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Magazin Mitbestimmung

: Aktiv gegen die Lohndrücker

Ausgabe 09/2011

LEIHARBEIT Nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichtes klagen ein paar Hundert Leiharbeiter auf Lohnnachzahlung. Die Gewerkschaften unterstützen sie, während die Arbeitgeber mit Drohgebärden kontern. Von Guntram Doelfs

Guntram Doelfs ist Journalist in Berlin. 

Zehn Jahre lang schwieg Susanne Hartig, deren wirklichen Namen wir hier nicht nennen. Die gelernte Industriekauffrau und studierte Diplom-Betriebswirtin schluckte herunter, dass sie für die gleiche Arbeit erheblich weniger Geld bekam. Ob beim Lohn, der Zahl der Urlaubstage oder beim Weihnachtsgeld – immer zog sie den Kürzeren. Dass ihr Lohn wie Kugelschreiber und Druckerpatronen aus dem Sachmitteletat des Großunternehmens bezahlt wird, erzählt sie allenfalls in einem Anfall von Sarkasmus. Einen festen Arbeitsvertrag hat die 35-Jährige bis heute nie kennengelernt, obwohl sie seit Jahren in einem Vollzeitjob arbeitet. Es hat sie geärgert und verletzt, aber bislang war die Berliner Leiharbeiterin froh darüber, „überhaupt einen Job und nette Kollegen zu haben“. Nun ist es mit ihrem Stillhalten vorbei. Wie ein paar Hundert andere Leiharbeiter verklagt sie derzeit ihre Leiharbeitsfirma auf Lohnnachzahlung. 

Anlass für die zahlreichen Prozesse ist die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 14. Dezember 2010, in dem die Richter der „Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit“ (CGZP) die Tariffähigkeit absprachen. Somit handelte es sich um eine Scheingewerkschaft. Nicht wenige Leiharbeitsfirmen hatten eine Regelung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) ausgenutzt, nach der durch einen Tarifvertrag vom Equal-Pay-Gebot abgewichen werden kann. Sie schlossen mit mitgliederschwachen christlichen Gewerkschaften Haustarifverträge zu Dumpingkonditionen – mit Stundenlöhnen von fünf Euro brutto oder weniger. 

Dieser Praxis schoben die Erfurter Bundesarbeitsrichter nun einen Riegel vor und das bringt Bewegung in die Branche. Immer mehr Unternehmen, die bislang mit Leiharbeitsfirmen mit CGZP-Tarifen zusammenarbeiteten, wechseln zu Verleihern, die die Tarifverträge mit der DGB-Tarifgemeinschaft anerkennen. Über genaue Zahlen schweigen die Arbeitgeberverbände. Klar ist jedoch der Grund: Es drohen Nachzahlungsforderungen von Leiharbeitnehmern und Sozialversicherungsträgern in Milliardenhöhe. In der Haftung für nicht bzw. zu wenig gezahlte Sozialversicherungsbeiträge ist zunächst der Verleiher. Gibt es dort nichts zu holen, greift laut Verena zu Dohna-Jaeger, die beim IG-Metall-Vorstand juristisch das Thema Leiharbeit betreut, gemäß § 28e SGB IV die gesamtschuldnerische Haftung. Damit wären auch die Entleihunternehmen mit im Boot. Angesichts von Arbeitsbiografien wie jener von Susanne Hartig kann das teuer werden. 

60.000 EURO NACHFORDERUNG_ Zugleich starteten IG Metall oder ver.di Kampagnen. Sie wollen Leiharbeiter animieren, ihre rechtmäßigen Ansprüche einzufordern. „Ohne das BAG-Urteil und die Hilfe der IG Metall hätte ich mich sicher nicht getraut, die Klage einzureichen“, erzählt IG-Metall-Mitglied Susanne Hartig. Gleichwohl ist die Betriebswirtin besonders mutig. Denn sie verklagt die Leiharbeitsfirma, für die sie noch immer arbeitet. Bislang eine Ausnahme, denn die beklagten Leiharbeitsfirmen „halten sich nicht mit Drohungen auf. Sie trennen sich ohne weiteres von ihnen missliebigen Mitarbeitern“, schildert Verena zu Dohna-Jaeger. Auch Susanne Hartig rechnet damit, dass ihre Zeitarbeitsfirma, ein Frankfurter Unternehmen mit rund 7000 Leiharbeitern, sie vor die Tür setzen wird. „Das ist mir egal. Ich habe jahrelang alles heruntergeschluckt. Damit ist jetzt Schluss“, sagt sie selbstbewusst. Und ergänzt lächelnd, dass sie rund 60.000 Euro nachfordert. 

