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WSI Blog Sielaff Wilke

Mareike Sielaff/Felix Wilke, 18.10.2022: „das tue ich mir einfach nicht an“

Grundsicherung im Spannungsfeld von Legalität und Legitimität: Die Berechtigung zum Leistungsbezug muss immer wieder neu unter Beweis gestellt werden. Für die Inanspruchnahme stellt dies eine zusätzliche Hürde dar.

Die Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen ist ein weit verbreitetes und zeitlich stabiles Phänomen. Wer Anspruch auf Grundsicherung hat, bewegt sich in einem permanenten Spannungsfeld zwischen Legalität und Legitimität. Anspruchsberechtigte müssen immer wieder neu unter Beweis stellen, dass sie des Leistungsbezugs würdig sind. Welchen Einfluss hat das auf die Inanspruchnahme?

Ein Fallbeispiel: Eine junge Frau, nennen wir sie Hannah, lebt allein mit ihrer schwer herzkranken Tochter in einer Kleinstadt in Thüringen. Neben Kindergeld und Unterhaltszahlungen von etwa 500 Euro erhält sie für ihre Ausbildung an der Berufsfachschule 570 Euro Schüler-BAföG. Das Geld ist knapp – auf die Aufstockung mittels ihr zustehender Grundsicherungsleistungen verzichtet sie dennoch. (Der Anspruch auf Grundsicherung ergibt sich aus § 7 Abs. 6 des SGB II, wonach Grundsicherungsleistungen neben dem Schüler-BAföG bezogen werden können. Dass Hannah Anspruch auf Grundsicherung in Höhe von etwa 180 Euro hat, hat sie vom Jobcenter erfahren.)

Das Fallbeispiel stammt aus dem laufenden Forschungsprojekt „Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen“, gefördert durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rahmen des Fördernetzwerkes Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung. Aber auch aus vielen anderen Studien ist bekannt, dass Hannah ein Fall unter vielen ist. Simulationsstudien für Deutschland zeigen zeitlich stabile Nichtinanspruchnahmequoten zwischen 40 und 50 Prozent bei erwerbsfähigen Personen mit Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach SGB II (ALG II) und rund 60 Prozent bei Personen im Ruhestand mit Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) (siehe hierzu Bruckmeier et al. 2021 sowie Buslei et al. 2019). Da Anspruchsberechtigte neben den Grundsicherungsleistungen auf weitere nachgelagerte Leistungen/Vergünstigungen verzichten (z.B. Vergünstigungen im ÖPNV, Coronabonus für ALG II-Beziehende, Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket), stellt sich die Frage, warum der Rechtsanspruch so häufig uneingelöst bleibt.

Warum nutzen Personen die Leistungen nicht?

Die große Verbreitung und zeitliche Stabilität des Phänomens stellen für die Forschung nach wie vor ein Rätsel dar. Sicher, einige Leute werden nicht wissen, dass sie einen Anspruch haben, andere wiederum werden die Mühen der Antragsstellung scheuen, gerade wenn sich die Lebenssituation ohnehin bald wieder ändert. Aber damit lässt sich allenfalls ein Teil des Phänomens erklären. Die Ergebnisse unseres laufenden Forschungsprojekts zeigen: Für ein besseres Verständnis der Nichtinanspruchnahme muss auch die Legitimität des Grundsicherungssystems – also die Anerkennung des Leistungsbezugs durch die Bevölkerung und potentiellen Empfänger*innen als gerechtfertigt – systematisch berücksichtigt werden.

Wir gehen in zwei Schritten vor: Zuerst zeichnen wir ein grobes Bild der Legitimität von Leistungsansprüchen mithilfe quantitativer Indikatoren. Dabei zeigt sich, dass die Legitimität des Grundsicherungsbezugs nicht allein durch den Rechtsanspruch gewährleistet wird, sondern immer auch an normative Überzeugungen der Bevölkerung geknüpft und damit angreifbar ist. Danach zeigen wir exemplarisch anhand des Fallbeispiels von Hannah auf, wie sich die fragile Legitimität des Anspruchs auch in den Einschätzungen und Handlungen von Anspruchsberechtigten zeigt.

Für das Innovationsmodul des Sozio-oekonomischen Panels wurden im Zeitraum 2020/2021 insgesamt 1.066 Personen zu ihrer Einschätzung des Grundsicherungssystems befragt (Akremi/Wilke 2020). Die nachfolgende Abbildung zeigt den Anteil der Personen mit hoher Zustimmung zu den entsprechenden Aussagen. Wir schlüsseln die Ergebnisse nach drei Lebenslagen auf: Personen im Grundsicherungsbezug (SGB II oder SGB XII), Personen in Niedrigeinkommenshaushalten mit potentieller Anspruchsberechtigung und Personen in gesicherter Lage.

