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 In Indien baden Gläubige im Fluss Yamuna. Das 1300 Kilometer lange Gewässer gilt als eines der am meisten verschmutzten der Welt. Auch niedrige Umwelt¬standards machen Produktion  in Asien günstiger. Magazin Mitbestimmung

Globale Arbeitsteilung: Das Gesetz der Lieferketten

Ausgabe 06/2021

Mit dem Kostenargument verlagerten Hersteller jahrelang ihre Produktion in Länder außerhalb Europas. Nicht eingepreist wurde die soziale und ökologische Nachhaltigkeit. Von Fabienne Melzer

Eben noch war es nur ein Skelett mit ein paar Kabeln. Wenige Stationen später ist es ein schicker Ledersitz, bereit, in den Wagen eingebaut zu werden, der im Werk von Daimler, sechs Kilometer entfernt, bereits durch die Montage läuft. 60 Autositze bauen die Beschäftigten bei Lear in Bremen stündlich zusammen – aus Teilen, die oft eine Weltreise hinter sich haben. Allein beim Lederbezug zählt der Betriebsratsvorsitzende Holger Zwick fünf Stationen auf dem Weg nach Bremen. „Es fängt mit der Kuh an, die irgendwo in Südamerika auf der Weide stand. Von der Schlachterei geht es in die Gerberei. In Ungarn wird das Leder zugeschnitten und in Rumänien oder Moldawien genäht. Zum Schluss beziehen wir damit den Sitz.“

Eine Kette von Gliedern, die sich rund um den Globus spannt. Solche Lieferketten können sehr fragil sein, wie die vergangenen Monate gezeigt haben. Auch der Autozulieferer Lear bekam das zu spüren. Als im September ein Schiff mit Teilen für die Autoproduktion in Malaysia im Lockdown festhing, standen bei Daimler in Bremen die Bänder still – und damit auch beim Hersteller der Autositze.

Hersteller bleiben skeptisch

Die Angst vor Materialengpässen und Produktionsausfällen gerade bei medizinischen Produkten hat die Diskussion um Lieferketten, ihre Stabilität und ihre Verkürzung in den vergangenen Monaten angeheizt. Die Bundesregierung will Anreize schaffen, strategisch wichtige Medikamente wieder in Europa zu produzieren. Doch die Hersteller bleiben skeptisch. So sagt Andreas Aumann, Pressesprecher des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie: „Solange Unternehmen, die in Deutschland und Europa produzieren, bei den Ausschreibungen der Krankenkassen mit Anbietern aus Fernost im Cent-Bereich mithalten müssen, ist es für viele Arzneimittelhersteller ökonomisch kaum möglich, ihre Produktion in Deutschland oder Europa aufzubauen.“

Für Antibiotika bezieht Deutschland zurzeit 80 Prozent aller Vorprodukte aus Fernost. Geringere Lohnkosten, Umwelt- und Sicherheitsstandards machten Standorte in Indien und China unschlagbar etwa für die Produktion generischer Arzneimittel.

Der Wettbewerb um niedrige Produktionskosten trieb die globale Arbeitsteilung jahrzehnte­lang an. Deutsche Unternehmen verlagerten die Herstellung von Vor- und Zwischenprodukten vor allem ins außereuropäische Ausland – und damit oft auch ihre Verantwortung. Erst im Sommer verabschiedete die Bundesrgierung ein Lieferkettengesetz, das Konzerne auch für soziale und ökologische Standards bei Zulieferern in die Pflicht nehmen will.

Das Recht, Standorte zu besuchen

Albert Kruft, Sekretär des Europäischen Betriebsrats beim Chemiekonzern Solvay, sieht durchaus positive Seiten der Entwicklung: „Die Globalisierung hat sicher mehr Wohlstand gebracht.“ Allerdings oft zulasten von Arbeitnehmerrechten, fairen Löhnen oder Umweltschutz in den Produktionsländern. Um den Dumpingwettbewerb auf Kosten von Mensch und Natur zu begrenzen, setzen Gewerkschafter wie Kruft auf globale Rahmenvereinbarungen, in denen sich die Unternehmen unter anderem verpflichten, Standards bei den Arbeitsbedingungen entlang der Wertschöpfung im eigenen Unternehmen, aber auch bei Zulieferern einzuhalten. Meist gehen solche Vereinbarungen über gesetzliche Vorgaben hinaus, wie die von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Analyse „Soziale Standards in Lieferketten“ zeigt: „Sie beziehen gewählte Arbeitnehmervertreter ein, etablieren Solidarität und Austausch zwischen den Produktionsstandorten und unterbinden so auch einen wirtschaftlichen Wettbewerb um die niedrigsten Sozialstandards.“