Nachzahlungsforderungen dieser Höhe sind eher die Ausnahme. „Die Spannbreite reicht von wenigen Tausend bis zu 30.000 Euro und beträgt im Durchschnitt wohl um die 10.000 Euro“, schätzt Agnes Schreieder, Vize-Leiterin des ver.di-Landesbezirks Hamburg. Besonders in der Hansestadt häufen sich die Klagen, weil von den rund 30 000 Hamburger Leiharbeitern laut Schreieder „50 Prozent und mehr“ von den Dumpingtarifen der CGZP betroffen waren. Rund 50 Leiharbeiter unterstützt ver.di dort juristisch. Längst nicht alle Fälle enden in einer Klage. Häufig streben auch die Leiharbeiter eine schnelle Vergleichslösung an, selbst wenn sie dabei erhebliche Abstriche bei ihren Forderungen in Kauf nehmen müssen. Wie realistisch das Schreckensszenario Kündigung für klagende Leiharbeiter ist, zeigen erste Erfahrungen in Hamburg. „Wir waren bereits gezwungen, eine Forderung von zwei Mitarbeitern einer Leiharbeitsfirma mit einer Kündigungsschutzklage zu kombinieren“, berichtet Agnes Schreieder. 

Exakte Zahlen darüber, wie viele Leiharbeiter tatsächlich den juristischen Weg einschlagen, liegen nicht vor. So hat die Bundesregierung keinen Überblick über die Zahl der Klagen, wie sie Anfang Juni auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag mitteilte. Auch den DGB-Gewerkschaften fehlt noch ein klarer Überblick, da nur ein kleiner Teil der Leiharbeiter in Gewerkschaften organisiert ist und die Klagen von Mitgliedern gerade erst anlaufen.

Martina Trümner, Justiziarin im ver.di-Bundesvorstand, schätzt die bundesweite Gesamtzahl der von ver.di juristisch vertretenen Leiharbeiter auf rund 100. In ähnlichen Größenordnungen bewegt sich derzeit wohl auch die IG Metall, die allein 40 Betroffene im Großraum Berlin vertritt. Generell gilt: Die Mehrzahl der Betroffenen sind ostdeutsche Leiharbeiter, weil im Osten besonders viele Firmen das Lohndumping der CGZP nutzten. 

Arno Fischer-Schaub ist einer der Kläger. Seit 2004 ist der 46-jährige Berliner Leiharbeiter. Er kann sich noch gut an seinen ersten Stundenlohn erinnern. „5,04 Euro brutto waren es damals“, erinnert sich der Lagerist. Trotz Vollzeitjob kam er mit Überstunden monatlich auf nur 900 Euro brutto. Das Geld hätte hinten und vorn nicht zum Leben gereicht, wenn die Frau von Fischer-Schaub nicht gut verdient hätte. Schaub leitete seine Klage im April ein, nachdem er seine Leiharbeitsfirma gewechselt hatte. „Vorher hätte ich das nicht gemacht“, erzählt er. Sein Wechsel kam auch auf Druck der Entleihfirma Stadtler zustande, bei der Fischer-Schaub seit 2007 als Leiharbeiter tätig ist. Im März beendete Stadtler die Zusammenarbeit mit seinem bisherigen Verleiher Hueber. Stadtler wollte nach dem BAG-Urteil nicht länger mit dem CGZP-nahen Personaldienstleister zusammenarbeiten.