Die ersten beiden Items adressieren die sozialstaatliche Verantwortung. Hier finden sich in allen drei Lebenslagen sehr hohe Zustimmungswerte. Insofern wird der sozialrechtliche Anspruch auf Unterstützung also von der Gesellschaft als legitim anerkannt. Gleichzeitig bestehen gegenüber dem System und seinen Leistungsbeziehenden jedoch erhebliche Vorbehalte, wie an den darauffolgenden Items deutlich wird (finanzielle Belastung; Beziehende bemühen sich nicht). Interessanterweise wird die Legitimität des Leistungssystems auch von den Beziehenden und potentiell Anspruchsberechtigten in Frage gestellt. Bei Personen im Niedrigeinkommensbereich sind die Vorbehalte sogar am stärksten ausgeprägt. Anhand der letzten zwei Items wird deutlich, dass im Grundsicherungssystem die Legitimität und Legalität eines Leistungsanspruchs häufig auseinander gehen. Je nach Lebenslage sind 30 Prozent und mehr der Befragten der Meinung, dass Personen zunächst für sich selbst sorgen sollten, statt ihren Rechtsanspruch wahrzunehmen. Ein erheblicher Anteil der Bevölkerung knüpft demnach den legitimen Bezug an normative Zusatzbedingungen, die in der Konsequenz auch eine Aufforderung zur Nichtinanspruchnahme einschließen.

Der Fall Hannah

Der Fall Hannah wurde aus bislang 14 von uns durchgeführten qualitativen Tiefeninterviews ausgewählt. Wir ziehen diesen heran, um exemplarisch aufzuzeigen, wie Rechtsanspruch, Erfahrungen im Umgang mit Behörden, aber auch die Wahrnehmung, ob der Bezug einer Leistung legitim ist, miteinander kollidieren können.

Früher hat Hannah selbst einmal Grundsicherung bezogen. Langwierige Klinikaufenthalte und die zeitaufwändige Betreuung der Tochter machen ihr die Aufnahme einer Erwerbsarbeit unmöglich. Auch Unterhalt bekam sie damals noch nicht. Hannah schildert die Inanspruchnahme von ALG II zu diesem Zeitpunkt als finanzielle Notwendigkeit: „Ich brauchte ja bis dahin die Grundsicherung.“ Inzwischen geht es ihrer Tochter besser und Hannah ist in Ausbildung. Obwohl sie nach wie vor einen Anspruch auf Grundsicherung hat, sagt Hannah heute: „Nein, das tue ich mir einfach nicht an.“

Auf den ersten Blick resultiert die Nichtinanspruchnahme aus „Negativerfahrungen“ und „viel Ärger“ aufgrund fehlerhafter Beratungen durch das Amt und dem hohem zeitlichen wie bürokratischen Aufwand während der Inanspruchnahme. Insbesondere wiederholte Aufforderungen zu Stellungnahmen und scheinbar willkürliche Sanktionsdrohungen setzen Hannah zu.

Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch eine tieferliegende Ursache. Hannah empfindet den Umgang der Behörden mit ihr als einen ständigen Zweifel an der Legitimität ihres Anspruchs auf Grundsicherung und ist es leid, dass sie ihre Würdigkeit andauernd unter Beweis stellen muss. Auch in der Gesellschaft sieht sie sich verschiedensten Angriffen ausgesetzt. Hannah berichtet von negativen Kommentaren anderer, in denen ein Bild von Leistungsbeziehenden gezeichnet wird, welche faul seien, sich aushalten ließen, rauchten und sauften und sowieso nichts hinbekämen. Aus diesem Grund erzählte sie auch nahezu niemandem vom ALG II-Bezug, „weil man“, wie sie sagt, „ganz schnell wirklich in die Schublade gesteckt wird“. Im Umkehrschluss kann Leistungsbereitschaft – also der Willen zu arbeiten – als Voraussetzung dafür gesehen werden, neben dem geltenden Rechtsanspruch auch einen legitimen Anspruch auf Leistungsbezug zu haben. Für Hannah, so zeigt die tiefergehende Analyse des Interviews, ist entscheidend, nicht in diese „Schublade“ gesteckt zu werden. Entsprechend bemüht ist sie, sich deutlich gegenüber vermeintlich Unwürdigen abzugrenzen. Das lässt sich auf mehreren Ebenen beobachten.

Hannah berichtet also von negativen Erfahrungen mit Berater*innen vom Amt – dass sie „ganz herablassend behandelt wurde“. Gerade weil sie selbst darauf achtet, allen Anforderungen gerecht zu werden („pünktlich“, „ordentlich“) empfindet sie den Umgang mit ihr als respektlos. Dabei widerspricht sie den Vorbehalten gegenüber Leistungsbeziehenden nicht per se. Im Gegenteil. Trotz ihrer Situation reproduziert sie bestehende Stereotype: „Es gibt ja manche, die machen gar nichts.“ Sanktionen oder die Androhung dergleichen, die sie in ihrem Fall als Anmaßung auffasst, empfindet sie für „gewisse Personenkreise“ als gerechtfertigt. („Und dann wird natürlich irgendwann sanktioniert.“) Ungerechtfertigt hingegen empfindet sie es, wenn sie selbst in diese „Schublade“ gesteckt und eben solche Maßnahmen erfährt. Sie fordert eine differenzierte Behandlung für diejenigen, die Leistungsbereitschaft zeigen: „Da müsste es eigentlich andere Regelungen geben für Leute, die wirklich bemüht sind, wo was dahintersteht.“

