Zur Sache: Aufsichtsräte müssen sich kümmern
Roland Köstler erläurtet die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum Insider- und Publizitätsrecht. Sein Fazit: „Aufsichtsräte können mit der Entscheidung des Gerichts leben – sofern sie auf die Selbstbefreiung von der Ad-hoc-Publizität dringen.“
„Europäischer Gerichtshof stärkt Aktionärsrechte“ – diese Schlagzeile war jetzt häufiger in der Wirtschaftspresse zu lesen. Denn nach einem jahrelangen Rechtsstreit rund um den Rücktritt von Daimler-Chef Jürgen Schrempp hatten die Luxemburger Richter des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) das Recht der Anleger auf Information erweitert. Konzerne müssten wichtige Personalentscheidungen nicht erst dann öffentlich machen, wenn sie getroffen sind, sondern bereits wenn sie vorbereitet werden und sehr wahrscheinlich sind. Geklagt hatte ein Aktionär, der sich zu spät über Schrempps Ausscheiden bei Daimler informiert fühlte und deswegen Schadenersatz forderte. Der Bundesgerichtshof, der jetzt nochmals über die Schadenersatzklage entscheiden muss, hat in der Sache dem EuGH Fragen zur Auslegung zweier EU-Richtlinien über Insidergeschäfte und Marktmanipulation vorgelegt. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) vertrat in der Debatte von Anfang an die gleiche Rechtsauffassung wie jetzt der EuGH: nämlich die, dass auch Zwischenschritte eines kursrelevanten Vorgangs als Insiderinformation anzusehen und deshalb als Ad-hoc-Mitteilung zu veröffentlichen seien. Entscheidend sei die Kursrelevanz für den verständigen Aktionär.
In den mitbestimmten Unternehmen ist auch der Aufsichtsrat regelmäßig mit gestreckten oder mehrstufigen Entscheidungen – auf solche bezieht sich der EuGH-Entscheid – befasst, um sich eine Meinung über das Für und Wider einer Ad-hoc-Mitteilung zu bilden. Sei es bei zustimmungsbedürftigen Geschäften, sei es bei Rücktritten von der Position des Vorstandsvorsitzenden wie im Fall Schrempp. Doch das europäische Insiderrecht, das stark vom angelsächsischen Recht beeinflusst ist, nimmt keine Rücksicht darauf, ob das Unternehmen von einem Board geführt wird oder von einem Vorstand und einem Aufsichtsrat. Bei letzterer Konstellation würde man andernfalls unterstellen, dass der Aufsichtsrat alle Vorstandsinitiativen widerspruchslos absegnet. Eine Lösung, um nicht ungewollt Ad-hoc-Mitteilungen publizieren zu müssen, bietet die Selbstbefreiung von der Publizitätspflicht nach § 15 Wertpapierhandelsgesetz (WpHG), auf die auch die BaFin in ihrem Emittentenleitfaden hinweist. Deswegen können Aufsichtsräte mit der EuGH-Entscheidung leben – sofern sie auf diese Selbstbefreiung dringen. Eine Selbstbefreiung ist dann möglich, wenn ein berechtigtes Interesse besteht, eine Irreführung der Öffentlichkeit nicht zu befürchten und die Vertraulichkeit der Information gewährleistet ist. Das schließt die Hinzuziehung von zur Vertraulichkeit verpflichteten Beratern nicht aus. Zudem bedarf es einer formalen Prozedur: Es muss im Aufsichtsrat eine ausdrückliche Entscheidung zur Selbstbefreiung getroffen werden, an der mindestens ein Vorstandsmitglied beteiligt ist. Mit seiner aktuellen Entscheidung hat der EuGH das Verbot des Insiderhandels eng mit der Verpflichtung verbunden, Insiderinformationen früh der Öffentlichkeit mitzuteilen. Dies könnte sich als ein Pyrrhussieg für Aktionäre erweisen, denn nicht alle Anleger werden begrüßen, dass Firmen Insiderwissen früher als bisher und in zahlreichen Zwischenschritten veröffentlichen.
Unterdessen zeichnet sich eine interessante Entwicklung auf europäischer Ebene ab, die die Rechtslage verändern könnte. Es gibt neue Vorschläge der EU-Kommission zur Verschärfung des Insiderrechts. Sollten diese Vorschläge umgesetzt werden, wären die Zwischenschritte bei gestreckten oder mehrstufigen Entscheidungen als Insidertatsachen geschützt – mit all den dafür geltenden Verboten. Es bestünde dann keine derartig umfassende Pflicht zur Ad-hoc-Publizität, wie der EuGH sie jetzt propagiert. Dass die Unterschiede zwischen Board und Aufsichtsrat auf europäischer Ebene mehr Berücksichtigung finden, ist unwahrscheinlich. Aber wenn das Verbot des Insiderhandels von der Ad-hoc-Publizität losgelöst werden könnte, wäre für die deutschen Aufsichtsräte schon viel gewonnen.
Text: Roland Köstler / Foto: Karsten Schöne
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Das Urteil des EuGH C-19/11 vom 28.06.2012 ist abgedruckt in der Zeitschrift für Wirtschaftsrecht ZIP 2012, S.1282 ff.
Roland Köstler: Insiderrecht. Arbeitshilfe für Aufsichtsräte Nr. 8.
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Insidergeschäfte und Marktmanipulation, Brüssel, 20.10.2011, KOM (2011) 651 endgültig. In: Die Aktiengesellschaft, 9/2012