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Magazin Mitbestimmung

: „Der Trend geht dahin, sich stärker einzumischen“

Ausgabe 06/2011

INTERVIEW Der Dortmunder Wirtschaftswissenschaftler Martin Welge über das Spannungsfeld, in dem sich stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende bewegen

Die Fragen stellten MARGARETE HASEL, Redakteurin des Magazins Mitbestimmung, und JOACHIM F. TORNAU, Journalist in Kassel/Foto: Dirk Hoppe

Für eine Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung haben Sie Gespräche mit den stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden von 24 Unternehmen geführt. Wie nehmen diese „ranghöchsten Mitentscheider“, die die Arbeitnehmer in der Wirtschaft haben, ihre eigene Rolle wahr?
Es geht ihnen um eine konstruktive Überwachung und Begleitung des Vorstandes. Dabei mischen sie sich durchaus in die Vorstandsaufgaben ein. Strategische Themen – sie standen im Zentrum unserer Befragung – spielen eine zunehmend wichtige Rolle. In einigen Fällen haben Vorstand und Aufsichtsrat sogar gemeinsame Strategieklausuren durchgeführt, die über zwei oder drei Tage gingen. Das fand ich erstaunlich.

Sehen sich Ihre Gesprächspartner als Co-Manager?
Die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wandeln auf einem schmalen Grat und sind sich dessen bewusst: „Ziehen wir uns zurück auf eine reine Kontrollfunktion und vertreten dabei ausschließlich die Interessen der Arbeitnehmer? Oder übernehmen wir eine Art Co-Management-Rolle?“ Was die Strategieentwicklung für das Unternehmen angeht, halten sich die meisten unserer Gesprächspartner bislang noch zurück. Sie sagen: „Das ist nicht unsere Aufgabe, sondern die des Vorstands. Die Strategie sollte unter Zustimmungsvorbehalt stehen, und wir konzentrieren uns dann auf ein Strategiecontrolling.“ Der Trend geht aber dahin, sich stärker in das Geschehen einzumischen.

Warum?
Die Strategiefrage ist eminent wichtig für die Arbeitnehmerschaft. Zum Beispiel kann es darum gehen, ob ein neues Werk errichtet werden soll. Ob Produktion ins Ausland verlagert werden soll. Ob man ein neues Geschäft entwickeln möchte. Ob für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit die Kosten gesenkt werden müssen – oder doch eher die Qualität verbessert. Das sind typische strategische Fragen. Und wenn diskutiert wird, sich von einem bestimmten Geschäftsfeld zu trennen oder einen Standort aufzugeben, dann sind immer direkt Arbeitnehmerinteressen betroffen.

Wird die Einmischung auch dadurch beflügelt, dass der Deutsche Corporate Governance Kodex gute Unternehmensführung nicht mehr nur an den Interessen der Anteilseigner misst, sondern auch an den Bedürfnissen der Stakeholder – namentlich der Arbeitnehmer?
Wenn Stakeholder stärker berücksichtigt werden sollen, dann müssen sie auch im Strategieprozess eine wichtigere Rolle spielen. Deshalb halte ich es für eine sehr positive Entwicklung, wenn nicht mehr nur eine Strategie des Vorstands abgesegnet wird, sondern wenn es einen intensiven Dialog gibt und die Arbeitnehmerinteressen aktiv in den Prozess eingebracht werden.

Macht es dabei einen Unterschied, ob der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende ein externer Gewerkschaftsvertreter oder ein betrieblicher Vertreter ist?
Wichtig ist eine gute Mischung auf der Arbeitnehmerbank. Die Gewerkschaftsvertreter verfügen in der Regel über ausgezeichnete Branchenkenntnisse, während die betrieblichen Vertreter ein tiefes Verständnis für das Unternehmen mitbringen, in dem sie zum Teil schon seit Jahrzehnten beschäftigt und ausgezeichnet vernetzt sind. Aussagen zu Ihrer Frage lassen die Ergebnisse unserer Studie nicht zu.

Bereits vor fünf Jahren gab es an Ihrem Lehrstuhl eine ähnliche Untersuchung, in der Vertreter der Kapitalseite in Aufsichtsräten befragt wurden. Auf welche Unterschiede sind Sie gestoßen?
Für die Kapitalvertreter stehen der Unternehmenserfolg und die ökonomischen Kennzahlen im Vordergrund. Die Arbeitnehmervertreter orientieren sich eher am Erhalt von Arbeitsplätzen. Man kann aber nicht sagen, dass die Interessen völlig gegensätzlich sind. Beide Seiten wollen, dass das Unternehmen erhalten wird und dass es wächst. Ich hatte erwartet, dass die Interessen heterogener wären.

Stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende sind die „Nummer eins“ auf der Arbeitnehmerbank und als solche, wie Sie in Ihrer Studie zeigen, stark eingebunden in die interne Machtkommunikation mit Vorstand und Aufsichtsratschef. Da zerrt es an ziemlich vielen Enden.
Das ist ein Spannungsfeld. Stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende nehmen teil an den informellen Vorbesprechungen mit Vorstand und Aufsichtsratsvorsitzendem, die im Vorfeld der Sitzungen stattfinden und nach unserer Beobachtung eine sehr wichtige Rolle spielen. Das dient sicher der Erfüllung ihrer Aufgaben, weil sie dadurch mehr Informationen bekommen. Die Frage ist, wie dieser Informationsvorsprung genutzt und wie er an die Kollegen auf der Arbeitnehmerbank weitergegeben wird. Eine gewisse Informationsasymmetrie bleibt.

Sehen Sie die Gefahr einer Vereinnahmung für die Interessen des Vorstands oder des Aufsichtsratsvorsitzenden?
Bei unseren Gesprächspartnern habe ich nicht den Eindruck gewonnen, dass sie sich umklammert gefühlt hätten. Oder dass sie durch die Einbindung in das Netzwerk die Arbeitnehmerinteressen aus dem Blick verloren hätten.

Der vertrauliche Anruf auf dem Privat-Handy des Vorsitzenden dient der Qualität der Aufsichtstätigkeit?
Absolut. Es war grundsätzlich sehr erstaunlich, über wie viele Kontakte unsere Gesprächspartner verfügen. Einer hat, als ein Werk geschlossen werden sollte, gleich die Landesregierung mobilisiert, und das Thema wurde wieder zurückgedreht. Und einer hat gesagt: „Wenn mir was nicht passt, kann ich Frau Merkel anrufen.“ Außerdem haben vor allem die Betriebsräte – den direkten Draht ins Unternehmen hinein. Ihr Informationsnetzwerk ist sehr gut und wird auch erfolgreich genutzt. Allerdings hatten wir manchmal auch den Eindruck, dass der eigene Einfluss etwas, sagen wir mal, überhöht dargestellt worden ist.

Den informellen Bänkegesprächen, die Vorstandsmitglieder und Aufsichtsratsvorsitzender im Vorfeld von Aufsichtsratssitzungen mit den Vertretern der Arbeitnehmer führen, messen Ihre Interviewpartner eine herausgehobene Bedeutung bei. Hier werden die strittigen Fragen diskutiert. Welche Funktion bleibt der eigentlichen Aufsichtsratssitzung?
Aufsichtsratssitzungen sind oft so eng getaktet, dass für Gedankenaustausch und intensive Diskussionen kaum Zeit bleibt. Deshalb müssen Dinge im Vorfeld geklärt werden. Das ist sicherlich effizient. Andererseits ist ein Großteil der Aufsichtsratsmitglieder in den informellen Meinungs- und Willensbildungsprozess gar nicht eingebunden. Die müssen sich auf ihre Repräsentanten verlassen. Natürlich haben sie immer noch die Möglichkeit, Nachfragen zu stellen oder zusätzliche Auskünfte zu verlangen – und das tun sie auch.

Wo werden die Kompromisse ausgehandelt, die mitbestimmte Entscheidungen so belastbar machen?
Die Musik spielt eindeutig in den vorbereitenden Sitzungen. Hier kommen die Interessenkonflikte auf den Tisch. Die Aufsichtsratssitzungen sind – so lassen sich unsere Gespräche zuspitzen – Veranstaltungen für das Protokoll.

Das stärkt im Corporate-Governance-Gefüge die Position des Vorstands.
Ja – und die des Aufsichtsratsvorsitzenden. Der moderiert schließlich auch die informellen Gespräche.

Die stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden, die Sie befragt haben, sind mit diesem Ablauf zufrieden?
Im Wesentlichen geht es auch ihnen darum, dass die Aufsichtsratssitzungen harmonisch ablaufen und die Konflikte vorher entschärft werden. Ich würde das auch gar nicht negativ sehen: In den Vorbesprechungen werden Probleme ausführlich diskutiert. Kontroverse Themen, bei denen man sich nicht einigen konnte, können dann noch rechtzeitig an den Vorstand zurückverwiesen werden, bevor es zum Eklat kommt. Sie werden in einer späteren Sitzung behandelt, nach einer Überarbeitung. Die Arbeitnehmervertreter sind sehr an einem kooperativen Klima interessiert. Sie sind der Meinung, so ihre Interessen am besten durchsetzen zu können.

