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Magazin Mitbestimmung

: 'Wir verhandeln aus unserer eigenen Stärke heraus'

Ausgabe 05/2010

INTERVIEW Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer über die Bewältigung der Krisenfolgen, sein Verhältnis zu den Parteien und seine Kandidatur zum IGB-Präsidenten.

Die Fragen stellte MARGARETE HASEL/Foto: Rolf Schulten

In der Krise brauchte dieses Land die Gewerkschaften, und sie haben sich dieser Verantwortung gestellt. Was bleibt davon?
Bedauerlicherweise bleibt die Krise. Es bedarf noch vieler Anstrengungen, um sie zu bewältigen, und wir müssen verhindern, dass die Arbeitnehmer allein die Zeche zahlen. Aber es stimmt: Seit wir in dieser sehr zugespitzten Krisensituation unsere Kompetenz unter Beweis gestellt haben, wird sie selbst von Leuten wieder wahrgenommen, die den Gewerkschaften schon das Totenglöckchen geläutet hatten.

Das gesellschaftliche Bewusstsein, dass Gewerkschaften wichtig sind, ist wieder gestiegen?
Wir erfahren aktuell viel Zustimmung und Bestätigung. Wir sind doch die einzige Organisation, die mächtig genug ist, Menschen vor existenziellen Bedrohungen zu schützen. Wir können richtig stolz sein auf das, was wir zusammen mit unseren Betriebsräten geleistet haben.

Dabei geht es letztlich um die Verteilung der Krisenkosten. In vielen Betrieben wurden solidarische Lösungen gefunden. Auch in der Tarifpolitik gibt es Signale, die jetzt die Beschäftigungssicherheit betonen. Fallen überzeugende Antworten auf diesen Politikfeldern leichter, wo die gewerkschaftlichen Kernkompetenzen sind?
Unsere Stärke kommt von den Mitgliedern in den Betrieben. Dass und wie wir tarifpolitische Mittel einsetzen, um die Menschen in Arbeit zu halten, ist der praktische Beleg von Solidarität. Deswegen ist die Betriebs- und Tarifpolitik so wichtig. Sie zielt unmittelbar auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Kolleginnen und Kollegen. Solidarität in gesellschaftliche Dimensionen zu übersetzen ist sehr viel schwieriger. Der DGB versucht, Einfluss auf die Politik zu nehmen und Gerechtigkeitsfragen auf die Tagesordnung zu setzen. Das ist das Feld, auf dem ich arbeite.

Wo sehen Sie politische Bündnispartner?
Es gibt in unserem Land nicht nur Spekulanten, sondern auch viele Unternehmer und Arbeitgeber, die ihre soziale Verantwortung spüren. Das hat die Krise gezeigt. Darauf kann man hoffentlich auch in Zukunft bauen. Das gilt auch für Teile der Regierung. Sowohl die Große Koalition als auch die jetzige sind an vielen Punkten über ihren Schatten gesprungen und haben mit Maßnahmen geholfen, die sie früher nie gemacht hätten. Von der Abwrackprämie über Konjunkturprogramme bis hin zum aktiven Einsatz von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten. Insgesamt bedeutet dies eine wirkliche Renaissance der Sozialpartnerschaft.

In einem Interview mit dem "Hamburger Abendblatt" haben Sie festgestellt, die Aufgeregtheiten hätten sich gelegt. Heißt das, dass der deutsche Korporatismus eine Zukunft hat?
Ich habe in dem Interview sehr bewusst "zurzeit" gesagt. Niemand weiß, ob dieser Zustand dauerhaft hält. Ich habe Anzeichen dafür, dass ein Teil der Bundesregierung die Entwicklung hin zu einem positiven Verhältnis zu den Gewerkschaften begrüßt. Doch die Bewährungsprobe steht noch aus. Ich möchte jedoch nicht von einem korporatistischen Modell sprechen.

Sondern?
Ich spreche lieber von einer Zusammenarbeit aus der individuellen Stärke der Beteiligten heraus. Das ist etwas anderes als das alte Bündnis für Arbeit. Damals wurde etwas in eine feste Form gegossen, die sich dann zum Schluss selbst sprengte.

Hat sich der Begriff "Bündnis für Arbeit" verbraucht, weil niemand an das Scheitern erinnert werden will?
Nein, es geht darum, dort, wo die Sozialpartner zusammenarbeiten können, dies zu tun, ohne die vorhandenen Widersprüche aufzugeben. Niemand soll glauben, dass die Arbeitgeber alle handzahm geworden sind. Oder dass die FDP nicht in der Regierung wäre. Oder dass es bei der CDU keinen Wirtschaftsflügel gäbe. Es wäre leichtsinnig, und wir tun gut daran, wachsam zu bleiben. Doch in der Krise haben die politisch Verantwortlichen in den drei Säulen - Politik, Gewerkschaften, Arbeitgeber - pragmatisch die Zusammenarbeit gesucht. Das ist mehr wert als eine Überschrift über ein Gedankengebäude, das bestenfalls für
publizistische oder wissenschaftliche Betrachtungen taugte, den Menschen aber kaum Fortschritte gebracht hat.

