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US-Ökonom Branko Milanović über Ungleichheit im Weltmasstab und darüber, warum die Mittelklasse in den Industrieländern derzeit der Verlierer ist. Magazin Mitbestimmung

Die Fragen stellte ANNETTE JENSEN: Branko Milanovic: „Irgendjemand zahlt immer die Rechnung“

Ausgabe 12/2017

Interview Der US-Ökonom Branko Milanović über Ungleichheit im Weltmaßstab und warum die Mittelklasse in den Industrieländern derzeit der Verlierer ist.

Die Fragen stellte ANNETTE JENSEN

Sie haben ein Instrument entwickelt, um Einkommensunterschiede weltweit vergleichbar zu machen. Was sind die Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre?

Wir haben weltweit Daten erhoben, was neu ist. Da zeigen sich zwei zentrale Trends: In den meisten Ländern sind die Einkommensunterschiede in den vergangenen 20 Jahren gewachsen. Das trifft auf reiche Länder zu wie die USA, Großbritannien, Deutschland oder Schweden, aber auch auf Indien, China und Russland. Andererseits ist die globale Ungleichheit gesunken aufgrund der sehr hohen Wachstumsraten in China und Indien. Ende der 1980er Jahre waren sie arm, jetzt zählt China zur Mitte; das ist die große Transformation.

Wie sieht es aus, wenn man China und Indien herausrechnet?

Das würde bedeuten, 40 Prozent der Weltbevölkerung auszublenden. Wenn man das tut, hat die weltweite Ungleichheit weiter zugenommen: Die reichen Länder sind reich geblieben und der Abstand zu vielen armen Ländern ist noch größer geworden.

Es gibt viele Programme gegen Armut, aber Ungleichheit wird selten thematisiert. Warum?

Armut lässt sich viel einfacher definieren und die Instrumente zur Armutsbekämpfung sind klar. Dagegen ist es viel komplexer, Ungleichheit zu reduzieren. Da geht es um Mindestlöhne, Zugang zu Bildung, Steuersätze, soziale Transferleistungen. Und: Reiche Leute finden es gut, wenn ihr Name im Zusammenhang mit Armutsbekämpfung genannt wird – nicht aber mit Ungleichheit, weil dann sofort Gerechtigkeit und die Höhe ihres eigenen Einkommens im Raum stehen. Der Sänger Bono ist zur Armutsbekämpfung um die ganze Welt gereist und hat gleichzeitig sein Geld in Steueroasen versteckt, wie wir jetzt aus den Paradise Papers wissen.

Wen würden Sie als reich definieren?

Wer im eigenen Land reich ist, ist es weltweit vielleicht nicht – und umgekehrt. Selbst die sehr armen Bevölkerungsgruppen in reichen Ländern gehören weltweit zum oberen Viertel oder sogar Fünftel auf der Einkommensskala, weil sie in der Regel irgendeine Form von Unterstützung vom Staat bekommen. Zugegebenermaßen ist die globale Ungleichheit ein sehr abstraktes Thema, weil es auf dieser Ebene keine Regierung gibt.

Neoklassische Ökonomen gehen davon aus, dass freie Märkte das Einkommensniveau für alle Menschen auf lange Sicht heben werden. In China und Indien gelten mehrere Hundert Millionen Menschen inzwischen als Mittelschicht. Sind sie die Vorreiter?

Ökonomen sehen einige Belege dafür, dass sich die Einkommen automatisch nach und nach annähern werden; ich glaube, dass es in diese Richtung geht. In Asien hat es eine epochale Transformation gegeben. Vor einem halben Jahrhundert noch ging der Nobelpreisträger Gunnar Myrdal davon aus, dass wirtschaftliche Entwicklung in Asien durch die große Anzahl an Menschen und die verbreitete Armut verhindert wird. Genau das Gegenteil ist eingetreten. Die Wachstumsraten in China sind beispiellos. Ich glaube, dass diese Entwicklung in diesem Jahrhundert auch nach Afrika überschwappt.

Ist die Mittelschicht in China und Indien vergleichbar mit diesen Gruppen in den USA und Europa?

Gemessen am Einkommensstandard westlicher Länder sind diese Menschen arm – in ihren Ländern gehören sie zur Oberklasse. Wir sollten unterscheiden zwischen westlicher Mittelklasse und globaler Mittelklasse – da gibt es große Unterschiede, aber sie nähern sich langsam an.

Wovon gehen sie aus bezüglich der EU: Werden die Einkommensunterschiede zwischen den Ländern perspektivisch sinken?

Wir haben gesehen, dass die süd- und osteuropäischen Länder sich zumindest nach dem Beitritt einkommensmäßig an das Niveau der älteren Mitglieder angenähert haben. Rumänien ist heute die am stärksten wachsende Volkswirtschaft in Europa. Daran sieht man, dass der freie Austausch von Kapital, Waren und Arbeitskräften zu einer Annäherung der Einkommensverteilung zwischen Ländern führt. Wenn wir eine solche Entwicklung weltweit hätten, hätten wir in 100 Jahren eine wesentlich bessere Welt als heute.

Sie sind ja sehr optimistisch.

Ja. Aber es ist nicht einfach, eine solche Entwicklung in Gang zu bringen – und es gibt ja auch gegenläufige Tendenzen. Durch die globale Arbeitsteilung geht das Wachstum in vielen ärmeren Ländern auf Kosten der Mittelschichten in den reichen Ländern. Sie schrumpfen; einige Gruppen steigen ab.

Der Titel dieses Kongresses ist die Krise der Globalisierung. Was ist aus ihrer Sicht die Essenz der Krise?

Die Krise der Globalisierung ist vor allem eine Krise für bestimmte Bevölkerungsgruppen in reichen Ländern. In einer weltweiten Untersuchung zur Globalisierung gab es die höchsten Zustimmungswerte in Asien und insbesondere in Vietnam. Niedrig war die Zustimmung dagegen in Europa und hier insbesondere in Frankreich. Das hat Gründe, aber wir sollten nicht für die ganze Welt annehmen, dass Globalisierung mit Krise assoziiert wird.

Sehen Sie kein Problem in den ökologischen Auswirkungen der Globalisierung?

Ich weiß nicht viel über Ökologie und Klimawandel. Aber wenn es tendenziell eine Annäherung der Einkommens gibt und vor allem arme Länder reicher werden, dann werden sicher auch die Produktionsmethoden sauberer werden.

Was bedeuten die Trends für Deutschland?

Deutschland ist ein Erfolgsfall – hohe Exportraten, die wichtigste Volkswirtschaft in Europa. Aber im Ausland wird kaum wahrgenommen, dass die unteren Einkommensgruppen in Deutschland wenig profitiert haben und die Löhne am unteren Ende stagnieren. Das Gleiche gilt für Frankreich. Daraus erwächst die Frage, ob die Unzufriedenen politische Veränderungen durchsetzen können. Der Brexit, die AfD, die sehr große Zustimmung zu Le Pen in Frankreich – all das ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Auch der Wahlerfolg von Trump in den USA hat aus meiner Sicht wirtschaftliche Ursachen und ist nicht kulturell begründet.

Sie schreiben, dass das Einkommen eines Menschen zu 80 Prozent davon abhängt, in welchem Land er geboren ist und aus welcher Familie er oder sie stammt. Hinzu kommen als Faktoren Geschlecht und Glück. Die eigenen Leistungen einer Person sind dagegen fast irrelevant. Sehen Sie einen institutionellen Hebel, der das ändern könnte?

China, Indien und Vietnam haben in dieser Beziehung viel mehr erreicht, als irgendeine internationale Institution erreichen könnte. Das heißt aber nicht, dass internationale Organisationen grundsätzlich unwichtig sind. Ich meine: Entscheidend ist die Bewegungsfreiheit von Menschen. Wer zum Beispiel in Ostdeutschland lebt, verdient in der Regel weniger als in Westdeutschland – aber er hat ja immerhin die Chance umzuziehen. Wer in Mali, im Kongo oder Nicaragua geboren ist, hat da weniger Möglichkeiten.

Welche Migrationspolitik halten Sie für sinnvoll?

In der Flüchtlingsfrage müsste die Europäische Union eine viel stärkere Rolle spielen. Sie müsste den afrikanischen Ländern helfen, ihre Infrastruktur signifikant zu verbessern, weil die Instabilität sonst immer weiter zunimmt. 60 Prozent des globalen Bevölkerungswachstums findet in Afrika statt, und die Einkommensunterschiede zwischen den nördlichen und südlichen Ufern des Mittelmeers sind so extrem, dass es ausgeschlossen ist, Migration auf Dauer zu unterbinden. Die EU braucht eine langfristige Strategie – und muss sofort anfangen, damit sich in fünf Jahren Lösungen abzeichnen.

Welche Perspektive sehen Sie für die europäischen Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen?

Es liegt in der Natur der Globalisierung, dass die Menschen in den reichen Ländern auf einem globalisierten Arbeitsmarkt absteigen. In Deutschland oder Österreich müssen die Arbeiter mit Beschäftigten in Ländern konkurrieren, die nicht weit entfernt liegen und wo die Löhne nur ein Drittel dessen betragen, was in Deutschland und Österreich verdient wird. Die Nationalstaaten müssen dafür sorgen, diesen Leuten zu helfen – denn niemand sonst ist dazu in der Lage. Die Gewerkschaften stecken in einem Dilemma: Einerseits wollen sie ihre Mitglieder schützen und sie sehen den Rechtsruck in vielen europäischen Ländern. Auf der anderen Seite sehen sie die Situation der Flüchtlinge, die zum Teil aufgrund der internationalen Ungleichheit nach Europa kommen.

Was raten Sie den deutschen Gewerkschaften? Sollten die sich stärker internationalisieren?

Die Gewerkschaften müssen die Rechte ihrer Mitglieder verteidigen. Wenn sie erfolgreich sind, geht das auf Kosten von Arbeitsplätzen anderswo. Irgendjemand zahlt immer die Rechnung. Was die Internationalisierung angeht: Ich sehe keinen Weg, wie sie wirklich sinnvoll und intensiv zusammenarbeiten können. Eine rumänischen Gewerkschaft hat ein anderes Interesse als eine deutsche, wenn es darum geht, ob eine Produktion verlagert wird oder nicht. Entweder profitiert der eine oder der andere; einen sinnvollen Kompromiss sehe ich nicht.

Halten sie das Konzept von Nationalstaaten mittelfristig für überholt?

Der Arbeitsmarkt ist inzwischen globalisiert, aber wir sind politisch und emotional orientiert auf den Nationalstaat. Von der Infrastruktur über Politik und Steuern bis hin zu den Gewerkschaften – alles ist national organisiert. Zwar sind Nationalstaaten eine historisch relativ junge Entwicklung. Trotzdem glaube ich nicht, dass wir in diesem Jahrhundert ernsthaft über ihr Verschwinden nachdenken müssen.

Aufmacherfoto: Rolf Schulten

 

WEITERE INFORMATIONEN

Branko Milanović, 1953 in Belgrad geboren, ist Professor in New York und hat fast 20 Jahre lang als leitender Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank gearbeitet. Einkommensunterschiede und ihre Ursachen sind seit jeher sein zentrales Thema. Bereits seine Dissertation schrieb er über soziale Ungleichheit im damals noch existierenden Jugoslawien, inzwischen fokussiert er sich auf die globale Ebene. 2017 erschien in Deutschland sein Buch „Haben und Nichthaben. Eine kurze Geschichte der Ungleichheit“ im Theiss-Verlag.

21. Forum für Macroeconomics and Macroeconomic Policies

Das Interesse war so groß wie noch nie: Mehr als 450 Volkswirte aus aller Welt und damit 50 Prozent mehr als sonst kamen im November zur dreitägigen Jahrestagung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Thema diesmal: „Die Krise der Globalisierung.“ Die Veranstaltung gilt als der zweitwichtigste akademische VWL-Kongress in Deutschland und fand zum einundzwanzigsten Mal statt. Wie ein Magnet wirkten das brisante Leitthema wie auch die Vorträge hochkarätiger Ökonomen. „Eine zentrale Erkenntnis der Konferenz war, dass Globalisierung zum Wohle der arbeitenden Bevölkerung nur funktionieren kann, wenn sie strikt reguliert wird und die Gewinne zur Bewältigung der Strukturprobleme eingesetzt werden“, zog IMK-Wissenschaftler Sebastian Gerchert eine Bilanz.

Dokumentation der Veranstaltung

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