  • Holger Zwick, Betriebsrats¬vorsitzender Lear Bremen, nimmt das Firmenmotto ernst: „Together we win.“
    Holger Zwick, Betriebsrats­vorsitzender Lear Bremen, nimmt das Firmenmotto ernst: „Together we win.“
  • Ausbildung für die Produktion von Auto¬sitzen bei Lear in Bremen
    Ausbildung für die Produktion von Auto­sitzen bei Lear in Bremen.
  • Albert Kruft, Sekretär des Europäischen Betriebsrats bei Solvay, ist froh, dass es eine globale Rahmenvereinbarung mit dem Unternehmen gibt.
    Albert Kruft, Sekretär des Europäischen Betriebsrats bei Solvay, ist froh, dass es eine globale Rahmenvereinbarung mit dem Unternehmen gibt.

Solvay hat mit dem globalen Gewerkschaftsbund eine internationale Rahmenvereinbarung abgeschlossen, die auch Bestandteil der Verträge mit Lieferanten sein muss. Vor Corona besuchte der Betriebsrat jedes Jahr einen der weltweiten Standorte. „Wir fahren immer dorthin, wo es in der Vergangenheit Probleme gab“, sagt Kruft, „etwa Arbeitsunfälle oder ein Zutrittsverbot für Gewerkschaften.“ Auf diesem Weg kamen mexikanische Gewerkschaften zu Büros und E-Mail-Adressen im Unternehmen, und in Indien überzeugte man das Management davon, dass sich Gewerkschaften untereinander austauschen können. „Da lagen zwei Standorte nur 30 Kilometer voneinander entfernt, und die Gewerkschafter kannten sich nicht“, erzählt Kruft. Der Betriebsrat hat das Recht, die Standorte zu besuchen und mit den Beschäftigten sowie den Gewerkschaften vor Ort zu sprechen. Dennoch hängt nach Krufts Erfahrung viel von der Führung ab. „Wenn der CEO wechselt, fangen wir immer wieder von vorne an“, sagt Kruft. „Gut, dass wir die Verträge haben.“

Beim Autozulieferer Lear stoßen die Arbeitnehmervertreter dagegen auf großen Widerstand. „Auf dem Papier gibt es zwar gewisse arbeitsrechtliche Standards“, sagt Betriebsratschef Holger Zwick, „aber wir können sie oft nicht überprüfen, weil Gewerkschaften keinen Zugang haben.“ In Marokko etwa kommen sie nur mit Ankündigung des Managements in Betriebe. Entsprechend verlaufen solche Besuche, wie Jochen Schroth, Leiter des Bereichs Transnationale Gewerkschaftspolitik bei der IG Metall, aus Vor-Coronazeiten berichtet: „Als wir dort einen Betrieb besichtigten, haben uns die Betreuer hermetisch abgeschirmt, damit wir nicht mit den Beschäftigten sprechen können.“

Das reine Schielen auf die Lohnkosten kann unter Umständen teuer werden, wie die Pandemie gezeigt hat. Bei zukünftigen Standortentscheidungen könnte dieser Faktor nach Ansicht von Steffen Kinkel, Professor für International Business, vernetzte Wertschöpfung und Innovationsmanagement an der Hochschule Karlsruhe, mehr Gewicht bekommen. Er geht davon aus, dass für viele Hersteller die Resilienz von Lieferketten neben den reinen Kosten künftig eine größere Rolle spielen wird. Europäische Hersteller könnten höhere Kosten durch größere Zuverlässigkeit wettmachen. „Hier könnte für sie eine Chance liegen“, sagt Kinkel.

Um die Versorgung mit Schutzmasken und -kleidung in der Coronapandemie zu sichern, hatte die Bundesregierung im vergangenen Jahr den Aufbau heimischer Produktion mit Zuschüssen gefördert. Eine langfristige Versorgung garantieren solche punktuellen Maßnahmen nach ­Auffassung von Betriebsräten aus dem Maschinenbau, der Medizintechnik und der Pharmaindustrie nicht. In einer gemeinsamen Erklärung fordern sie von der Bundesregierung ein Gesamtkonzept, das die Erforschung und Produktion medizinischer Produkte in Europa über 2023 hinaus gewährleistet. Die staatliche Förderung müsse an Kriterien wie Gute Arbeit, Beschäftigungssicherung und das Erreichen von Klimazielen geknüpft werden.

