukturen stärker auf.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen