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Magazin Mitbestimmung

Rückblick: Betriebsräte – ein starkes Stück Demokratie in der Wirtschaft

Ausgabe 06/2012

Betriebsräte stellen sich alle vier Jahre der Wahl, früher sogar jedes Jahr. Das schafft Vertrauen und Verbindung zur Belegschaft. Nicht nur deshalb sind sie ein Pfeiler unserer Demokratie. Von Werner Milert

Die Betriebsräte sind die Pioniere, die das Fundament zum demokratischen Deutschland bauen sollen“, ermuntert Betriebsratsvorsitzender Fritz Kraft seine Kollegen, als er am 9. Juli 1945, wenige Wochen nach Kriegsende, die erste Betriebsratssitzung bei der späteren Salzgitter AG eröffnet. In der britischen und der amerikanischen Besatzungszone waren Erlasse ergangen, die geheime Wahlen für die Belegschaftsvertretungen vorsahen. Die im Herbst 1945 auf dieser Grundlage einsetzenden Betriebsratswahlen waren für einen Großteil der Bevölkerung nach zwölf Jahren faschistischer Diktatur die erste Möglichkeit zu einer freien Willensbekundung. Die wieder entstehende Demokratie in Deutschland wuchs gleichsam aus den Betrieben. Bereits Ende 1945 saßen in den meisten Industriebetrieben demokratisch legitimierte Belegschaftsvertreter den Unternehmensleitungen gegenüber.

Arbeitnehmer wie Fritz Kraft, die als betriebliche Interessenvertreter Verantwortung übernahmen, waren in der Regel „Weimarer Veteranen“, die schon vor 1933 gewerkschaftlich aktiv gewesen waren, oft auch als Betriebsrat. Auch die Unternehmer knüpften an die Weimarer Zeit an. Das Modell des Betriebsrätegesetzes von 1920 bildete die gemeinsame Blaupause für den betrieblichen Neuanfang im Nachkriegsdeutschland.

PIONIER DER MITBESTIMMUNG

Die Reichsarbeitsminister, die das Gesetz samt Ergänzungen auf den Weg gebracht hatten, stammten aus den Reihen der freien oder christlichen Gewerkschaften: Gustav Bauer, Alexander Schlicke und Heinrich Brauns. Eine Leitidee des damaligen Gesetzes war die doppelte Loyalität der Belegschaftsvertretung gegenüber der Belegschaft und dem Betrieb, was im Übrigen bis heute gilt. Vom Betriebsrätegesetz von 1920 gingen wesentliche demokratiepolitische Impulse aus. Heiß umstritten war, ob die Belegschaftsversammlung das Recht erhalten sollte, den Betriebsrat jederzeit durch Mehrheitsbeschluss abzusetzen, letztlich siegte aber 1920 das gewerkschaftliche Repräsentationsprinzip über das rätedemokratische Versammlungsprinzip. Wobei die Abkehr von den Prinzipien der direkten Demokratie und des imperativen Mandats erst die Voraussetzung schuf für die Institution des Betriebsrats in seiner Doppelfunktion.

Diese verlangt es geradezu, dass er – in Abwägung zwischen Belegschaftsinteressen und Betriebswohl – den Spielraum für ein selbstverantwortliches Handeln besitzen muss. Als Korrektiv verankerte der Gesetzgeber im Betriebsrätegesetz von 1920 die einjährige Amtszeit. Der jährliche Wahlrhythmus sollte eine Verselbstständigung von der Belegschaftsbasis verhindern, gab den Gewählten aber auch einen stets zu erneuernden Vertrauensbonus für die Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber. Und die Betriebsversammlung sollte die Bühne bilden, auf der sich die Belegschaftsvertretungen der Basis gegenüber rechtfertigen konnten.