Auto­zulieferer wie Lear sieht Jochen Schroth von der IG Metall allerdings noch immer unter enormem Verlagerungsdruck: „Zulieferer werden immer dort produzieren, wo es billiger ist“, sagt Schroth. Daran änderten bislang auch Störungen der Lieferketten nicht viel. Martina Fuchs, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialgeografischen Instituts der Universität Köln, untersuchte in einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie die Auswirkungen der Reaktorka­tastrophe in Fukushima 2011 auf die globale

Wertschöpfung und kam zu dem Schluss: „Lern­effekte in Bezug auf Outsourcing waren infolge der Katastrophe in Japan nicht festzustellen.“ Letztlich berichtete ein Betriebsrat, hing die Vergabe weiter vor allem an den Kosten.

Internationale Solidarität

Der Europäische Betriebsrat (EBR) von Lear wollte mehr über die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten außerhalb der Europäischen Union erfahren und lud zu seiner Sitzung im Mai 2019 auch Gewerkschafter aus Südafrika und Serbien ein. Das Management forderte den EBR auf, die Vertreter aus den beiden Nicht-EU-Ländern vom Austausch auszuschließen. Der EBR lehnte das einstimmig ab, und das Management verließ die Sitzung ohne ein Wort. Für Jochen Schroth ein Zeichen internationaler Solidarität: „Es zeigt, dass wir uns nicht auseinanderdividieren lassen.“ IG Metall und Betriebsrat wollen erreichen, dass alle Standorte der Organisationseinheit Europa-Afrika Vertreter in den EBR wählen können.

Betriebsratsvorsitzender Holger Zwick will den Konzern beim Wort nehmen: „‚Together we win‘, heißt das Firmenmotto“, sagt Zwick. „Together“, das geht für ihn nur mit allen Beschäftigten weltweit. Als Nächstes will der Betriebsrat eine Gesamtbetriebsvereinbarung zum Lieferkettengesetz aushandeln. Das Gesetz ist aus Sicht der Gewerkschaften ein Schritt zu besseren Arbeitsbedingungen und mehr Umweltschutz entlang der Lieferkette. „Aber ihm fehlt der Hebel, um es durchzusetzen“, kritisiert Zwick. „Das funktioniert nur über politischen Druck, auch über unseren Aufsichtsrat.“

Der Betriebsrat will weltweit anhand eines Indikatorenkatalogs und nach einem festgelegten Verfahren die soziale und ökologische Nachhaltigkeit prüfen. „Wir möchten, dass das, was Lear erzählt, auch tatsächlich passiert“, sagt Zwick.Vor allem von der ökologischen Nachhaltigkeit verspricht sich der Betriebsrat einen Vorteil. Mit den Lohnkosten in Osteuropa oder anderswo auf der Welt kann der Standort in Bremen nicht konkurrieren. Deshalb will der Betriebsrat die Lieferketten auch hinsichtlich ihres ökologischen Fußabdrucks prüfen. „Wir möchten gerne wissen, wie viel CO2 entlang der Lieferkette erzeugt wird“, sagt Zwick. Am Beispiel des Ledersitzes heißt das: Wie wurde die Kuh gehalten, mit welchen ökologischen Folgen? Wie geht die Gerberei mit Wasserverbrauch und Chemikalien um? Wie viel CO2 setzt der Transport frei? „Wenn auch diese Kosten ein Preisschild bekommen, können wir bei Verlagerungsplänen ganz anders diskutieren“, sagt Zwick. Damit kommt keine Produktion nach Deutschland zurück, aber die ein oder andere Verlagerung könnte vielleicht zu teuer werden und ausfallen.

Martina Fuchs: Risiken weltweiter Wertschöpfungsketten: Maßnahmen und Lernprozesse in deutschen Metallunternehmen nach der Katastrophe in Japan im März 2011. Working Paper No. 2011-01. Wirtschafts- und sozialgeografisches Institut der Universität Köln, Köln, Oktober 2011

Oliver Emons/Barbara Fulda/Ernesto Klengel/Marc Schietinger: Soziale Standards in ­Lieferketten. Ein Überblick über Instrumente und Ansätze. Forschungsförderung, Working Paper Nummer 207. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, März 2021

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