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Magazin Mitbestimmung

: Brüsseler Kompromiss

Ausgabe 01+02/2005

Welche Auswirkungen hat der Beschluss des Europäischen Rates für Wettbewerbsfähigkeit zur Fusionsrichtlinie auf die Mitbestimmung in deutschen Unternehmen?

Von Dietmar Hexel
Der Autor ist Mitglied des Geschäftsführenden DGB-Bundesvorstandes.

"EU verhindert den Export der deutschen Mitbestimmung". Mit kaum verhohlener Freude berichtet die konservative FAZ über den am 25. November 2004 im Rat der Europäischen Union beschlossenen Kompromiss zur Richtlinie über die grenzüberschreitende Verschmelzung von Kapitalgesellschaften. Gleichzeitig betont Bundeswirtschaftsminister Clement, dass es in den Verhandlungen gelungen sei, "die bestehenden Mitbestimmungsrechte weitgehend zu sichern". Wer hat jetzt eigentlich Recht?

Ein Blick in die Geschichte

Bereits am 8. Januar 1985 legte die Europäische Kommission einen Vorschlag über eine Richtlinie zur grenzüberschreitenden Verschmelzung von Kapitalgesellschaften (10. Richtlinie) vor. Wegen der ungelösten Auswirkungen auf die Mitbestimmung der Arbeitnehmer wurde der Vorschlag jedoch nie im Europäischen Parlament behandelt und schließlich im Jahr 2001 auch offiziell von der Kommission zurückgezogen.

Mit der Vorlage eines neuen Richtlinienentwurfes meldete sich die Kommission Ende 2003 zurück, nachdem im Jahr 2001 eine Lösung zur Mitbestimmung bei der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) gefunden werden konnte. Ihren neuen Vorschlag begründete die Kommission mit einer notwendigen Erleichterung von grenzüberschreitenden Fusionen. Anstatt auf teure und wenig transparente juristische Hilfskonstruktionen zurückgreifen zu müssen, solle den Unternehmen ein geeignetes Instrument zur Verfügung gestellt werden, das eine grenzüberschreitende Fusion zu den "bestmöglichen Bedingungen" ermögliche, heißt es im Richtlinien-Entwurf.

Das Interesse an Fusionen ist zeitgleich massiv angestiegen: Nach Angaben der Enquete-Kommission "Globalisierung der Weltwirtschaft" hat sich die Anzahl der Fusionen weltweit in den 90er Jahren von 9000 im Jahr 1990 auf 25000 im Jahr 1999 fast verdreifacht. Nach einer Abschwächung im Zuge des Zusammenbruchs des Neuen Marktes scheint die Fusionsfreude aktuell wieder zuzunehmen.

Der Kompromiss im EU-Rat

Der im Rat gefundene Kompromiss orientiert sich im Wesentlichen an der Verhandlungslösung der SE, sofern die verschmelzenden Gesellschaften über ein unterschiedliches Mitbestimmungsniveau verfügen oder eines der an der Fusion beteiligten Unternehmen mehr als 500 Beschäftigte hat. Verhandelt wird die Mitbestimmung im fusionierten Unternehmen zwischen dem Management sowie einem "besonderen Verhandlungsgremium" der Arbeitnehmer und Gewerkschaften.

Sollten diese Verhandlungen wider Erwarten scheitern, dann garantiert eine Auffanglösung, dass das weitestgehende nationale Mitbestimmungsniveau der Gründungsgesellschaften auch für das fusionierte Unternehmen gilt, vorausgesetzt, dass 331/3 Prozent der Beschäftigten vor der Fusion im Geltungsbereich dieses Gesetzes gearbeitet haben - wobei die Heraufsetzung des Schwellenwertes von 25 auf 331/3 Prozent eine gravierende Änderung gegenüber der SE darstellt.

Weiterhin wird EU-Staaten mit monistischer Leitungsstruktur (Board-System) - wie Schweden oder Großbritannien - die Möglichkeit eingeräumt, die Arbeitnehmerbeteiligung im Board auf ein Drittel festzulegen.

Darüber hinaus beinhaltet der Beschluss, dass die getroffenen Mitbestimmungsregeln auch bei nationalen Folgefusionen während einer Frist von drei Jahren nicht abgeändert werden dürfen.

Aus gewerkschaftlicher Sicht

Dieser Kompromiss fällt klar hinter die bei der SE bereits erreichten Standards der Beteiligung der Arbeitnehmer zurück. Völlig unverständlich ist insbesondere der unterschiedliche Schwellenwert für eine Auffanglösung beim Scheitern der Verhandlungen. Diese Lösung ist unsystematisch und könnte verzerrend auf das europäische Gesellschaftsrecht wirken: Immerhin ist die Fusion auch eine der Gründungsformen einer SE.

Als eine weitere Folge des Ratsbeschlusses wird die paritätische Mitbestimmung in fusionierten Unternehmen mit deutscher Beteiligung voraussichtlich nur noch dort gelten, wo der Sitzstaat des fusionierten Unternehmens ein dualistisches System (Vorstand und Aufsichtsrat) vorsieht - siehe Beispiel 1. Die vielfältigen Vorteile der paritätischen Mitbestimmung auf gleicher Augenhöhe drohen dadurch verloren zu gehen.
Weiterhin bewirkt die Heraufsetzung des Schwellenwertes der Auffanglösung eine Schwächung der Partizipation von Arbeitnehmern in deutschen Unternehmen, die mit einem deutlich größeren Partner fusionieren - siehe Beispiel 2.

Andererseits bleibt die in Deutschland geltende paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat auch für das fusionierte Unternehmen erhalten, wenn Management und Arbeitnehmer diese Lösung in Verhandlungen vereinbaren oder - beim Scheitern der Verhandlungen - wenn der Unternehmenssitz in einem EU-Staat mit dualistischem System liegt und das deutsche Unternehmen ursprünglich mehr als 331/3 Prozent der Arbeitnehmer beschäftigte - siehe Beispiel 3 und 4.

Der Erhalt der paritätischen Mitbestimmung in den Beispielen 3 und 4 kann vor dem Hintergrund der völlig unterschiedlichen Positionen in den einzelnen EU-Staaten durchaus als Erfolg angesehen werden. Immerhin konnten Bundesregierung und Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB) einen Schwellenwert von 50 Prozent verhindern, der von mehreren EU-Staaten, darunter Italien, angestrebt wurde.

Auch konnte der grundsätzliche Vorrang von Verhandlungen gegen einen von der niederländischen Präsidentschaft in letzter Minute eingebrachten Vorschlag verteidigt werden, der ein 50-Prozent-Quorum vor Aufnahme von Verhandlungen vorsah. Nach dem niederländischen Vorschlag sollte nur dann verhandelt werden, wenn mindestens 50 Prozent der Arbeitnehmer des fusionierten Unternehmens vor der Verschmelzung im Geltungsbereich einer Unternehmensmitbestimmung gearbeitet hätten. 

Der DGB erkennt an, dass ein besseres Verhandlungsergebnis angesichts der aktuellen politischen Lage im Wettbewerbsrat nicht zu erreichen war. Eine Ablehnung des Kompromisses durch die Bundesregierung hätte weit gravierendere Folgen für die Mitbestimmung in Deutschland gehabt. Dem Europäischen Parlament ist es natürlich unbenommen, im Rahmen des parlamentarischen Mitentscheidungsverfahrens weitere Verbesserungen in den Richtlinienentwurf aufzunehmen. Die Unterstützung des DGB wäre ihm gewiss.

Mitbestimmung - ein Standortvorteil in Europa

Wie die Beispiele zeigen, würde die paritätische Mitbestimmung großer deutscher Unternehmen unter bestimmten Bedingungen auch für ein fusioniertes Unternehmen in Europa gelten. Genau diesen Effekt fürchten allerdings BDA und BDI, die vor
einem "zwangsweisen Export" der deutschen Unternehmensmitbestimmung sprechen. Da allerdings "kein einziger europäischer Partner" das deutsche Mitbestimmungsrecht übernehmen wolle, benachteilige der Entwurf der Verschmelzungsrichtlinie die deutschen Unternehmen.

Für diese behauptete standortschädigende Wirkung der Mitbestimmung fehlt jegliche empirische Grundlage. Die internationalen Investoren zeigen nach allen vorliegenden Ergebnissen - beispielsweise des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung - für Mitbestimmung kein besonderes Interesse, erwarten von ihr jedenfalls keine Verminderung der Effizienz und ignorieren sie bei der Zusammenstellung und Bewertung ihres Portfolios.

Auch Sigurt Vitols, Wissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), kommt zu dem Ergebnis: "Wenn international tätige Unternehmen entscheiden, ob sie in Deutschland oder anderenorts investieren wollen, dann ist die Mitbestimmung ein eher nachrangiger Faktor in dem Entscheidungskriterienkatalog."

Umgekehrt gilt es gerade im globalen und europäischen Wettbewerb, die demokratische Teilhabe der Mitarbeiter als Standortvorteil zu nutzen. Ein rohstoffarmes Land wie Deutschland ist gut beraten, die Qualifikation von Arbeitnehmern in den Mittelpunkt einer Innovationsstrategie zu stellen. Mitbestimmung unterstützt den Innovationsprozess dabei auf vielfältige Weise.

