: Arbeitnehmer beim Käufercheck
PIONIERTAT IN SACHEN MITBESTIMMUNG Die Linde AG verkaufte ihre Gabelstapler-Sparte Kion an amerikanische Finanzinvestoren - und legte dabei Wert auf das Urteil der Arbeitnehmervertreter.
Von Stefan Scheytt, Journalist in Tübingen.
Es ist der 30. November 2006, ein regnerischer Donnerstag, als in der Frankfurter Friedrichstraße im Abstand von wenigen Stunden ein Dutzend Männer, von denen jeder über Milliarden von Euro und Dollar entscheiden kann, aus ihren Wagen steigen. Die Herren, in Deutschland oft als "Heuschrecken" gebrandmarkt, sind nicht auf dem Weg zu einem der Bankenbosse in den gläsernen Bürotürmen ringsum. Ihr Ziel ist eine Anwaltskanzlei, in der neun Arbeitnehmervertreter auf sie warten. Ihnen sollen die Finanzinvestoren ihre Pläne für den milliardenschweren Kauf der zur Linde AG gehörenden Kion-Gruppe darlegen. Die Arbeitnehmervertreter haben dafür einen umfangreichen Fragenkatalog vorbereitet, ein Ablaufplan regelt minutiös den Verlauf der Gespräche.
DER 30. NOVEMBER 2006 IST EIN BESONDERER TAG, vielleicht sogar ein denkwürdiger: Denn noch nie zuvor haben sich Finanzinvestoren zu einem solchen "Käufercheck" durch Betriebsräte und Gewerkschafter bereit erklärt; noch nie hatten Arbeitnehmervertreter Gelegenheit, sich derart massiv in den Verkaufsprozess ihrer Firma an ein Private-Equity-Unternehmen einzumischen. Denn zum "Beauty Contest", zum Schönheitswettbewerb, wie manche den Auflauf der potenziellen Investoren nennen, gehörten nicht nur Einzelgespräche mit sämtlichen Bietern, sondern auch ein Urteil der Arbeitnehmervertreter darüber, welche potenziellen Investoren als "Beast" abgelehnt werden sollten.
Ein gutes halbes Jahr nach dem Treffen in Frankfurt sitzen Joachim Hartig und Hans-Dieter Katte wieder zusammen, diesmal bei Linde Engineering in München-Pullach. Linde Engineering gehört immer noch zur großen Mutter, auf Hans-Dieter Kattes Visitenkarte steht neben seiner Funktion als Betriebsratschef in Pullach noch immer das blaue Logo der Linde AG, deren stellvertretender Aufsichtsratschef Katte ist. Auf Joachim Hartigs Karte steht "Vorsitzender des Europäischen Betriebsrats" und darüber "Kion Group", deren Aufsichtsgremium Hartig als stellvertretender Vorsitzender angehört. Seit wenigen Monaten sind die ehemaligen Linde-Kollegen Hans-Dieter Katte und Joachim Hartig Arbeitnehmervertreter in verschiedenen Unternehmen.
Die Rolle, welche die Betriebsräte bei der Trennung von Kion und Linde spielten, hat ihnen manche Kritik aus der Belegschaft eingetragen: Sie hätten sich auf das Tête-à-Tête mit den "Heuschrecken" nie einlassen dürfen und stattdessen den Verkauf mit Macht und allen Mitteln bekämpfen sollen. "Wir sind keine prinzipiellen Freunde von Private Equity und wissen genau, was manche Finanzinvestoren in Unternehmen angerichtet haben", sagt Joachim Hartig. Dennoch sind Katte und Hartig überzeugt, dass ihr Vorgehen richtig war: "Aus Verantwortung für die Arbeitsplätze konnten wir uns dem Verkaufsprozess nicht verweigern, sondern wollten ihn mitgestalten. Damit haben wir mehr erreicht, als wir durch irgendwelche Protestaktionen hätten erreichen können - gerade unter den damaligen Umständen." Und die waren teilweise dramatisch.