Um zu zeigen, dass bei ihr „was dahinter steht“, befolgt sie alle bürokratischen Regeln in der Kommunikation mit dem Amt. Sie zeigt Leistungsbereitschaft und legt Wert auf Bildung und Kultur: „Man hat eigentlich immer irgendwie gelernt und versucht, weiterkommen oder man hat eben auch immer versucht, mit der Tochter ganz viel Kulturelles zu machen, ja? Eben nicht dieses typische Klischeebild.“

Neben dem Umgang auf dem Amt bemüht sich Hannah bei der Wohnungssuche um Abgrenzung. Aufgrund des ALG II-Bezugs wurden ihr zunächst nur Wohnungen, im – wie sie sagt – „Ghetto“ angeboten. („Man hat schon damals versucht die Leute, die ALG II haben, dort hinzuschieben.“) Erst nachdem sie ihre Situation in einem persönlichen Gespräch schildert, sie also ihre (unverschuldete) Bedürftigkeit offenlegt, werden ihr auch andere Wohnungen gezeigt.

Ansonsten legt Hannah Wert darauf ihre Situation, soweit es geht, privat zu halten. So zeigen sich ihre Abgrenzungsbemühungen auch anhand ihrer äußeren Erscheinung. („Also ich bin nie in Turnhose draußen rumgelaufen. Das gab‘s bei mir jetzt nicht.“)

Heute ist das Geld bei Hannah nach wie vor knapp. Die Aufstockung könnte das Leben finanziell etwas erleichtern und „wäre eine große Überlegung“. Aber nicht nur die Anstrengungen, ihre Würdigkeit nach außen hin zu verteidigen und im Zuge dessen eine angemessene Behandlung einzufordern, halten Hannah von einer Beantragung ab. Auch vor sich selbst muss die Inanspruchnahme legitimiert werden. Schließlich ist es „natürlich auch immer irgendwie schöner zu sagen, ja, ich bekomme Schüler-BAföG und mach die Ausbildung“. Die Strategien der Verheimlichung und Abgrenzung nach außen scheinen für ihr eigenes Selbstverständnis nicht auszureichen. Erst die Nichtinanspruchnahme ermöglicht die gegenwärtig vollständige Abgrenzung gegenüber „der Schublade“. Bezüglich ihres früheren Leistungsbezugs ringt Hannah hingegen nach wie vor mit legitimatorischen Vorbehalten und ist weiterhin um Abgrenzung bemüht.

Generalisierbarkeit und Reformbedarf

Die Generalisierbarkeit des Falls Hannah wird sich im weiteren Forschungsprojekt zeigen. In Verbindung mit den quantitativen Analysen unterstreicht er aber, wie voraussetzungsvoll der Bezug von Grundsicherungsleistungen ist. Die Erfüllung rechtlicher Voraussetzungen allein reicht aus Sicht großer Bevölkerungsteile nicht – hinzu kommen moralische. Für Hannah bedeutet dies aufwändige Abgrenzungsbemühungen – die Nichtinanspruchnahme von Leistungen, die ihr rechtlich zustehen, eingeschlossen.

Der Umstand, dass Legitimitätsvorstellungen gesellschaftlich tief verankert sind und sich nur langsam verändern, stellt sozialpolitische Reformbemühungen vor große Herausforderungen. Die Vorschläge zur Einführung eines Bürgergelds zeigen zwar in die richtige Richtung – ob sie im Fall von Hannah jedoch zum Umdenken geführt hätten, lässt sich bezweifeln. Zielführender für eine Erhöhung der Inanspruchnahme wären grundsätzliche Systemveränderungen. So wäre etwa eine (teil-)automatisierte Kommunikation von Anspruchsrechten denkbar, wie sie bspw. die Grundrente vorsieht.
 

Informationen zum Forschungsprojekt

 „Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen“, gefördert durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rahmen des Fördernetzwerkes Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung
 

Referenzen

Akremi, L./Wilke, F. (2020): Attitudes towards means-tested social benefits and reasons for non-take-up in Germany. A new question module for the innovation sample of the German Socio-Economic Panel. InGRID – Research Note.

Bruckmeier, K./Riphahn, R. T./Wiemers, J. (2021): Misreporting of program take-up in survey data and its consequences for measuring non-take-up, in: Empirical Economics 61, S. 1567–1616.

Buslei, H./Geyer, J./Haan, P./Harnisch, M. (2019): Wer bezieht Grundsicherung im Alter?, in: FNA-Journal (4), S. 1–44.

Richter, D./Schupp, J. (2015): The SOEP Innovation Sample (SOEP IS). Schmollers Jahrbuch 135 (3), S. 389-399.

 

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Die Beiträge der Serie:

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Autor*innen

Mareike Sielaff ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt: "Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistung" an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena.

Prof. Dr. Felix Wilke ist Soziologe und seit September 2021 Professor für Soziologie in der Sozialen Arbeit an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena.

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