Inzwischen ist Fischer-Schaub zu der Zeitarbeitsfirma INCON GmbH gewechselt. Die bezahlt nach dem Tarifvertrag der „Interessengemeinschaft Zeitarbeit“ (IGZ), der mit den DGB-Gewerkschaften ausgehandelt wurde. Berauschend sei sein Verdienst immer noch nicht, „aber ich habe mich total verbessert“, sagt er. Heute verdient Fischer-Schaub bei 154 Arbeitsstunden monatlich mehr als vorher mit mehr als 190 Arbeitsstunden bei Hueber. Sein Nettogehalt liegt inzwischen bei 1200 Euro. Positiv war für ihn zudem, dass Stadtler signalisierte, weiter mit ihm zusammenarbeiten zu wollen. Allerdings nur als Leiharbeiter. 

Große Chancen malt sich IG-Metall-Mitglied Fischer-Schaub mit seiner Klage nicht aus. „Ich rechne mit nichts, dann werde ich nicht enttäuscht“, sagt er. Würden nur zehn Prozent aller betroffenen Leiharbeiter tatsächlich klagen, würden viele Verleihfirmen sicher in die Insolvenz gehen. „Und wir wären dann in der Öffentlichkeit auch noch schuld dran“, glaubt der Berliner. Damit beschreibt er exakt das Schreckensszenario, mit dem die Arbeitgeber derzeit Leiharbeiter von Klagen abzuhalten versuchen. 

DROHSZENARIEN_ Petra Jentzsch, die bei der Berliner IG Metall Leiharbeitnehmer betreut, erlebt das regelmäßig. „Man versucht, den Betroffenen ein schlechtes Gewissen einzureden, und deutet schlimme Konsequenzen an.“ Parallel dazu versuchen die Leiharbeitgeber, Politik und Öffentlichkeit mit angeblichen Massenpleiten und damit verbundenem Arbeitsplatzabbau einzuschüchtern. „Dabei ist das eine unsinnige Drohung, denn die Arbeitsleistung wird im Entleihbetrieb erbracht und nicht beim Verleiher“, sagt ver.di-Justiziarin Martina Trümner. Wie schrill arbeitgebernahe Juristen inzwischen gegen die Gehaltsnachforderungen der Leiharbeiter auftreten, zeigte sich Ende Juli. In einem FAZ-Beitrag unterstellten die Münchner Arbeitsrechtler Volker Rieble und Richard Giesen vom Zentrum für Arbeitsrecht indirekt eine Art Kumpanei der Erfurter Bundesrichter mit den DGB-Gewerkschaften. Mehr noch: Sie bezeichneten die Nachleistungsforderungen der Sozialversicherungsträger als „staatlich organisierte Schutzgelderpressung“. Diese sind nach einigem Zögern aktiv geworden. So forderte die Deutsche Rentenversicherung (DRV) 1500 Verleihfirmen zu Nachzahlungen auf und leitete Anfang Juli die ersten Betriebsprüfungen ein. 

Derzeit versucht die Arbeitgeberseite, Klagen und Nachzahlungsforderungen mit allerlei juristischen Tricks zu verzögern. Ihr Argument: Die Beitragsschuld gelte nicht mit Beginn der Tarifverträge, sondern erst ab dem Zeitpunkt der vom BAG festgestellten Tarifunfähigkeit, dem 14.12.2010. Damit käme die Branche billig davon. Bisher sind einige Arbeitsgerichte dieser Sichtweise zunächst gefolgt und haben Verfahren bis zur Klärung dieser Frage ausgesetzt. „Diese Rechnung der Arbeitgeber wird nicht aufgehen“, ist sich dagegen IG-Metall-Juristin Verena zu Dohna-Jaeger sicher. Sie stimmt optimistisch, dass in jüngster Zeit Arbeitsgerichte in Herford, Berlin und Frankfurt (Oder), Chemnitz und Bremen eben genau diese Tarifunfähigkeit in der Vergangenheit bejahten und damit auch Nachzahlungsansprüche aus früheren Jahren gerechtfertigt sehen. Auch Susanne Hartig will ihre Klage durch alle Instanzen durchfechten, obwohl auch sie Ende Januar in der ersten Runde vor dem Berliner Arbeitsgericht eine Niederlage einstecken musste. „Ich habe diesen Weg nun mal eingeschlagen und werde ihn definitiv zu Ende bringen.“

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