2004 feiert die Wiesbadener Linde AG ihr 125-jähriges Jubiläum, sie ist ein Sinnbild deutscher Industriegeschichte, aber auch so reich an Problemen wie an Vergangenheit. Just im Jubiläumsjahr trennt sich das Unternehmen von der chronisch defizitären Kältetechnik, also jenem Geschäftsbereich, mit dem einmal alles begann. Doch auch die verbliebenen Geschäftsbereiche Industriegase/Engineering und die Gabelstapler-Sparte lassen das DAX-30-Unternehmen an der Börse schlecht aussehen. Anleger belegen Aktien von Mischkonzernen wie der Linde AG mit einem Konglomeratsabschlag, der gefährlich werden kann. "Es gab Phasen, in denen der Börsenwert unter dem Wert des Eigenkapitals lag, das machte Linde zum begehrten Übernahmeobjekt für Firmenzerleger", sagt Joachim Hartig.
Um den Börsen-Malus des Mischkonzerns zu tilgen, muss sich Linde auf einen der verbliebenen Bereiche konzentrieren und entscheidet sich wegen der höheren Profitabilität und der geringeren Konjunkturanfälligkeit für das Gasgeschäft. Als das Unternehmen im September 2006 dann die größte Transaktion seiner Geschichte tätigt und für zwölf Milliarden Euro den britischen Gasekonzern BOC übernimmt, ist klar: Die unter dem Namen Kion bereits vorher rechtlich ausgegliederte Gabelstapler-Sparte mit rund 20?000 Mitarbeitern hat keine Zukunft mehr bei Linde, nicht zuletzt weil Linde für die Finanzierung des BOC-Deals dringend Geld braucht, und zwar möglichst viel und möglichst schnell. Der Börsengang scheidet damit aus, ein Verkauf an Finanzinvestoren verspricht höhere Zuflüsse.
WENIGE WOCHEN NACH DER SPEKTAKULÄREN ÜBERNAHME schreibt Konzernbetriebsratschef Joachim Hartig einen Brief an den Vorstandsvorsitzenden Wolfgang Reitzle. Es ist ein knappes Schreiben, das nach zwei einleitenden Sätzen sechs prägnante Forderungen formuliert. Etwa die, der Käufer solle die Einhaltung der Beschäftigungssicherungsverträge zwischen Linde und der Belegschaft schriftlich zusagen und die bis 2011 geplanten Investitionen realisieren. Zwischen den Zeilen steht: Wenn der Vorstand möchte, dass der Verkauf geregelt abläuft, sollte er dazu beitragen, dass die Arbeitnehmer nicht die Verlierer des Deals sind.
Gleichzeitig wird der Linde-Chef gebeten, ein Treffen mit den potenziellen Käufern von Kion zu ermöglichen. Dem vorausgegangen war der Versuch von Private-Equity-Unternehmen, durch Mittelsmänner Kontakt mit dem Betriebsratschef aufzunehmen. "Wir haben das sofort abgelehnt, weil wir keine Hinterzimmerpolitik in irgendeinem Berliner Nobel-Restaurant betreiben wollten", sagt Joachim Hartig. "Wenn Gespräche, dann mit allen Bietern und transparent."
Linde-Chef Reitzle ist alles andere als begeistert von der Idee eines "Beauty Contest" für die Arbeitnehmervertreter. Und lässt sich schließlich doch die Zusage abringen, den "Käufercheck" zu unterstützen. Eine Rolle hat dabei sicher gespielt, dass es beim Verkauf von Kion auch um Reitzles persönlichen Ruf als Manager und um den des Unternehmens ging: Die Vorstellung, der Linde AG könnte einmal eine von Finanzinvestoren gefledderte und ruinierte Kion-Gruppe anhängen, so wie BenQ der Mutter Siemens anhängt, ist nicht verlockend.
Ein zweiter Grund für Reitzle, den "Käufercheck" gutzuheißen, war sicher auch, dass die Belegschaft ein Jahr zuvor in ein Kostensenkungsprogramm im zweistelligen Millionenbereich eingewilligt hatte, das sich prompt im Jahresergebnis und im Aktienkurs niederschlug. "Es ist pervers", meint Hans-Dieter Katte. "Was wir hergegeben haben, landete direkt in den Taschen der Aktionäre. Aber der Kurs stand zeitweise bei 23 Euro, die Gefahr der Übernahme war absolut real."