Demokratiepolitisch nicht unbedeutsam war der Bildungsaspekt: Das Betriebsrätegesetz gab der Arbeiterbildung lebhafte Impulse. Mit einem Schlag verlangten mehrere Zehntausend gewählte Belegschaftsvertreter nach einer Ausbildung, die sie für ihr Wahlamt qualifiziert. Neben den gewerkschaftlichen Bildungsanstrengungen wuchs ein Verbund städtischer und (halb-)staatlicher Bildungsanstalten heran, die sich der Arbeiterbildung widmeten – von den Volkshochschulen bis zur Akademie der Arbeit in Frankfurt. Dominierte vor dem Betriebsrätegesetz noch die proletarische Gesinnungsvermittlung, so rückte nun die systematische fachliche Aus- und Weiterbildung des arbeitenden Betriebsrates in den Vordergrund – einschließlich der nötigen sozialen Kompetenzen. So nahm die Betriebsräteschulung, die das Betriebsrätegesetz der Weimarer Republik bewirkte, viele Elemente der modernen Weiterbildung vorweg.

Damit waren die Grundlagen gelegt, an die Frauen und Männer wie der Salzgitterer Betriebsrat Fritz Kraft anknüpften, um nach 1945 am Fundament des demokratischen Deutschlands zu bauen. Bei ihrer Gründung war die Bundesrepublik in puncto Mitbestimmung ein rechtlicher Flickenteppich. Denn unmittelbar nach Kriegsende regulierten die Alliierten die Befugnisse der Betriebsräte in ihren Besatzungszonen jeweils anders – bis das Betriebsverfassungsgesetz dieses Rechtschaos beendete.

Dessen Verabschiedung empfanden die Gewerkschaften jedoch als schwere Niederlage. Für sie war die Mitbestimmung der Betriebsräte eher von nachrangiger Bedeutung gegenüber der Mitbestimmung in der Gesamtwirtschaft und im Unternehmen, was dem wirtschaftsdemokratischen Konzept des DGB zur gesellschaftlichen Neuordnung Deutschlands entsprach. Dazu gehörten die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat und ein gewerkschaftlich verbundener Arbeitsdirektor im Vorstand. Doch der DGB scheiterte mit dem Versuch, bei der Abfassung des Betriebsverfassungsgesetzes im Frühjahr 1952 der Unternehmensmitbestimmung – über den Montanbereich hinaus – zum industrieweiten Durchbruch zu verhelfen. In langen parlamentarischen Beratungen gelang es der Industrie vor allem mithilfe der FDP, ihre Positionen durchzubringen. Gewerkschaftliche Protestaktionen wie ein bundesweiter Zeitungsstreik brachten Adenauer zwar zu dem Zugeständnis neuer Gespräche mit dem DGB, aber diese blieben ergebnislos, die Gewerkschaften sollten nur noch hingehalten werden.

MITBESTIMMUNGSPOLITISCHER SCHERBENHAUFEN

Am 19. Juli 1952 verabschiedete der Bundestag das Betriebsverfassungsgesetz gegen die Stimmen von SPD und KPD. Der DGB war mit seinem Neuordnungskonzept gescheitert und stand Ende 1952 vor einem mitbestimmungspolitischen Scherbenhaufen: Die Idee der überbetrieblichen Mitbestimmung wurde in der Politik nicht weiterverfolgt, die paritätische Unternehmensmitbestimmung blieb auf die Montanindustrie beschränkt, und das Betriebsverfassungsgesetz enthielt nicht viel mehr Gestaltungsraum für die Belegschaftsvertretungen als das Weimarer Betriebsrätegesetz von 1920. Das Gesetz bedeutete auch das Ende der einheitlichen Vertretung aller Arbeitnehmer, die seit dem Betriebsrätegesetz bestanden hatte: Der öffentliche Dienst wurde aus dem Geltungsbereich ausgeschlossen. Was für die Gewerkschaften besonders schwer wog: Ein Zutrittsrecht zum Betrieb wurde ihnen nicht ausdrücklich eingeräumt, der Gesetzgeber sah für sie lediglich einige Beratungs- und Unterstützungsfunktionen für den Betriebsrat vor.