Sie konstatieren – im Vergleich zu Ihrer Studie von 2006 – eine Entwicklung von der vergangenheitsorientierten Kontrolle und der Fixierung auf Jahresabschlüsse, hin zu einer aktiveren Rolle des Aufsichtsrats. Woran liegt das?
Durch die Finanzkrise ist der Druck auf Aufsichtsräte gewachsen. Die Überwachungszyklen beispielsweise sind sehr viel kürzer geworden. Es reicht nicht mehr, sich buchhalterische Kennzahlen anzugucken, die nur die Vergangenheit abbilden. Vielmehr werden jetzt stärker qualitative Berichte, aber auch Informationen aus externen Quellen, beispielsweise von Wirtschaftsforschungsinstituten und Analysten, zur Bewertung herangezogen, um sich ein Bild zu machen von dem, was in der Zukunft passieren könnte.

Wie gehen Ihre Gesprächspartner mit dieser aktiveren Aufsichtsrolle um?
Sie sehen sich für die strategische Überwachung durchaus qualifiziert, betonen aber unisono die Bedeutung betriebswirtschaftlicher Kenntnisse.

Auch Unternehmensstrategien werden in immer kürzeren Abständen korrigiert, behaupten Ihre Gesprächspartner. Wie passt das zur geforderten Langfristperspektive einer Unternehmung?
Das ist nicht unbedingt ein Widerspruch. Hinter einer Strategie stecken immer bestimmte Annahmen. Je turbulenter das wirtschaftliche Umfeld ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Annahmen verändern und dass die Strategie angepasst werden muss. Das heißt nicht, dass die Strategien kurzfristiger werden, sondern bloß der Zyklus der Anpassung. Das Oberziel aller Interviewpartner war die nachhaltige Entwicklung des Unternehmens.

Wie wirkt es sich aus, wenn institutionelle Anleger wie Private-Equity-Firmen im Aufsichtsrat vertreten sind?
Da herrscht ein kühlerer Wind. Private-Equity-Investoren machen sehr harte Vorgaben für Performancedaten und setzen kurze Fristen. In vielen Fällen können diese Ziele nur erreicht werden, indem Arbeitsplätze abgebaut, Teile eines Unternehmens stillgelegt, Standorte reduziert werden. Das hat natürlich massiven Einfluss auf Arbeitnehmerinteressen. Dass das zu Konflikten führt, ist klar – vor allem mit amerikanischen Investoren, die das Prinzip der Mitbestimmung gar nicht kennen.

Umso erstaunlicher ist es, dass die Bereitschaft Ihrer Interviewpartner, zu harten Sanktionen zu greifen und einem Vorschlag des Vorstands die Zustimmung zu verweigern, kaum vorhanden ist.
In der juristischen Literatur heißt es immer, das scharfe Schwert, das der Aufsichtsrat in der Hand hält, sei die Zustimmungsverweigerung. Aber wenn Sie das ein- oder zweimal gemacht haben, können Sie den Vorstand eigentlich nur noch entlassen. Das Verhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat wäre zerrüttet. Das ist also nur ein theoretisches Instrument und in der Praxis nicht besonders tauglich. Wenn eine Vorlage vom Vorstand auf dem Tisch liegt, die so nicht akzeptiert werden kann, dann gibt man sie zur Überarbeitung zurück. Damit erreicht man im Grunde das Gleiche.

Gewerkschaften fordern für eine wirksame Aufsicht einen gesetzlichen Katalog an zustimmungspflichtigen Geschäften. Wie sehen das Ihre Gesprächspartner?
Sie waren mit ihren Katalogen zufrieden. Einen extremen Gegensatz zwischen Arbeitnehmer- und Kapitalbank konnten wir in dieser Frage in keinem Gespräch feststellen. Ich würde deshalb nicht an der Gesetzes-, sondern an der Qualifikationsschraube drehen: Wichtig ist, dass die Arbeitnehmervertreter auf Augenhöhe mit der Kapitalseite diskutieren können. Die Gewerkschaften und die Hans-Böckler-Stiftung mit ihren Schulungen und Fachseminaren für Aufsichtsräte sind da auf dem richtigen Weg.

Zur Person 

Martin K. Welge, Jahrgang 1943, ist Inhaber des Lehrstuhls für Unternehmensführung an der Technischen Universität Dortmund. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler ist Experte für internationales und strategisches Management sowie Corporate Governance. Neben seiner Hochschultätigkeit fungiert er als geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Professor Welge & Company, die auf Prüfung und Zertifizierung von Aufsichtsräten spezialisiert ist, und sitzt selbst im Aufsichtsrat des Baustoffherstellers Eternit AG in Heidelberg. Für die Hans-Böckler-Stiftung hält er Schulungen für Arbeitnehmer¬vertreter in Aufsichtsräten ab.

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