Die Kanzlerin lädt im Juni nach Schloss Meseberg zum sogenannten Zukunftsgipfel. Wodurch unterscheidet sich dieser Termin vom alten Bündnis für Arbeit?
Die Bundeskanzlerin hat verstanden, dass sie die Krisenkanzlerin ist. Somit geht es hier zuerst um die Sache und dann um die Form. Und nicht umgekehrt. Das ist der große Unterschied. Die aktuelle Krise stellt uns alle vor große Herausforderungen: Wie halten wir die Beschäftigten in Arbeit, wie machen wir Deutschland fit für die Zukunft, und wie erhalten wir den Sozialstaat in Zeiten knapper Kassen? Es ist gut, dass die relevanten gesellschaftlichen Gruppen dies mit der Regierung besprechen und im besten Fall die Weichen stellen.

Wird es dieses Mal Fortschritte geben?
Das werden wir sehen, wenn wir uns über die Beseitigung des Niedriglohnsektors, über die Eingrenzung prekärer Arbeit, über die Chancen von Jugendlichen oder über die Zukunft des Standorts Deutschland unterhalten. Dann wird es sehr konkret. Ich bin überzeugt, dass die Ausgangsbasis für eine Zusammenarbeit besser geworden ist. Ob dann auch die Ergebnisse stimmen, ist eine zweite Frage.

Es gehört zum Selbstverständnis des DGB, allen Regierungen gegenüber gesprächsbereit zu sein. Da gab es in der Ära Sommer so einige Verschiebungen.
Es gibt keine Ära Sommer. Ich habe in der Tat so ziemlich alles erlebt, was da möglich ist.

Wie hat das Wechselbad den DGB selbst verändert?
Wir haben festgestellt, dass unsere Stärke die parteipolitische Unabhängigkeit ist - verbunden mit einem klaren Interessenstandpunkt als Vertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der sozial Schwachen. Einerseits sind wir wesentlich weniger als eine Partei, weil wir nicht nach Regierungsmacht streben. Gleichzeitig sind wir als Interessenvertretung wesentlich mehr als jede Partei. Wir sind für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer da. Von diesem Standpunkt aus kann man Entwicklungen sehr viel rationaler betrachten als aus einer emotionalen Bindung an eine Partei heraus. Da hat Altkanzler Helmut Kohl recht: Entscheidend ist, was hinten rauskommt.

Und - was ist bisher rausgekommen?
Ganz ordentliche Sachen - wenn ich mir anschaue, unter welchen Bedingungen wir die Mindestlohndebatte losgetreten haben und welchen gesellschaftlichen Erfolg wir erzielt haben. Oder mit welcher Wirkung wir Fragen der Prekarisierung mittlerweile zum Gegenstand machen. Gegen meine eigene Erwartung haben wir es in dieser Regierungskoalition zudem geschafft, in weiteren Branchen Mindestlöhne durchzusetzen. Wir sind auch in intensiven Gesprächen über eine Neuregelung der Leiharbeit.

Wir hören vorsichtiges Lob - gleichzeitig warnt der DGB bei jeder Wahl vor schwarz-gelben Koalitionen.
Zur Wahrnehmung von Interessen gehört, dass man seinen Standpunkt deutlich bezieht und vor Gefahren warnt, wenn man sie sieht. Dies darf man allerdings nicht allein parteipolitisch sortieren nach dem Motto: Die einen haben immer recht, und die anderen haben prinzipiell unrecht. Leider mussten wir in den vergangenen Jahren erleben, dass das so eindeutig nicht ist. Was die Bundesregierung allerdings bei der Gesundheitsreform oder in der Steuerpolitik vorhat, lässt nichts Gutes erwarten. Dazu können und werden wir nicht schweigen. Zudem muss man sehen, dass eine Partei wie die FDP in Programm und Praxis in den allermeisten Teilen eine gegen die Arbeitnehmer gerichtete Politik betreibt. Gleichzeitig stelle ich aber auch fest, dass in dieser Regierung nicht generell der Schwanz mit dem Hund wedelt.

Was steht jetzt bei der Wahl in NRW auf dem Spiel?
Dort wird sich entscheiden, ob es wieder eine blinde Hinwendung zu einer neokonservativen Politik geben wird. Wenn Schwarz-Gelb in NRW bestätigt würde, muss man davon ausgehen, dass sich insgesamt diejenigen bestätigt fühlen, die wegwollen von Sozialstaatlichkeit und die den Beschäftigten ihre Würde nehmen wollen. Geht ihnen in NRW die Mehrheit verloren, würden diese Kräfte geschwächt. Deswegen ist das so eine spannende Wahl.