Danach folgte ein Kampf um die Betriebsräte. Die Unternehmer wollten die Vision der Betriebsgemeinschaft der 1920er Jahre mithilfe der Betriebsräte reaktivieren und starteten eine Integrationsstrategie gegenüber den Betriebsräten in einer Phase der tarifpolitischen Schwäche und (gesellschafts-)politischen Neuorientierung der Gewerkschaften. Die Arbeitnehmerorganisationen wollten die Belegschaftsvertretungen mit dem Aufbau eines betrieblichen Vertrauensleutesystems wieder „vergewerkschaftlichen“. Beide weigerten sich, die Doppelaufgabe des Betriebsrats – als Interessenvertreter der Arbeitnehmer und der Wirtschaftlichkeit des Betriebes – zu akzeptieren.

Doch nach einem Jahrzehnt praktischer Arbeit in den Betrieben hatten alle Akteure ihre Rolle akzeptiert: Vor allem die großindus­triellen Arbeitgeber bekannten sich zu der von ihnen nun hochgepriesenen „Sozialpartnerschaft“, und die Gewerkschaften erkannten die Betriebsräte uneingeschränkt an als die zentralen gewerkschaftlichen Akteure auf der Betriebsebene.

ALLE VIER JAHRE VERTRAUENSPROBE

Dass die Institution der Betriebsräte ein lebendiges Laboratorium der Demokratie ist, wird in vielfacher Hinsicht deutlich: Da war einmal die bis zum Jahr 1952 geltende einjährige Amtszeit des Betriebsrats, die erst seit dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 sukzessive auf mittlerweile vier Jahre verlängert wurde, was den Boden für die Professionalisierung der Betriebsräte gebildet hat.

Dennoch hat dies generell nicht zu einer Entfremdung zwischen Belegschaftsbasis und Vertretung geführt, was man an der gleichbleibend hohen Beteiligung an Betriebsratswahlen mit rund 80 Prozent ablesen kann, die weit höher liegt als bei politischen Wahlen. Auch die über die letzten Jahrzehnte annähernd konstante Zahl von einem Drittel neu gewählter Betriebsräte zeigt, dass von einer Verknöcherung des Gremiums nicht die Rede sein kann, eher von einem kontinuierlichen Zustrom von Nachwuchs, der zu einer gelungenen Mischung von alten, bewährten und neuen Belegschaftsvertretern führt. Vielleicht liegt dies auch an der starken persönlichen Bindung zwischen Wählern und Amtsinhabern, die ja auch bei den vierteljährlichen Belegschaftsversammlungen Rechenschaft über ihre Arbeit geben.

Die Demokratie-Vorreiterfunktion der Belegschaftsvertretung illustriert auch die frühe Gleichberechtigung der Frauen. Bei den Wahlen zu den Arbeiterausschüssen, den Vorläufern der Betriebsräte vor dem Ersten Weltkrieg, besaßen Frauen das aktive und passive Wahlrecht, lange bevor sie es 1919 auf der politischen Ebene erstreiten konnten. Dies war ein geschlechterpolitischer Durchbruch, auch wenn es nicht hat verhindern können, dass das Amt des Betriebs­rates lange Zeit eine Domäne der Männer blieb. Erst bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes von 2001, die von Arbeitsminister und Ex-IG-Metall-Vize Walter Riester umgesetzt wurde, hat man daraus die Konsequenz gezogen, dass der Anteil der Betriebsrätinnen dem betrieblichen Frauenanteil entsprechen muss.

Ähnliches gilt auch gegenüber den ausländischen Mitarbeitern. Das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 gab ihnen bei den Betriebsratswahlen ein aktives Wahlrecht. Auf den Zuzug Tausender ausländischer Arbeitskräfte reagierte der DGB im Frühjahr 1965, indem er erstmals in italienischer, spanischer, griechischer und türkischer Sprache aufrief, das Stimmrecht bei den Betriebsratswahlen wahrzunehmen. Mit der Modernisierung des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 unter Willy Brandt erhielten die ausländischen Arbeitnehmer auch das passive Wahlrecht, aber es dauerte noch einige Jahre, bis aus dem „Gastarbeiter“ der „Kollege“ im Betriebsratsgremium geworden war.

Text: Werner Milert, Historiker, zuvor in Leitungsfunktionen beim DGB-Bundesvorstand und in mitbestimmten Unternehmen / Foto: Archiv der Sozialen Demokratie

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