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Panzerrohre Magazin Mitbestimmung

Geschichte: Panzerrohre zu Pflugscharen

Ausgabe 02/2020

Vor 75 Jahren befreiten die Alliierten Europa vom Nationalsozialismus. Deutschland lag in Trümmern, doch die Menschen mussten versorgt werden. Betriebsräte und Gewerkschafter nahmen den betrieblichen Neubeginn in die Hand. Von Witich Roßmann, Historiker und Vorsitzender des DGB-Stadtverbands Köln

Wolfszeit – jetzt kämpft jeder gegen jeden. So beschreibt Harald Jähner in seinem gleichnamigen Bestseller das Nachkriegsdeutschland. Der Kölner Kardinal Frings segnet den Kohlenklau von Güterwaggons, Städter stürmen Bauernhöfe auf der Suche nach Eiern, Speck, Kartoffeln, Noch-Wohnungsbesitzer wehren sich gegen Zwangseinquartierungen von Flüchtlingen. Am 8. Mai 1945 befreien die Alliierten Europa endgültig vom Nationalsozialismus. Im Unterschied zum Kriegsende 1918 übernehmen nicht Arbeiter und Matrosen die Macht. Vier Besatzungsmächte teilen Deutschland auf. Zwei Drittel der Transportwege, der Schienen, der Straßen, der Loks, Waggons und Lkw sind zerstört oder nicht einsatzfähig. Diesen Teil der Nachkriegsgeschichte kennen wir.

Die Geschichte der stillen Helden der Arbeit wurde dagegen aus dem kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft verdrängt. Ohne offizielle Mandate, allein aus antifaschistischer Überzeugung und Verantwortungsgefühl für die Belegschaften organisieren Arbeiterausschüsse um die alten Betriebsräte aus der Weimarer Zeit 1945 den betrieblichen Neubeginn: Freilegung der Produktionsanlagen aus den Trümmern, Rückholung der teilweise unterirdisch verlagerten Maschinen, Reparatur der Anlagen, der Strom- und Wassernetze. In den Zechen, Kraftwerken und Stahlhütten des Ruhrgebiets sorgen sie für die Produktion von Brennstoffen, Energie, Stahl und Eisen. Denn auch eine rationierte deutsche Gesellschaft braucht Lebensmittel, Textilien, Brennstoffe zum Überleben.

"Zum Wohle der Menschheit"

Die Rüstungsproduktion legen die Besatzer still; sie demontieren 600 Rüstungsfabriken, die meisten in Ostdeutschland. Betriebsräte organisieren die Umstellung auf zivile Produkte. Beispiel Wetzlar: Friedrich Flick, Eigentümer von Buderus, und Herman Röchling, Eigentümer der Röchling Stahlwerke, sitzen 1945 in französischer und amerikanischer Haft und warten auf ihre Kriegsverbrecherprozesse. Währenddessen konferieren die Betriebsräte und Gewerkschafter mit den Besatzern, wenden umfangreiche Demontagen ab und organisieren die Produktion dringend gebrauchter Produkte. Aus dem Material der Rüstungsgüter produzieren sie bei Buderus wieder Öfen, Herde, Badewannen, Heizkessel, Radiatoren, kleine Handwagen, Kochtöpfe, Kuchenformen oder Waffeleisen. In den Röchling Stahlwerken fertigt die Belegschaft statt Panzerrohren Pflugscharen für die Landwirtschaft. Als in Wetzlar am 5. März 1946 der erste Hochofen wieder in Betrieb genommen wird, erklärt der Betriebsratsvorsitzende Karl Weiß: „Außerdem geloben wir, dass das, was aus diesem Ofen kommt, niemals zu menschenmordenden Geräten verarbeitet wird, sondern zum Wohle der Menschheit.“

Käfer statt Kübelwagen

Die Aktiven der ersten Stunden zivilisieren eine gigantische Rüstungsproduktion innerhalb weniger Monate. Ihnen bleibt keine Zeit, ihre Leistung aufzuschreiben oder in Bildern festzuhalten, und wahrscheinlich kommt ihnen auch nicht der Gedanke. Schließlich haben sie alle Hände voll zu tun, die Bevölkerung wieder mit dem Allernötigsten zu beliefern, und das mit bunt zusammengewürfelten Belegschaften. Zur verbliebenen Mannschaft kommen Flüchtlinge, befreite Zwangsarbeiter und zurückgekehrte Soldaten. Sie bauen in den Wolfsburger VW-Werken erstmals Käfer statt Kübelwagen, Raketen und Granaten und bei Ford in Köln Kleintransporter und Pkw. Daimler und AEG in Berlin produzieren Sicheln, Hacken und Ersatzteile für landwirtschaftliche Maschinen. 

