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Systemrelevant Podcast: Warum man beim Bürgergeld nicht auf Sanktionen setzen sollte

Bettina Kohlrausch analysiert die Debatte um das Bürgergeld – Sparmaßnahmen, Sanktionen und die Suche nach sozialer Gerechtigkeit.

[15.01.2024]

In einer neuen Folge Systemrelevant analysiert WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch die Debatte um die Neuregelungen des Bürgergelds. Noch vor einem Jahr war das Bürgergeld als Hartz IV bekannt. Die Umbenennung erfolgte in Anpassung an die Lohnentwicklung und Inflation, wobei letztere rückwirkend über einen verkürzten Zeitraum berechnet wird. Das Schonvermögen wurde erhöht, der Vermittlungsvorrang abgeschafft, und Anreize für Weiterqualifizierungen wurden geschaffen. Sanktionen wurden nicht vollständig eingestellt, jedoch wurde ein Sanktionsmoratorium eingeführt. Trotz Kritik an der Höhe des Bürgergelds wird es als Schritt hin zu einer nachhaltigeren Integration in den Arbeitsmarkt betrachtet, so Kohlrausch. Die bestehenden Maßnahmen, erklärt die WSI-Direktorin, seien nicht ausreichend, um Armut zu bekämpfen. Menschen in solchen Situationen erfahren weiterhin erheblichen Druck, zum Beispiel hinsichtlich Schwierigkeiten beim Heizen der Wohnung oder beim Kauf von Kleidung. Der Bezug von Bürgergeld bedeutet eine spürbare und als unangemessen empfundene Einschränkung der gesellschaftlichen Teilhabe.

Die aktuelle Diskussion über Sparmaßnahmen beim Bürgergeld betreffen hauptsächlich verstärkte Sanktionen gegen Totalverweigerer*innen. Dies könnte bis zu einer vollständigen Kürzung des Bürgergelds für bis zu zwei Monate führen.

* Korrektur: Anders als von Bettina Kohlrausch erwähnt wird zudem nicht das Weiterbildungsgeld wieder abgeschafft. Gemeint war der Bürgergeldbonus von 75 Euro für Weiterbildungen, die nicht auf einen Berufsabschluss abzielen.

Kohlrausch zeigt sich irritiert über die plötzliche politische Kehrtwende in der Diskussion um das Bürgergeld. Die Debatte um die Erhöhung von Sanktionen sei schädlich, so die wissenschaftliche Direktorin, da sie die Verantwortung verschiebe. Die Annahme, dass höhere Sanktionen Arbeitsanreize schaffen, sei populistisch und durch keine empirischen Belege gestützt. Die meisten Menschen wollen arbeiten, und die Grundvoraussetzungen dafür seien nicht nur materielle Teilhabe, sondern auch soziale Anerkennung sowie demokratische Teilhabe. Die Zahl von Fällen, in denen Menschen lieber Bürgergeld beziehen, sei verschwindend gering. Es sei unsinnig zu glauben, dass die Lösung gesellschaftlicher Probleme in erhöhten Sanktionen liege.

In Bezug auf die geplante Verschärfung von Sanktionen betont Kohlrausch, dass Menschen mit geringer Bildung oft aufgrund fehlenden kulturellen Kapitals betroffen seien und zweifelt an der Unterscheidungsfähigkeit der Jobcenter zwischen Unfähigkeit und Unwilligkeit. Sie warnt vor den potenziellen negativen Auswirkungen von Sanktionen, besonders auf psychisch belastete Menschen und diejenigen, die eine unentgeltliche Pflegeverantwortung tragen. Bettina Kohlrausch mahnt vor einem sehr verengten Leistungsgedanken, der immanent eine Abwertung von Menschen vornimmt, die vermeintlich nicht leistungsorientiert sind und damit auch keinen Nutzen für die Gesellschaft haben. Und führt weiter aus: „Was möchte man eigentlich für eine Gesellschaft sein? Wen betrachtet man für zugehörig? Und wenn man anfängt, die Frage der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft entlang der Frage von Nutzen oder Nicht-Nutzen zu diskutieren, dann wird das eine verhärmte Gesellschaft, dann wird das eine ausgrenzende Gesellschaft und eben keine integrative Gesellschaft.“

Was man nun tun könnte, oder was man lieber lassen sollte, analysiert Bettina Kohlrausch im weiteren Verlauf dieser Folge.

Dr. Irene Becker hat in ihrer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie ein angemessen hohes soziokulturelles Existenzminimum berechnet und festgestellt, dass das Niveau der Kindergrundsicherung je nach Alter der Kinder um 6 bis 30 Prozent höher sein müsste als nach der gesetzlichen Bedarfsermittlung.

Beckers Reformvorschlag sieht vor, die Konsumausgaben der gesellschaftlichen Mitte als Bezugspunkt zu nehmen. So wäre es nach Analyse der Armutsexpertin etwa plausibel, soziokulturelle Teilhabe als gerade noch gegeben zu definieren, wenn Haushalte bei den Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Ernährung, Bekleidung und Wohnen nicht mehr als 25 Prozent und bei sonstigen Bedürfnissen nicht mehr als 40 Prozent von der Mitte nach unten abweichen. Damit lebt die Referenzgruppe zwar deutlich unter der gesellschaftlichen Mitte, hätte aber noch mehr Teilhabemöglichkeiten als bei der bisherigen Berechnung, die den Kindern und damit letztlich der gesamten Gesellschaft schadet.

Moderation: Marco Herack

Alle Informationen zum Podcast

In Systemrelevant analysieren führende Wissenschaftler:innen der Hans-Böckler-Stiftung gemeinsam mit Moderator Marco Herack, was Politik und Wirtschaft bewegt: makroökonomische Zusammenhänge, ökologische und soziale Herausforderungen und die Bedingungen einer gerechten und mitbestimmten Arbeitswelt – klar verständlich und immer am Puls der politischen Debatten.

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