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Armut gefährdet die Demokratie Böckler Impuls

Verteilung: Armut gefährdet die Demokratie

Ausgabe 17/2023

Die soziale Ungleichheit hat sich in den vergangenen Jahren zum Teil weiter verschärft. Darunter leidet auch das Vertrauen in das politische System.

Die Einkommensungleichheit in Deutschland hat während der Coronakrise neue Höchstwerte erreicht und 2022 kaum abgenommen. Auch die Armutsquote war im vergangenen Jahr nach wie vor höher als vor der Pandemie. Das geht aus dem neuen WSI-Verteilungsbericht hervor, für den Jan Brülle und Dorothee Spannagel die aktuellsten vorliegenden Daten aus dem Mikrozensus und dem Sozio-oekonomischen-Panel (SOEP) ausgewertet haben. Laut der Analyse der WSI-Fachleute spiegelt sich die soziale Unwucht auch im Ansehen staatlicher Institutionen: Mehr als die Hälfte der Armen hat nur wenig Vertrauen in die Politik, rund ein Drittel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem Maße.

Indizien für gewachsene Ungleichheit der Einkommen

Am Gini-Koeffizienten, der die Einkommensungleichheit auf einer Skala von null bis eins misst, hatte sich laut dem Verteilungsbericht in den Jahren vor der Pandemie wenig geändert, nachdem es vor allem zu Beginn des Jahrtausends zu einem deutlichen Anstieg gekommen war. 2020 hat sich der Koeffizient dann gegenüber dem Vorjahr von 0,29 auf 0,30 erhöht – wobei ein direkter Vergleich zwischen den beiden Jahren nur eingeschränkt möglich sei, weil es im ersten Corona-Jahr methodische Änderungen beim Mikrozensus und einige Erhebungsprobleme gab, so Brülle und Spannagel. Auch 2021 und 2022 sei es beim Gini-Wert von 0,30 geblieben.

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Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man das Einkommen des obersten Fünftels in der Einkommenspyramide mit dem des untersten vergleicht: Von 2010 bis 2019 hatte das obere Quintil meist das 4,3-Fache zur Verfügung, 2020 das 4,5-Fache, 2021 das 4,7-Fache. Für das Jahr 2022 ergibt sich ein Verhältnis von 4,6. Das sei „bei aller gebotenen Vorsicht in Anbetracht der Einschränkungen in der Vergleichbarkeit der Daten ein Hinweis darauf, dass die Einkommensungleichheit gestiegen ist“, schreiben die Forschenden.

Armut: Corona hat die Lage verschlimmert

Eindeutig zugenommen hat laut der Untersuchung die Einkommensarmut. Als arm gelten gemäß der üblichen wissenschaftlichen Definition Menschen, deren bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt. Sehr arm sind Personen, die nicht einmal auf 50 Prozent kommen. Für einen Singlehaushalt entspricht das maximal 1200 beziehungsweise 1000 Euro im Monat.

Im Jahr 2022 lebten 16,7 Prozent der Bevölkerung in Armut, 10,1 Prozent sogar in strenger Armut. 2010 waren es noch 14,5 und 7,7 Prozent. Während der Coronakrise stieg die Armutsquote zunächst weiter an, wobei auch hier der Vergleich zwischen 2020 und den vorherigen Jahren nur eingeschränkt möglich ist. Von 2021 auf 2022 sank sie geringfügig von 16,9 auf 16,7 Prozent. ­Als eine mögliche Erklärung nennen Brülle und Spannagel die Entlastungsmaßnahmen, die die Politik 2022 auf den Weg gebracht hat. Auch wenn die oberen Einkommens­schichten in absoluten Zahlen mindestens ähnlich stark profitiert haben, habe die Bundesregierung mit ihrer Anti-Krisen-Politik möglicherweise einen kleinen Beitrag zur Armutsbekämpfung geleistet.

Kaum Geld für Kleidung oder Heizung, große Sorgen

Die WSI-Auswertung macht anschaulich, dass Armut selbst in einem reichen Land wie der Bundesrepublik nicht selten mit deutlichen alltäglichen Entbehrungen verbunden ist. Bereits im Jahr vor der großen Teuerungswelle war neue Kleidung unerschwinglich für 17 Prozent der Menschen, die „dauerhaft“, also über fünf oder mehr Jahre, unter der Armutsgrenze lebten. Unter den Menschen, die nicht durchgehend, sondern nur temporär arm waren, betrug der Anteil 8 Prozent. Knapp 59 Prozent der dauerhaft und gut 34 Prozent der temporär Armen hatten keinerlei finanzielle Rücklagen. Mehr als 4 Prozent der dauerhaft Armen fehlte schon im Jahr vor der Energiepreisexplosion das Geld, die Wohnung angemessen zu heizen, 5 Prozent konnten nicht einmal neue Schuhe kaufen.

