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Blogserie Grundsicherung Zander Franke

Thomas Zander/Martin Franke, 27.10.2022: Das neue Bürgergeld – ist es (un)möglich, Armut wirksam zu bekämpfen?

Der Hartz IV-Regelsatz ist nicht armutsfest. Wird das Bürgergeld für ein Leben über dem Existenzminimum ausreichen, Teilhabe ermöglichen und mehr als nur die Grundbedürfnisse abdecken – ohne doch wieder Einschränkungen zu machen, wie bei den Stromkosten?

Pünktlich zum Jahreswechsel am 01.01.2023 soll das Bürgergeld in Kraft treten. Es löst Hartz IV, das einstige Herzstück der „Agenda 2010“, ab, das von Sozialverbänden seit seiner Einführung vehement kritisiert wurde. Zwar unterscheidet sich das Arbeitslosengeld II bereits heute stark von seiner ursprünglichen Ausgestaltung aus dem Jahre 2005, dennoch wurden grundlegende Kritikpunkte seit der Einführung nie ausgeräumt. Umso gespannter wurde das Bürgergeld erwartet, mit dem der Bundesminister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil nichts Geringeres als einen „Systemwandel“ ankündigte.

Ein Paradigmenwechsel?

Liest man die Zielsetzung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung genauer, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es sich beim Bürgergeld wirklich um den versprochenen Paradigmenwechsel handelt. So spricht die Bundesregierung unter anderem von „außergewöhnlichen Herausforderungen“ resultierend aus dem Krieg in der Ukraine, die in der Folge zu „dynamischen Preisentwicklungen bei Energie und Lebensmitteln“ führen. Um diese „außergewöhnlichen Preisentwicklungen abzufedern“ und „Menschen auch in Krisenzeiten verlässlich abzusichern und vor materiellen Sorgen zu bewahren“, ist eine „angemessene Erhöhung der Regelbedarfe“ notwendig (alle Zitate: Gesetzentwurf der Bundesregierung).

Nicht nur Politikwissenschaftler*innen werden hellhörig, wenn der Begriff der „Angemessenheit“ im Kontext von Hartz IV fällt. So hat die Entscheidung über angemessene Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) bis zur Aussetzung in der Corona-Pandemie jahrelang zu Verwerfungen und Rechtsunsicherheit im System geführt, weil Menschen im Hartz IV-Bezug ihre Miet- und Heizkosten nur zum Teil erstattet bekamen und der Begriff je nach Kommune unterschiedlich ausgelegt wurde.

Der Entwurf zum Bürgergeld sieht nun vor, dass der Regelsatz der Grundsicherung von aktuell 449 auf 502 Euro angehoben wird. Betrachtet man die derzeitige Inflation zwischen acht und zehn Prozent, kommt die Erhöhung um etwas mehr als 50 Euro in etwa einem Ausgleich des Verlustes der Kaufkraft gleich. Kann man in diesem Fall von einer „angemessenen Erhöhung“ und von jetzt an auskömmlichen Leistungen der Mindestsicherungssysteme sprechen, wie es die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf tut? Reicht das Bürgergeld zukünftig also für ein Leben über dem Existenzminimum aus, ermöglicht es auch Teilhabe und deckt mehr als nur die Grundbedürfnisse ab? Und macht dabei nicht wie bisher doch Einschränkungen, wie bei den Kosten für Strom?

Unter sozialpolitischen Gesichtspunkten ist dies stark zu bezweifeln; mehr noch: es ist nahezu ausgeschlossen. Zwar ist eine Leistungserhöhung um mehr als 50 Euro für eine alleinstehende Person nicht zu vernachlässigen. Sie hilft dabei, die gestiegenen Preise für Menschen in Grundsicherung abzufedern. Jedoch macht ein Inflationsausgleich allein den Regelsatz nicht automatisch armutsfest, denn dafür hätten die Beträge bereits vorher für ein Leben über dem Existenzminimum ausreichen müssen. Das taten sie aber nicht. So sind im derzeitigen System beispielsweise für den Bereich Strom lediglich 36,44 Euro im Monat vorgesehen. Dieser Betrag reicht schon lange nicht mehr aus, um die laufenden Stromkosten zu decken. Der Fehlbetrag ist in den letzten Jahren von durchschnittlich 83 Euro (2020) auf durchschnittlich 139 Euro (2022) angestiegen. Anders ausgedrückt: Seit der „Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 ist der Regelsatz schrittweise um rund 30 Prozent gestiegen […]. Die Strompreise haben sich im selben Zeitraum jedoch um durchschnittlich 85 Prozent verteuert“. Da sich diese Zahlen auf die Zeit vor dem Krieg in der Ukraine beziehen, ist stark davon auszugehen, dass der Fehlbetrag für Strom in diesem und im nächsten Jahr noch dramatischer ansteigen wird und Betroffene diesen wiederum von ihrem restlichen Regelbedarf absparen müssen.

