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Magazin Mitbestimmung

: Ausstieg und Einstieg zugleich

Ausgabe 01+02/2012

ENERGIEWIRTSCHAFT Die Stromriesen bauen ihr Portfolio um. Beim größten deutschen Produzenten RWE sollen bis zu 8000 Stellen gestrichen und Unternehmensteile verkauft werden. Für die Arbeitnehmer bedeutet das große Herausforderungen. Von Stefan Scheytt

STEFAN SCHEYTT ist Journalist in Rottenburg am Neckar/Foto: Thomas Kienzle

Der Weg, den der Betriebsratsvorsitzende Anton Failer täglich zu seinem Arbeitsplatz nimmt, ist in gewisser Weise eine Anfechtung, eine harte Prüfung. Anton Failer arbeitet seit fast 22 Jahren im bayerischen Kernkraftwerk Gundremmingen, und auf den letzten zwei Kilometern dorthin fährt er jeden Tag an einem riesigen Solarpark vorbei. Von der Fotovoltaik mit ihren milliardenschweren Belastungen für den kleinen Stromkunden war Anton Failer noch nie überzeugt, aber seit die erneuerbaren Energien gar als Ersatz für die angezählte Atomenergie gehandelt werden, hat ver.di-Mitglied Failer noch mehr kritische Fragen an die Politik – und an die Gewerkschaften. Anton Failer, 49, gelernter Elektrotechniker mit Lizenz zum Schichtleiter, Krawatte, Anzug, viereckige Brillengläser, sitzt im Besprechungszimmer des Kernkraftwerks, vor sich den Brief, den er im Sommer 2011 an den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer geschrieben hat.

Der Brief, das sind zweieinhalb Seiten, in denen Failer Klartext redet. Die Belegschaft könne nicht nachvollziehen, „dass praktisch die gesamte politische Elite der grünen Ideologie auf den Leim gegangen“ sei; der Atomausstieg sei „überstürzt“, „eine Kurzschlussreaktion“, Failer schreibt von der „steigenden Wahrscheinlichkeit großflächiger Stromausfälle“ und von der drohenden „De-Industrialisierung Bayerns und ganz Deutschlands“; er warnt vor der „neuen Brücke“ der Erneuerbaren („Keiner weiß, was sie kostet und ob sie jemals funktioniert“) und gemahnt Seehofer, nicht der „Totengräber der bayerischen Industrie und Wegbereiter einer rot-grünen bayerischen Regierung“ zu werden.

EIN LEBEN FÜR DAS AKW_ Das Kraftwerk Gundremmingen zwischen Ulm und Augsburg gehört zu 75 Prozent der RWE und zu 25 Prozent E.ON. Es ist Deutschlands leistungsstärkstes Kraftwerk – rund 20 Milliarden Kilowattstunden werden hier in einem Jahr erzeugt, etwa ein Drittel des gesamten bayerischen Stromverbrauchs. Der erste Reaktor hier, Block A, der 1966 ans Netz ging, wurde nach einem Störfall im Jahr 1977 stillgelegt. Die jüngeren Blöcke B und C, mit deren Bau in den siebziger Jahren begonnen wurde, haben gemeinsam eine Leistung von rund 2700 Megawatt. Sie sollen 2017 und 2021 abgeschaltet werden. Für große Teile der 840-köpfigen Belegschaft ist dann Schluss mit einer Arbeitsplatzsicherheit, wie es sie in Deutschland nur soch selten gibt. Wer hier eine Ausbildung begann, konnte darauf hoffen, hier auch in Rente zu gehen. Schon mehrere Mitarbeiter haben im Atomkraftwerk 40-jähriges Dienstjubiläum gefeiert.