Real waren aber auch die Zusagen des Vorstands, die sich die Belegschaft mit ihren Zugeständnissen erkauft hatte: Beschäftigungs- und Standortsicherung bis Ende 2011 inklusive der Zusage, den Bau einer Fabrik in Osteuropa abzublasen, was in Westeuropa zu mehreren Werksschließungen geführt hätte. Hans-Dieter Katte: "Wer immer der neue Eigentümer von Kion werden würde, er sollte vorher erfahren: Wenn wir mitspielen sollen, dann müssen diese teuer erkauften Zusagen auch weiterhin gewährleistet sein." In einzelnen Werken beträgt der Organisationsgrad bis zu 90 Prozent, in einer krisenhaften Zuspitzung wäre der Zusammenhalt der Belegschaft wohl eher noch gewachsen.
SO KOMMT ES ZUM BEAUTY CONTEST an jenem regnerischen 30. November in der Frankfurter Friedrichstraße. Neben Hartig, Katte und ihren Linde-Kollegen sitzen auch Babette Fröhlich und Thilo Kämmerer von der IG Metall am Tisch, die eine Expertin für Beteiligungskapital, der andere für Betriebspolitik. "Für uns Betriebsräte ist der Kapitalmarkt ein neues Feld, auf dem man viele Fehler machen kann", meint Joachim Hartig. "Ohne die absolut professionelle Beratung durch die IG-Metall-Kollegen im Vorfeld und ihre Unterstützung beim Käufercheck in Frankfurt hätten wir das alles nicht so hinbekommen."
Das Treffen mit den Finanzinvestoren ist ein Tag der kontrollierten Emotionen, sachlich werden die 110 Minuten abgespult, die für jeden der vier Kaufinteressenten reserviert sind. Die Bieter stellen sich und ihre bisherigen Engagements in Europa vor und präsentieren ihre Pläne für Kion, dann folgt eine Fragerunde. Joachim Hartig und seine Kollegen haben dafür standardisierte Fragen vorbereitet, um die Antworten später besser vergleichen zu können.
Doch allein schon die Art des Auftritts offenbart große Unterschiede. Einer der Bieter wird den Arbeitnehmervertretern unvergessen bleiben, weil er als einziger ohne Krawatte erschien, während er sich am Tag zuvor bei einer Besichtigung im Werk Aschaffenburg noch mit Binder präsentiert hatte. "Der meinte wohl, er müsse vor uns den netten lockeren Onkel aus Amerika spielen", erzählt Hans-Dieter Katte.
Andere gaben sich die Blöße großer Wissens-Lücken, "denen merkte man an, dass sie einfach nicht in der Materie steckten, wenn wir sie zum Beispiel fragten, wohin sich Kion unter ihrer Führung entwickeln soll." Nur noch unangenehm erinnern sich Hartig & Co. an Bieter, die zu verstehen gaben, dass sie die Veranstaltung für reichlich überflüssig hielten, weil es am Ende doch nur um die Höhe des Kaufpreises gehe, nach dem Motto: "Wir regeln alles mit Geld."
Gerade die Frage des Kaufpreises zeigt, auf welche Gratwanderung sich die Arbeitnehmervertreter mit dem Käufercheck eingelassen hatten: Während die bei der Linde AG verbleibende Belegschaft einen möglichst hohen Preis anstreben musste, um die gigantischen Schulden aus dem BOC-Kauf zu reduzieren, lag in Kions Interesse ein möglichst geringer Kaufpreis. Denn der wird in der Private-Equity-Branche in der Regel zum größten Teil als Schulden auf das Kaufobjekt übergewälzt. "In so einer Situation wäre es doch geradezu ignorant, den Verkauf generell zu verteufeln und sich ansonsten aus allem rauszuhalten", findet Joachim Hartig.
Wie mit dem Linde-Vorstand vereinbart, treffen die Betriebsräte nach dem Check nur eine Negativauswahl. Das Konsortium von Permira und Allianz Capital Partners (ACP) lehnen sie als Kion-Käufer ab und begründen dies vor allem mit der unrühmlichen Beteiligung von Permira am Automobilzulieferer Kiekert. Aber auch die Weste von ACP trägt Flecken: So meldete der von ACP und anderen erworbene Flugzeugbauer Fairchild Dornier Insolvenz an. Keine Zustimmung findet auch die Bietergemeinschaft von Apax und BC-Partners, in erster Linie wegen deren Mitverantwortung für das Desaster beim Wasserarmaturenhersteller Grohe und der Rolle von Apax beim Kauf und der Wiederveräußerung der Bundesdruckerei.
