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HSI-Direktorin Johanna Wenckebach Service aktuell

BAG-Urteil zur Arbeitszeiterfassung: „Systeme zur Arbeitszeiterfassung müssen verlässlich, zugänglich & objektiv sein“

Unternehmen müssen auch in Deutschland die Arbeitszeiten der Beschäftigten erfassen. HSI-Direktorin Johanna Wenckebach erklärt, wieso Zeiterfassung für Beschäftigte hilfreich ist, Arbeitszeit damit besser als bisher fair vergütet wird und was bei einem solchen Gesetz beachtet werden sollte.

[22.09.2022]

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in einem aufsehenerregenden Urteil entschieden, dass Unternehmen die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten erfassen müssen. Wie sehen Sie das Urteil?

Zeiterfassung ist Voraussetzung dafür, Beschäftigte vor Gesundheitsschäden durch Überarbeitung zu schützen. Sie ist auch Voraussetzung dafür, dass Beschäftigte ihren Lohn erhalten. Deswegen begrüße ich die bereits bestehende Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung, die das BAG bekräftigt hat, sehr. Ein Gesetz könnte die Pflicht noch klarer fassen und Rechtssicherheit schaffen.

Welche Anforderungen sollten an so ein Gesetz gerichtet werden?

Ein solches Gesetz müsste für alle Beteiligten Rechtssicherheit schaffen, also eindeutig formuliert sein und klare Rechte und Pflichten regeln. Lücken im Gesetz gehen zulasten der Beschäftigten.

Der EuGH hat in seiner Entscheidung aus 2019 sehr präzise Vorgaben gemacht. Demnach müssen Systeme zur Arbeitszeiterfassung verlässlich, zugänglich und objektiv sein.

Wichtig ist mir die Klarstellung: Zeiterfassung bedeutet nicht, dass Beschäftigte keine Autonomie über ihre Arbeitszeit haben dürfen. Beides geht – und ich meine sogar besser. Zeiterfassung hilft auch Beschäftigten in Branchen mit flexiblen Arbeitszeiten und mobiler Arbeit.

Ganz wichtig ist schließlich auch, an die Rechtsdurchsetzung zu denken. Ohne Kontrollen wird insbesondere da, wo es keine Betriebsräte gibt, weiter eine Umgehung der gesetzlichen Regeln geben.

Zur Person

Dr. Johanna Wenckebach ist Wissenschaftliche Direktorin des Hugo-Sinzheimer-Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung. Seit dem 1. Mai 2022 ist sie ehrenamtliche Richterin am Bundesarbeitsgericht.

Welche Risiken birgt solch ein Gesetz?

Arbeitgeberverbände fordern seit Jahren eine Auflösung der im Arbeitszeitgesetz festgelegten Grenzen, z. B. für die Höchstarbeitszeit, den Acht-Stunden-Tag. Hier darf kein Kuhhandel erfolgen. Auf keinen Fall darf für den Preis einer expliziten Regelung der Arbeitszeiterfassung – einer Pflicht, die wie gesagt ohnehin schon besteht – hier ein Kompromiss gemacht werden, der den Schutz vor Entgrenzung und Überlastung durch das Arbeitszeitgesetz letztlich untergräbt, indem Arbeitszeitgrenzen aufgehoben werden.

Welche Chance bedeutet ein solches Gesetz angesichts des Arbeitsschutzes hinsichtlich Überstunden?

Das Bundesarbeitsgericht hat erst kürzlich in einem anderen Urteil betont, dass die Beweislast bei den Arbeitnehmenden liegt, wenn sie die Bezahlung von Überstunden gerichtlich einfordern. Ein Beschäftigter, dessen Zeit nicht dokumentiert wurde, hat vor Gericht deshalb mangels Beweisen verloren. Hier liegt die Chance, dass Arbeitszeit besser als bisher fair vergütet wird und geleistete Arbeitsstunden auch bezahlt werden. Und natürlich ist die Zeiterfassung auch für den Gesundheitsschutz ein ganz wichtiger Aspekt: Grenzen kann man nur wahren, wenn man weiß, wann sie erreicht sind.

Entstehen auch Gefahren durch die Kontrolle? Unternehmen könnten das ggf. zum Anlass nehmen, Arbeitszeiterfassungen zu implementieren, die eher einen „Überwachungscharakter“ haben. Was muss passieren, damit das nicht geschieht?

Arbeitgeber können sich der Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit nicht unter den Verweis auf Datenschutz entziehen, aber legitimiert ist eben nur die Erfassung von Daten zu dem Zweck, den Arbeitsschutz einzuhalten. Eine darüberhinausgehende Erhebung oder Verarbeitung von Arbeitnehmerdaten ist unzulässig. Dass hier ein Risiko für illegale Überwachung von Beschäftigten besteht, lässt sich nicht von der Hand weisen. Erlaubt ist aber nur, Daten zu Beginn und Ende der Tätigkeit sowie Dauer der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit zu erheben.

Welche Kosten gehen mit der Arbeitszeiterfassung für die Unternehmen einher?

Funktionierende Unternehmen sollten längst Systeme zur Arbeitszeiterfassung haben – und das haben die meisten ja auch, denn die Pflicht dazu ist nicht neu. Ein technisches System anzuschaffen, dürfte niemanden in den Ruin treiben. Wer allerdings bisher auf unbezahlte Überstunden gesetzt hat, um Kosten zu sparen, wird nun noch deutlicher mit dem Gesetz in Konflikt stehen.

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