Wenig überraschend ist, dass sich arme Menschen überdurchschnittlich oft große Sorgen um ihre eigene wirtschaftliche Situation oder um die eigene Altersversorgung machen. Auch bei der allgemeinen Lebenszufriedenheit schneiden sie schlechter ab – und bei der Gesundheit: Mehr als ein Drittel der dauerhaft und 27 Prozent der temporär Armen machen sich große Sorgen um die eigene Gesundheit. Unter den Einkommensreichen ist dagegen weniger als ein Zehntel sehr besorgt.

Fehlende Anerkennung fördert Politikverdrossenheit 

Auch in der alltäglichen Interaktion mit anderen Menschen wird soziale Ungleichheit spürbar: Gut 24 Prozent der dauerhaft Armen geben an, dass andere auf sie herabsehen. Dagegen nehmen das weniger als 14 Prozent der temporär Armen, 8 Prozent der Personen mit mittleren Einkommen und nur 3 Prozent der Einkommensreichen so wahr. Einkommensreiche Menschen geben zu 48 Prozent an, dass andere oft zu ihnen aufschauen, dauerhaft Arme nur zu 28 Prozent.

„Solche Unterschiede im Erleben von Anerkennung und Missachtung können eine Entfremdung unterer Einkommensklassen von der Gesellschaft, aber auch vom politischen System begünstigen“, warnen Brülle und Spannagel. Tatsächlich gibt es unter den Einkommensreichen nur wenige – deutlich unter zehn Prozent – die der Polizei oder dem Rechtssystem nicht oder wenig vertrauen. Dauerhaft Arme hingegen misstrauen zu knapp 22 Prozent der Polizei und zu fast 37 Prozent dem Rechtssystem. Ein geringes Vertrauen in den Bundestag geben knapp 19 Prozent der Einkommensreichen, gut 40 Prozent der temporär und gut 47 Prozent der dauerhaft Armen zu Protokoll. In Bezug auf Politikerinnen und Politiker sprechen gut 58 der dauerhaft und fast 54 Prozent der temporär Armen von geringem Vertrauen, gegenüber Parteien tun das 56 beziehungsweise knapp 54 Prozent. Allerdings äußert in beiden Fällen knapp die Hälfte der Menschen mit mittleren Einkommen ebenfalls erhebliche Skepsis. Nur unter den Einkommensreichen erwecken Parteien und Politikerinnen bei einer soliden Mehrheit von rund 63 Prozent größeres oder großes Vertrauen.

Niedriglöhne eindämmen, Reiche in die Pflicht nehmen

„Auch wenn die gesellschaftlichen Auswirkungen der vergangenen Krisen in ihrer Breite noch gar nicht abzuschätzen sind, deutet vieles darauf hin, dass sie die soziale Spaltung in Deutschland vertieft haben“, resümieren Brülle und Spannagel. Dabei erkennen sie durchaus Erfolge im Krisenmanagement der Politik an: Die Entlastungspakete der Bundesregierung hätten gewirkt und Haushalte mit niedrigen Einkommen nachweislich entlastet. „Aber sie waren eben nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein und haben an den strukturellen Ursachen der wachsenden Ungleichheiten nichts geändert.“

Die Forschenden empfehlen, die Grundsicherung auf ein armutsfestes Niveau anzuheben. Das sei beim Einstieg ins Bürgergeld nicht passiert. Immerhin setze die von der Bundesregierung angekündigte Kindergrundsicherung „ein positives Signal“ – auch wenn noch unklar sei, inwiefern sie tatsächlich zur Reduzierung von Armut beitragen kann. Um Armut trotz Arbeit zu reduzieren, brauche es eine zügige und stärkere Erhöhung des Mindestlohns, eine Stärkung der Tarifbindung sowie deutlich mehr „einzelfallorientierte Weiterqualifikationsmaßnahmen“ und einen weiteren Ausbau der Kinderbetreuung, um die Erwerbschancen von Eltern zu verbessern. 

Reiche und Superreiche wiederum sollten laut Brülle und Spannagel stärker an der Finanzierung des Gemeinwohls beteiligt werden. Dazu beitragen könnten ein höherer Spitzensteuersatz, eine progressive Vermögenssteuer sowie das Stopfen von Schlupflöchern in der Erbschaftssteuer. Dabei müsse es bei der Vermögens- und der Erbschaftssteuer hohe Steuerfreibeträge geben, betonen die WSI-Fachleute. „Es geht nicht darum, die Steuern für die Mitte der Gesellschaft zu erhöhen; es sind die Reichen und Reichsten dieser Gesellschaft, die einen größeren Beitrag zu unserem Gemeinwohl leisten müssen.“

Jan Brülle, Dorothee Spannagel: Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie, WSI-Verteilungsbericht 2023, WSI-Report Nr. 90, November 2023

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