„Diese Perspektive hat man den jungen Kollegen durch den Atomausstieg genommen“, beklagt Anton Failer. Die ausgelernten Azubis bekämen jetzt keine unbefristeten Verträge mehr, weil nun bevorzugt Kollegen aus dem stillgelegten AKW Biblis eingestellt würden. „Es geht aber nicht nur um unsere Beschäftigten und ihre Familien“, meint Failer, „sondern auch um die vielen Fremdleistungen durch kleine und mittlere Firmen aus der Umgebung, vom Bäcker bis zum Spediteur und zum Hotelier. Es hängen mehr als 1000 Familien am Werk.“ Es gab Momente, in denen er die Politik nicht mehr verstand, auch nicht Teile seiner Gewerkschaft. Zum Beispiel als eine ver.di-Zeitschrift nach dem Unglück in Fukushima mit dem Bild eines AKW und der Überschrift titelte „Aus!“. Oder wenn er hochrangige Gewerkschafter öffentlich sagen hörte, man solle lieber heute als morgen aus der Kernenergie aussteigen. „Das kann mir als Betriebsrat in einem Kernkraftwerk überhaupt nicht gefallen“, sagt Failer, „wir zahlen ordentlich Beiträge und wollen dafür ordentlich vertreten werden bei Kernthemen wie Leiharbeit, Bezahlung oder Sozialleistungen.“ Man könnte einwenden, dass sich die Gewerkschaften schon auf dem 13. Bundeskongress des DGB 1986, nach Tschernobyl, zu einem Beschluss durchrangen, der eine Zukunft ohne Atomkraft forderte, und dass jetzt der Augenblick gekommen ist, wo es ernst wird. Doch Failer hat einen anderen Blick. Mit jeder weiteren Meldung über Schwierigkeiten bei Offshore-Windkraftprojekten, über insolvente Solarfirmen und Probleme beim Netzausbau wird für ihn offensichtlicher: „Der Austieg war nicht vernunftgetrieben. Als vernünftig denkender Mensch muss man erst eine Alternative haben, bevor man das Alte aufgibt.“ Er glaubt immer noch, das letzte Wort in Sachen Atomkraft sei noch nicht gesprochen.

MILLIARDEN FÜR NEUE KRAFTWERKE_ Der Gundremmingen-Betreiber RWE selbst schlägt da ganz andere Töne an: „Eines ist sicher: Die Zeit der Kernenergie in Deutschland geht zu Ende“, verlautet das Unternehmen, das zu den fünf führenden Strom- und Gasanbietern Europas zählt – in Deutschland ist der Konzern die Nummer eins der Stromerzeuger, in den Niederlanden und Großbritannien liegt er an dritter Stelle. Um seine Position zu untermauern – immerhin verliert das Unternehmen mit den AKW in Biblis und Gundremmingen lukrative Cashcows, die jeden Tag satte Gewinne abwarfen –, betreibt RWE deshalb den Umbau der Energieversorgung. Freilich nicht erst seit Angela Merkels Energiewende im vergangenen Sommer. So investiert das 2008 gegründete Tochterunternehmen RWE Innogy jährlich mehr als eine Milliarde Euro, davon ein gutes Drittel in Deutschland, in Windkraftparks an Land und im Meer, in Wasserkraftwerke, Biomasse- und Solarthermieanlagen. Weitere Milliarden flossen und fließen in neue konventionelle Kraftwerke – bis Ende 2014 gehen durch das größte Investitionsprogramm in der Geschichte von RWE Kapazitäten von 13 500 Megawatt ans Netz, davon etwa 3700 in Deutschland.

Als RWE-Chef Jürgen Großmann im Dezember ankündigte, in den nächsten drei Jahren rund 7700 der gut 70 000 Stellen streichen zu wollen, schrieben das einige Medien vor allem dem Atomausstieg zu, vom „Job-Kahlschlag“ und von „geschockten Mitarbeitern“ war die Rede. Fragt man die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, hört man solche alarmistischen Begriffe allerdings nicht. Werner Bischoff, ehemaliges Mitglied des Hauptvorstands der IG BCE und Aufsichtsrat bei der RWE AG und RWE Power, spricht von einem „sehr konstruktiven Dialog auf Augenhöhe“ mit dem Vorstand: „Wir reden hier nicht über betriebsbedingte Kündigungen, sondern über die Summe von verschiedenen Maßnahmen, die teilweise schon lange bekannt und verabredet sind. Abgesehen vom Atomausstieg sind wir keineswegs kalt überrascht worden“, stellt er klar. Betriebsbedingte Kündigungen sind vertraglich ausgeschlossen – zumindest bis Ende 2012.