Auch das Bürgergeld wird nicht armutsfest sein

Der Hartz IV-Regelsatz ist nicht armutsfest, daran haben auch die Anpassungen der vergangenen Jahre nichts ändern können.  Die Krisen der letzten Jahre haben diese Diskrepanz wie unter einem Brennglas nur noch einmal verstärkt aufgezeigt. Dass die Politik jetzt mit dem Bürgergeld reagiert, war dringend notwendig und richtig – reicht aber noch lange nicht aus. Wie hoch ein armutsfester Regelsatz aussehen müsste, hat die Paritätische Forschungsstelle Anfang des Jahres ausgerechnet. Demnach müsste dieser mindestens 678 Euro betragen.

Die Diskussion um die angemessene Höhe des Regelsatzes ist politisch stark aufgeladen. Bereits kurz nach Bekanntgabe der Höhe des neuen Bürgergeldes wurde unter anderem Kritik vom Handwerksverband laut, der von „falsche[n] Anreize[n] für Geringverdiener“ spricht. Diese und weitere Argumente sind hinlänglich bekannt und natürlich muss eine Ampel-Koalition an dieser Stelle Kompromisse finden. Die Bundesregierung hat es jedoch versäumt, in der öffentlichen Debatte stärker auf die finanziellen Nöte der Menschen in Grundsicherung aufmerksam zu machen, beispielsweise indem sie – durchaus selbstkritisch – aufzeigt, in welcher Hinsicht der Hartz IV-Regelsatz aktuell kaum zum Leben ausreicht. Eine Diskussion darüber, wie weit wir die Ärmsten in Deutschland finanziell absichern wollen, wurde nicht geführt. Für einen echten Paradigmenwechsel, bezogen auf den Regelsatz, wären deutlichere Schritte notwendig gewesen, beispielsweise indem die Berechnungsmethode entsprechend reformiert würde (siehe Paritätischer Wohlfahrtsverband 2022; Becker 2022). Ein alleiniger Inflationsausgleich reicht dafür aber nicht aus. Altbekannte Fehler im System sind bestehen geblieben. So sollen Anschaffung sogenannter „weißer Waren“ weiterhin über Kleinstbeträge aus den Regelsätzen angespart werden, um diese zu finanzieren. Aber wie soll das gehen, wenn die Regel noch nicht einmal für die laufenden Stromkosten ausreichen? Das Bürgergeld findet auf diese existenziellen Fragen keine Antworten und zwar in erster Linie, weil die Regelsätze trotz Anpassung weiterhin nicht bedarfsdeckend sind.

Kleine Fortschritte

Es würde dennoch zu kurz greifen, wenn sich eine Beurteilung des Bürgergeldes allein auf dessen Höhe beschränken würde. So enthält das Gesetz auch Änderungen, die unter verschiedenen Gesichtspunkten einen echten Fortschritt im Vergleich zu Hartz IV darstellen. Hierunter fallen etwa die Ersetzung der Eingliederungsvereinbarung durch einen Kooperationsplan, die Einführung einer Vertrauenszeit, der Vorrang von Aus- und Weiterbildung vor prekärer Beschäftigung und auch die geplanten Regelungen zum Vermögen (Staiger 2022).