Unter den verbliebenen zwei Bietern entscheiden sich Vorstand und Aufsichtsrat von Linde wenig später für das Konsortium der US-Investoren Kohlberg, Kravis Roberts (KKR) und Goldman Sachs, das vier Milliarden Euro für Kion geboten hatte. "Aus unserer Sicht eine akzeptable Entscheidung", meint Joachim Hartig.
Denn bis auf die Forderung, dass der Kaufpreis mit mindestens 30 Prozent Eigenkapital finanziert werden solle, akzeptierten beide Investoren die Forderungen der Arbeitnehmer: Sie übernehmen die bestehenden Verträge zur Beschäftigungs- und Standortsicherung, sie verfolgen eine Wachstumsstrategie mit dem Ziel des Börsengangs, und sie sagen zu, keine Teilbereiche auszugliedern oder zu verkaufen. "Beim Käufercheck traten KKR/Goldman Sachs am professionellsten auf. Wir hatten den Eindruck, dass sie sich sehr gut vorbereitet hatten, den Markt kennen und eine schlüssige Strategie haben", urteilt Hans-Dieter Katte.
SIND DIE FINANZINVESTOREN DAMIT NUN "GEZÄHMT", wie die Zeitschrift der IG Metall titelte? Ist KKR/Goldman Sachs, weil sie siegreich aus dem Beauty Contest hervorgingen und in aller Öffentlichkeit Vertragskontinuität versprachen, nun eine Heuschrecken-Schönheit? Momentan zumindest stehen alle Zeichen auf Wachstum - beim Umsatz und Ergebnis, bei den Beschäftigtenzahlen, beim Auftragseingang. "Wir platzen aus den Nähten", sagt Joachim Hartig.
Die Finanzinvestoren sind nicht unbedingt die besseren Manager, "das überlassen wir den Leuten im Unternehmen", sagt Johannes Huth, der aus Heidelberg stammende Europachef von KKR. "Aber wir sind die besseren Aufsichtsräte", meint Huth. Tatsächlich übten die neuen Eigentümer einen bislang unbekannten Druck aufs Management aus, sehr konzentriert und informiert würden sie die Firma vorantreiben. "Was die ankündigen, machen sie auch wahr", sagen auch Betriebsräte anerkennend.
Doch trotz aller positiven Erfahrungen bislang schwebt ein ständiger Schatten über Kion. Es ist der gigantische Schuldenbetrag von rund 2,6 Milliarden Euro, der durch den in erster Linie kreditfinanzierten Kauf in den Kion-Büchern steht. Bei einem Umsatz von gut vier Milliarden Euro und einem Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen von etwa 270 Millionen Euro sind Verbindlichkeiten von 2,6 Milliarden Euro Anlass zu großer Besorgnis.
Bis zum geplanten Börsengang in 2009/2010 wird das Unternehmen unter der Zinslast stöhnen und kaum Gelegenheit haben, sich finanziell Luft zu verschaffen. Kommt der nächste Abschwung in der als stark zyklisch geltenden Branche zu früh, kann es schnell schlimm stehen um Kion. Beauty? Oder Beast? "Wir bleiben der Sache gegenüber sehr kritisch", verspricht Betriebsrat Hans-Dieter Katte.
IG Metall
Beteiligungspflicht soll ins Gesetz
Die Beteiligung von Betriebsräten und Gewerkschaftern beim Verkauf von Unternehmen wie Kion an KKR/Goldman Sachs soll Schule machen. Das Kabinett hat jüngst Eckpunkte für ein so genanntes Risikobegrenzungsgesetz verabschiedet, das unerwünschte Entwicklungen im Zusammenhang mit Finanzinvestoren verhindern soll. Einer der Eckpunkte sieht vor, zum Schutz der Belegschaften bei einem Verkauf an einen Finanzinvestor eine Unterrichtungspflicht vorzuschreiben.
Die IG-Metall-Experten Babette Fröhlich und Thomas Klebe, die an dieser Initiative mitgewirkt haben, sind mit der aktuellen Formulierung noch nicht zufrieden. "Die ist sehr vage gehalten", sagt Babette Fröhlich, "unsere Forderungen sind sehr viel konkreter, und diese gilt es im Gesetzentwurf durchzusetzen."
Mehr Infos: Bundesfinanzministerium