Gleichzeitig hungern und frieren die Arbeiter vor allem in den Großstädten. Vielen fehlt selbst ein Dach überm Kopf. In ländlichen Gebieten oder kleineren Städten wie Wetzlar haben Arbeiterfamilien Gärten oder Nebenerwerbslandwirtschaften, aber in Großstädten wie Köln sind Hunger und Kälte seit dem Winter 1946/47 allgegenwärtig. 

Betriebsräte und Arbeiterausschüsse organisieren Tauschgeschäfte: Friedensprodukte aus den Betrieben gegen Briketts aus den Zechen oder Kartoffeln von den Bauern. In Köln treten Belegschaften 1946/47 immer wieder in Hungerstreiks und protestieren damit gegen die Misswirtschaft in den Verwaltungen, gegen Ungerechtigkeiten bei der Verteilung und illegale Schwarzhandelslager. Die Gewerkschaften fordern, bei Erfassungs- und Verteilungsplänen der Regierung in Nordrhein-Westfalen mitzubestimmen. 

Die Lage für die Arbeiter verschärft sich, als mit der Währungsreform im Juni 1948 die Preise explodieren, während die Löhne auf niedrigem Niveau eingefroren bleiben. Der Unmut gipfelt im Generalstreik vom 12. November 1948, zu dem Hans Böckler und der Gewerkschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebiets aufgerufen hatten. So legen sechs Millionen Beschäftigte in der britischen und 3,25 Millionen in der amerikanischen Zone ihre Arbeit nieder (etwa vier Fünftel aller Beschäftigten der Doppelzone). Im Aufruf stehen gleichberechtigt die sozialen Themen neben den Forderungen für eine gesellschaftliche Neuordnung mit erweiterter Planung und Lenkung der Volkswirtschaft und gleichberechtigter Mitwirkung in allen Organen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung wie den Industrie- und Handwerkskammern. 

Hinter den Forderungen nach Mitbestimmung und Neuordnung steht 1948 im Westen die bittere Erfahrung der Belegschaften, dass die alten Fabrikherren wieder über Eigentum verfügen – trotz umfangreicher Entnazifizierungsverfahren und einiger Kriegsverbrecherprozesse – und nach der Währungsreform die gehorteten Waren mit Höchstgewinnen verkaufen können, während die mit Niedriglöhnen abgespeisten Belegschaften nur staunend vor vollen Schaufenstern stehen. Sie kennen das Geheimnis des Wirtschaftswunders: Die Unternehmen haben im Nationalsozialismus ihre gewaltigen Rüstungsgewinne in modernere und größere Anlagen reinvestiert, damit sie nicht vom Nazistaat besteuert werden. Nur 20 Prozent der Produktionsanlagen sind im Krieg zerstört worden, vier Prozent demontiert. Die Belegschaften haben inmitten der „Wolfszeit“ solidarisch und aus Verantwortung für die Gesellschaft aus Trümmerfeldern die modernsten Produktionsanlagen Europas freigelegt und in Gang gesetzt. Im Osten hingegen tragen die Belegschaften mit umfangreichen Demontagen die Hauptlast der Wiedergutmachung für die Kriegsverwüstungen der Deutschen in Russland.

Mühsames Werben um Mitglieder

Die paritätische Mitbestimmung können die Gewerkschaften mit Urabstimmung und Streik 1951 sichern – allerdings nur in der Montanindustrie. Das 1952 verabschiedete Betriebsverfassungsgesetz ist dagegen ein Rückschritt im Vergleich zu den Ländergesetzen. Immerhin schaffen die Männer und Frauen um Hans Böckler den Neuaufbau der Gewerkschaften als Industrie- und Einheitsgewerkschaften. Betriebsräte und Vertrauensleute unterstützen sie dabei und werben mühsam Mitglieder unter den demoralisierten jungen Arbeitern. In den 50er und 60er Jahren können sie zumindest erfolgreich höhere Löhne und die 40-Stunden-Woche („Samstags gehört Vati mir!“) und damit ihren bescheidenen Anteil am Wirtschaftswunder erkämpfen, das vor allem sie mit ihrer Arbeit 1945/46 auf den Weg gebracht haben. 

Chaja Boebel/Frank Heidenreich/Lothar Wenzel (Hrsg): Neuanfang 1945. Belegschaften und Betriebsräte setzen die Produktion in Gang. Hamburg, VSA 2019

Witich Roßmann: Panzerrohre zu Pflugscharen. Zwangsarbeit Wiederaufbau Sozialisierung Wetzlar 1939–1959. Marburg 1987

Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955. Berlin, Rowohlt 2019

Ulrike Herrmann: Deutschland ein „Wirtschaftsmärchen“. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind. Frankfurt, Westend 2019
 

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