SINKENDER PERSONALBEDARF_ Ein riesiges Kraftwerkserneuerungsprogramm im Rheinischen Revier ist schon seit Jahren im Gang. Seit Sommer 2011 betreibt die RWE im US-Bundesstaat Georgia eine riesige Anlage zur Pelletierung von Frischholz. Die Idee ist, Steinkohle durch Biomasse zu ersetzen, die über den Atlantik geschippert wird. Aus RWE-Sicht ist auch das ein Beitrag zum Umweltschutz. Wo immer alte Kohlemeiler abgeschaltet werden, sind die neuen aber nicht nur umweltfreundlicher, sondern auch erheblich arbeitseffizienter: „Ein neuer 1000-Megawatt-Block kann heute von 100 Mitarbeitern betrieben werden. In den alten, viel kleineren Kraftwerken hätte man für dieselbe Leistung an die 1000 Kollegen benötigt“, schätzt Hans-Peter Lafos, RWE-Konzernbetreuer von ver.di und Aufsichtsratskollege von
Werner Bischoff. Dieser langfristige, durch verschiedene personalpolitische Instrumente abgesicherte Arbeitsplatzabbau, so Bischoff, sei zwar schmerzlich, aber nicht zu verhindern: „Bei den hohen Energiekosten kann sich heute keiner uneffektive Prozesse leisten.“ Ähnliches gilt für den Braunkohleabbau im Revier.

RWE braucht viel Geld für Investitionen und für den Abbau von Schulden. Der Verkauf von Unternehmensteilen, der bis zu elf Milliarden Euro in die Kassen von RWE spülen und den Schuldenabbau sowie den Konzernumbau in Richtung erneuerbare Energien mitfinanzieren soll, sei bei genauem Hinsehen nicht dramatisch, meint Werner Bischoff. Denn zum einen betrifft er Konzernunternehmen im Ausland; und wo deutsche RWE-Töchter verkauft werden sollen, sei eher kein Abbau von Arbeitsplätzen zu erwarten, sondern nur ein Wechsel der Beschäftigten zu anderen Arbeitgebern – etwa zu kommunalen Versorgern. Vorbild für die anstehenden Verkäufe sind die bereits getätigten Veräußerungen von Thyssengas und dem Netzbetreiber Amprion, die durch arbeitnehmerfreundliche Vereinbarungen abgesichert wurden. „Mit dem Vorstand ist besprochen, dass wir auch bei zukünftigen Verkäufen solche Vereinbarungen auf den Weg bringen“, berichtet Hans-Peter Lafos.

Doch selbst wenn der Personalabbau langsam und sozialverträglich gestaltet wird und die Unternehmensverkäufe ohne böse Überraschungen für die Arbeitnehmer enden, steuern die Gewerkschaften durch die Energiewende auf schwierige Zeiten zu. So müssen zum Beispiel moderne Kohlekraftwerke in Abhängigkeit von der eingespeisten Strommenge aus erneuerbaren Energien schnell herauf- und heruntergefahren werden können. „Das stellt uns als Tarifvertragspartner vor große Anforderungen“, meint Hans-Peter Lafos. „Denn während man im Grundlast-Kraftwerk die Arbeit sauber planen kann, braucht man in einem flexiblen Kraftwerk völlig andere Arbeitszeitmodelle und Revisionsplanungen.“

Noch gravierender ist, dass der – wenn auch nicht dramatische – personelle Aderlass im Tagebau, in den Kohle- und in den Kernkraftwerken die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder sinken lassen dürfte, während durch den Ausbau der erneuerbaren Energien bei RWE Innogy dafür kein entsprechend großer Ausgleich zu erwarten ist. Mit seinen 1200 Mitarbeitern generiert das Unternehmen heute noch keine zwei Prozent des RWE-Umsatzes. Zum Betrieb von Windrädern oder solarthermischen Anlagen braucht man kaum Arbeitskräfte, die Wartung wird meist von den Anlagenherstellern für die Betreiber übernommen. „Es ist ein Trugschluss der Politik, qualifizierten Beschäftigten aus den Kernkraftwerken oder perspektivisch aus fossilen Kraftwerken in diesen Bereichen Ersatzarbeitsplätze anbieten zu wollen“, schreibt Sven Bergelin, Aufsichtsratsmitglied beim RWE-Konkurrenten E.ON und Bundesfachgruppenleiter Energie und Bergbau bei ver.di. Erschwerend kommt hinzu, dass es in den Branchen der erneuerbaren Energien mit ihren vielen kleinen Unternehmen nur unzureichende Tarifverträge und Mitbestimmungsstrukturen gibt. „Der Kern von RWE Innogy ist tarifgebunden im Gruppentarifvertrag, aber in einigen zugekauften Unternehmen ohne Tarifbindung müssen wir alles erst mühevoll aufbauen“, sagt Hans-Peter Lafos.