Sie betonen immer wieder, die soziale Balance in unserem Land sei in Gefahr.
Davon bin ich zutiefst überzeugt. Ich sehe mit großer Sorge die deutliche Zunahme von prekärer Beschäftigung - übrigens in allen westeuropäischen Industriestaaten. Ob das die jungen Leute sind, die in die Prekarität hineinwachsen, ob das Frauen sind, denen man ihre gerechte Teilhabe vorenthält, ob es der Versuch ist, auf die Mittelschichten, die gut ausgebildeten Facharbeiter und Akademiker Druck auszuüben. Das droht die soziale Balance zu zerstören. Dazu kommt, dass diese Prekarisierung des Arbeitslebens zu einer Prekarisierung der Gesellschaft insgesamt führt.

Wie muss eine Politik aussehen, die es besser macht?
Existenzsichernde Arbeit ist eine Bedingung für ein menschenwürdiges Leben. Wir aber haben Angriffe auf die Würde von arbeitenden Menschen erlebt, wie wir uns das vor einem Jahrzehnt nicht hätten vorstellen können. Das weiß keiner so gut wie die Verkäuferinnen, die in der Umkleidekabine gefilmt wurden.

Wie sieht Ihre Vision der Arbeitsgesellschaft von morgen aus?
Wir müssen die Flexibilisierung der Arbeitswelt als eine gesellschaftliche Tatsache annehmen, aber wir dürfen uns nicht mit der Form abfinden, in der sie heute stattfindet. Wir müssen immer fragen: Wo entspricht sie den Bedürfnissen der Menschen, wo den ökonomischen Bedingungen? Ich weiß, dass wir die alte Ordnung des Normalarbeitsverhältnisses nicht wieder herstellen können. Also müssen wir auf den Arbeitsmärkten eine neue Ordnung schaffen, die Sicherheit und Qualität von Arbeit mit Flexibilität verbindet. Dazu müssen wir auch die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest machen. Hier verspreche ich mir in den nächsten Jahren spannende Debatten. Und hoffentlich auch eine richtige Politik.

Auf dem aktuellen Bundeskongress wird über eine Strukturreform des DGB entschieden. Auch um die begrenzten materiellen Ressourcen gut nutzen zu können. Worum geht es?
Es muss deutlich werden, was der DGB ist und was er leisten kann und soll. Er ist der Bund der Gewerkschaften - und nicht eine eigenständige neunte Organisation. Das ist der Ausgangspunkt unserer gewerkschaftlichen Arbeit. Dieses Verständnis haben wir jetzt in einen Satzungsentwurf gegossen, der dem Kongress zur Annahme empfohlen wird. Ich hoffe, dass es uns insgesamt gelingt, für mindestens die nächsten zehn Jahre die Gewerkschaften so aufzustellen, dass sie mit ihrem Bund zusammen zukunftsfähig sind.

Der DGB gibt sich seine Agenda 2020?
Wir bestimmen auf dem DGB-Kongress die Ziele für die nächsten vier Jahre.

Was soll der DGB im kommenden Jahrzehnt für seine acht Mitglieder leisten?
Der DGB ist das politische Sprachrohr der Gewerkschaften und steht für das gemeinsame politische Handeln als Gewerkschaftsbewegung - durch die Bündelung und Verallgemeinerung von Positionen, durch die Einflussnahme auf die Gesellschaft und die Politiker, durch die Beilegung von organisationspolitischen Streitigkeiten. Ich hoffe sehr, dass der Kongress unsere Vorschläge annimmt.

Der DGB und sein Vorsitzender Sommer haben immer über den nationalen Tellerrand hinausgeschaut. Was sind die internationalen Themen auf diesem Kongress?
Er wird deutlich machen, auf welchen Feldern wir weiter Antikrisenpolitik betreiben müssen. Dass eine einzige Krise, ausgelöst von ein paar Spekulanten und den von ihnen freigesetzten Mechanismen, eine gesamte Weltökonomie zu zerstören drohte, das ist ein neues Phänomen. Die Antwort auf diese Krise muss die Wiederherstellung des Primats der Politik sein - und zwar weltweit. Anders kann man den Verursachern das Handwerk nicht legen. Darin liegt eine der wesentlichen Aufgaben der Gewerkschaften. Wir werden uns dafür allerdings internationaler aufstellen müssen.

Es ist kein Geheimnis, dass Sie im Juni in Kanada zum Präsidenten des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) gewählt werden sollen. Welches Signal geht von dieser Kandidatur aus?
Dass ich von einer breiten Mehrheit der internationalen Gewerkschaftsbewegung unterstützt werde und von vielen Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt aufgefordert wurde, für dieses Amt zu kandidieren, ist eine große Ehre. Dass nun ein deutscher Gewerkschafter - und Europäer - erstmals IGB-Präsident werden soll, hat sehr viel damit zu tun, dass die deutsche Gewerkschaftsbewegung international hohes Ansehen genießt. Meine vorgesehene Wahl, die zur Voraussetzung hat, dass ich zunächst als DGB-Vorsitzender wiedergewählt werde, wäre eine Anerkennung der Solidaritätsarbeit der deutschen Gewerkschaften und der Art, wie wir mit der Globalisierung umgehen. Es ist übrigens ein Ehrenamt, denn wir wählen auch eine neue hauptamtliche Generalsekretärin. Sharon Burrow und mir geht es um die weltweite Durchsetzung von anständiger, guter Arbeit.

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