So hebt beispielsweise Charles Handy, einer der großen europäischen Management-Philosophen hervor: "Mitbestimmungsgesetz und Kündigungsschutz […] schränken fraglos die Flexibilität des Managements ein. Dafür fördern sie aber auch den Gemeinschaftssinn und erzeugen jenes Sicherheitsgefühl, das Innovationen und Experimentierfreude ermöglicht; außerdem entstehen so genau die Loyalität und das Engagement, dank derer ein Unternehmen Krisen durchstehen kann."

Der DGB spricht sich entschieden und mit aller Kraft für einen Erhalt der vielfältigen nationalen Mitbestimmungskulturen aus. Insbesondere die anstehende 14. Richtlinie über eine grenzüberschreitende Verlegung des Unternehmenssitzes darf zu keiner weiteren Verschlechterung der Unternehmensmitbestimmung führen. Wir brauchen in Europa mehr Teilhabe und Arbeitnehmersouveränität und nicht weniger Mitbestimmung.

Beispiel 1

Ein deutsches Unternehmen mit paritätischer Mitbestimmung im Aufsichtsrat fusioniert mit einem schwedischen. Sitz des fusionierten Unternehmens ist Schweden. Das deutsche Unternehmen beschäftigte vor der Fusion mehr als 331/3 Prozent der gesamten Beschäftigten. Folge:
- Einigung über die Mitbestimmung auf dem Verhandlungsweg
- Bei Scheitern der Verhandlungen gilt die Auffangregelung. Wenn die Schweden allerdings von der Möglichkeit der Richtlinie Gebrauch machen, für diesen Fall die Sitze der Arbeitsnehmervertreter im Verwaltungsrat auf 1/3 zu begrenzen, gilt für das fusionierte Unternehmen die Drittelparität.

Beispiel 2

Ein deutsches Unternehmen mit paritätischer Mitbestimmung im Aufsichtsrat fusioniert mit einem österreichischen. In Österreich gilt ebenfalls das dualistische System. Das deutsche Unternehmen beschäftigte vor der Fusion 30 Prozent aller Arbeitnehmer. Das Sitzland ist für dieses Beispiel unerheblich. Folge:
- Einigung über die Mitbestimmung auf dem Verhandlungsweg
- Bei Scheitern der Verhandlungen sieht die Auffangregelung die in Österreich gültige Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer vor.
- Würde das fusionierte Unternehmen als SE gegründet, dann würde der Schwellenwert von 25 Prozent der Arbeitnehmer die paritätische Mitbestimmung in Deutschland als Auffanglösung bewirken.

Beispiel 3

Ein deutsches Unternehmen mit paritätischer Mitbestimmung im Aufsichtsrat fusioniert mit einem schwedischen. Sitz des fusionierten Unternehmens ist Deutschland. Das deutsche Unternehmen beschäftigte vor der Fusion mindestens 331/3 Prozent aller Arbeitnehmer. Folge:
- Einigung über die Mitbestimmung auf dem Verhandlungsweg
- Bei Scheitern der Verhandlungen gilt die deutsche Mitbestimmung als Auffanglösung.

Beispiel 4

Ein deutsches Unternehmen mit paritätischer Mitbestimmung im Aufsichtsrat fusioniert mit einem österreichischen. Das deutsche Unternehmen beschäftigte vor der Fusion mindestens 331/3 Prozent aller Arbeitnehmer. Das Sitzland ist für dieses Beispiel unerheblich. Folge:
- Einigung über die Mitbestimmung auf dem Verhandlungsweg
- Bei Scheitern der Verhandlungen gilt die deutsche Mitbestimmung als Auffanglösung.

Zum Weiterlesen

Deutscher Bundestag (Hrsg.): Schlussbericht der Enquete-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft. Opladen 2002. S. 160 ff.
Roland Köstler: Rückfall hinter erreichte Standards, in: Magazin Mitbestimmung 9/2004. S. 53 ff.
Stellungnahme des DGB-Bundesvorstandes, Abteilung Mitbestimmung und Rechtspolitik, zu dem Bericht der "Kommission Mitbestimmung" von BDA und BDI, November 2004, im Internet veröffentlicht unter: www.dgb.de; Themen A-Z, Stichwort Mitbestimmung
Martin Höpner: Unternehmensmitbestimmung unter Beschuss: Die Mitbestimmungsdebatte im Licht der sozialwissenschaftlichen Forschung. Discussion Paper 04/8 des Max-Planck-Institutes für Gesellschaftsforschung, 2004
Sigurt Vitols: Investitionshindernis als Drohkulisse, in: Magazin Mitbestimmung 12/2004. S. 47 ff. Der Beitrag enthält weitere interessante Literaturhinweise.
Charles Handy: Wofür arbeiten wir? In: Harvard Business Manager 3/2003. S. 96 ff.

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