WELCHE GEWERKSCHAFT IST ZUSTÄNDIG?_ Die gewerkschaftliche Welt bei RWE – und den drei anderen großen Energieerzeugern – wird komplizierter werden. Wo früher die IG BCE die Mitarbeiter im Tagebau vertrat und ver.di die Kollegen in den Kohle- und Kernkraftwerken, wird die Landkarte in Zeiten der erneuerbaren Energien immer dezentraler, kleinteiliger, unübersichtlicher. „Es tauchen viele neue Anbieter auf, von denen viele mit Gewerkschaft überhaupt nichts zu tun haben“, sagt ver.di-Mann Hans-Peter Lafos. „Es sind auch Bereiche dabei, wo der Bau von Anlagen und ihr Betrieb nicht mehr so klar zu unterscheiden sind wie früher. Und das ist dann kein klassischer Bereich mehr von ver.di, sondern eher von der IG Metall.“ Lafos formuliert deshalb die „persönliche Auffassung und Frage“, ob die Gewerkschaften in der Zukunftsbranche Energiewirtschaft noch richtig aufgestellt seien: „Ist es sinnvoll, drei oder vier Gewerkschaften zu haben, oder sollten wir nicht darüber diskutieren, das zu bündeln? Müsste der DGB nicht eine Diskussion darüber anschieben, wie wir das effizienter gestalten könnten?“

Die Frage geht so sehr ans Eingemachte wie die seit Jahren unaufgelöste und wohl unauflösbare Diskussion um die Kernenergie, die vor allem innerhalb von ver.di geführt wird. „Ich kenne Kollegen, auch aus der Energiebranche, die Angst haben, mit mir ein Kernkraftwerk zu besichtigen“, erzählt Hans-Peter Lafos, um zu verdeutlichen, wie weit die Meinungen und Einschätzungen auseinandergehen. „Als Spiegelbild der deutschen Gesellschaft muss ver.di diesen Spagat aber leisten. Und das ändert nichts daran, dass wir die Interessen unserer Mitglieder und der Beschäftigten in den Kernkraftwerken optimal vertreten wollen.“

An einem Beitrag dazu arbeiten die Arbeitnehmervertreter im RWE-Aufsichtsrat zurzeit: „Unser Ziel ist eine Vereinbarung, dass die stillgelegten Kernkraftwerke nicht unter einem Betonmantel gesichert werden, sondern dass ein Rückbau stattfindet, und zwar mit eigenem, entsprechend qualifiziertem Personal.“ Das würde die beruflichen Perspektiven vieler Mitarbeiter um bis zu 15 Jahre verlängern. Betriebsratschef Anton Failer und viele seiner Alterskollegen im Kernkraftwerk Gundremmingen hätten dann tatsächlich die Chance, bis zur Rente dort arbeiten zu können.

 

Unternehmensprofil

Großkonzern unter Druck

Der Konzern RWE mit Hauptsitz in Essen zählt zu den fünf führenden Strom- und Gasanbietern in Europa. Gegründet im Jahr 1898 als Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk AG, sollte das Unternehmen zunächst die Stadt Essen mit Elektrizität versorgen. Über 70 000 Mitarbeiter beliefern heute rund 16 Millionen Kunden mit Strom und nahezu acht Millionen Kunden mit Gas. Im Geschäftsjahr 2010 hat RWE einen Umsatz von über 53 Milliarden Euro erzielt. Die Kraftwerke stellen die wichtigste Grundlage für das Konzernergebnis dar. Der Konzern investiert in neue Kohlekraftwerke wie auch in regenerative Energien, die es in der 2008 gegründeten Konzerngesellschaft RWE Innogy bündelt. Bis 2014 will RWE in Europa regenerative Kapazitäten von rund 4500 Megawatt in Betrieb oder im Bau haben – bis zum Jahr 2025 soll es ein Drittel der Kraftwerkskapazität sein. Zugleich hat RWE gegen die Brennelementesteuer Rechtsmittel eingelegt. Jürgen Großmann, Konzernchef noch bis Ende Juni, hat das Eneuerbare-Energien-Gesetz mehrmals scharf kritisiert. So erklärte er gegenüber der Nachrichtenagentur dpa, Fotovoltaik sei in Deutschland „so sinnvoll wie Ananas züchten in Alaska“.

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