Darüber hinaus entfällt mit dem Bürgergeld in den ersten beiden Jahren des Leistungsbezugs die Prüfung der Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, sowohl bei selbstgenutztem Wohneigentum als auch bei Mietwohnungen (Gesetzentwurf der Bundesregierung 2022). Dies sorgt bei vielen Leistungsberechtigten in den ersten zwei Jahren für Erleichterung, weil sie sich nicht mehr länger um die mögliche Diskrepanz zwischen tatsächlichen und angemessenen Aufwendungen für Miete und Heizkosten sorgen müssen. Trotzdem besteht diese Rechtssicherheit nur für eine Karenzzeit von zwei Jahren. Danach gilt wiederum das alte System: Jede Kommune entscheidet selbst, welche Kosten für Unterkunft und Heizung sie für angemessen hält. Dieses Verfahren stieß in der Vergangenheit auf viel Kritik und sorgte für eine Vielzahl von Widerspruchs- und Klageverfahren. Für einen echten Systemwandel und für eine wirkliche Rechtssicherheit hätte es an dieser Stelle zumindest einer bundesweit einheitlichen Definition zur Beurteilung der Angemessenheit bei Unterkunfts- und Heizkosten bedurft, damit Leistungsempfänger*innen nach zwei Jahren Karenzzeit nicht wieder vor den gleichen Problemen stehen, die „immerhin rund 65 Prozent aller SGB-II-Berechtigten“ betreffen (Staiger 2022).

Abschließend ändert das Bürgergeld auch nichts daran, dass seit dem 1. Januar 2011 keine Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung mehr durch das Jobcenter für Bezieher*innen von Grundsicherung gezahlt werden. Dieser Missstand sorgt unter anderem dafür, dass Betroffenen der Zugang zu einer (Teil-) Erwerbsminderungsrente erschwert wird, weil diese eine mindestens dreijährige Pflichtbeitragszeit in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung erfordert (§ 43 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 2 SGB VI). Darüber hinaus sammeln Grundsicherungsempfänger*innen in diesem Zeitraum keine weiteren Pflichtbeitragszeiten, was wiederum dazu führt, dass ihre Rentenanwartschaften in diesem Zeitraum nicht weiter steigen. Für einen wirklichen Systemwechsel hätte das Bürgergeld auch hier einen Ansatz finden müssen, damit Menschen im Grundsicherungsbezug nicht automatisch von einem System in das nächste rutschen. Dies ist nicht geschehen, es wurde vielmehr konsequent umgangen. So könnte das Bürgergeld für kleine Renten einen Weg zur Grundrente aufzeigen, indem ältere Grundsicherungsempfänger*innen bspw. 0,3 Entgeltpunkte pro Jahr erhalten und so eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, die Grundrenten-Voraussetzungen zu erfüllen (vgl. § 76g SGB VI).

Fazit

Das Bürgergeld findet noch keine überzeugenden Lösungen für die drängenden Probleme von vielen Armutsbetroffenen. Herauszustellen sind an dieser Stelle besonders der weiterhin zu geringe Regelsatz und die unzureichende Berechnungsmethode. Auch weiterhin wird Armut in die Zeit nach dem Erwerbsleben perpetuiert. Solange diese essenziellen Punkte vom Gesetzgeber nicht behoben werden, kann auch nicht von einem wirklichen Systemwandel die Rede sein. Außerdem blendet die Bürgergeld-Reform andere Sozialleistungen wie beispielsweise das Wohngeld und den Kinderzuschlag aus (Staiger 2022). Zwar bietet das Bürgergeld auch Reformen, die die Situation der Menschen in Grundsicherung spürbar verbessert. Diese allein reichen jedoch nicht aus, um das System grundlegend zu verändern und Armut – auch im Alter – wirksam zu bekämpfen.


Die Beiträge der Serie:

Florian Blank (11.10.2022)
Grundsicherung weiterdenken! – Herausforderungen und Perspektiven

Peer Rosenthal/Regine Geraedts (13.10.2022)
Erste Reformschritte von Hartz IV zum Bürgergeld?

Mareike Sielaff/Felix Wilke (18.10.2022)
„das tue ich mir einfach nicht an“

Claus Schäfer (20.10.2022)
Was ist (die neue) Grundsicherung?

Rolf G. Heinze/Jürgen Schupp (25.10.2022)
Der beständige Wandel zum Grundsicherungsstaat: Krisen als Transformationstreiber

Thomas Zander/Martin Franke (27.10.2022)
Das neue Bürgergeld – ist es (un)möglich, Armut wirksam zu bekämpfen?

 

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Autoren

Thomas Zander ist Landesgeschäftsführer des Sozialverbandes VdK NRW.

Martin Franke ist Referent für Sozialpolitik und Bildung mit dem Schwerpunkt Armut und Pflege beim Sozialverband VdK NRW.

 

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