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HBS Böckler Impuls

Grundsicherung: Zum Leben zu wenig

Ausgabe 09/2006

Turnusgemäß muss die Bundesregierung 2006 den Eckregelsatz der Grundsicherung von 345 Euro überprüfen. Die Berechnungen der Armutsforscherin Irene Becker zeigen: Weil die Ärmsten in den letzten Jahren den Gürtel enger schnallen mussten, besteht formal so gut wie kein Anpassungsbedarf - obwohl das Leben  teurer geworden ist. Das liegt an der gesetzlich festgelegten Methode zur Bestimmung des Existenzminimums, die dem realen Bedarf der Betroffenen nur begrenzt gerecht wird.

Der aktuelle Eckregelsatz orientiert sich an Erhebungen des Statistischen Bundesamtes von 1998, dieses Jahr ist eine Anpassung fällig. Die Wissenschaftlerin der Universität Frankfurt hat anhand der aktuellsten Zahlen - von 2003 - den neuen Satz berechnet. Angesichts der moderaten, aber trotzdem merklichen Preissteigerungen zwischen 1998 und 2003 wäre ein Betrag zu erwarten gewesen, der den heutigen Wert von 345 Euro deutlich übersteigt. Tatsächlich liegt die errechnete Abweichung nur im Bereich weniger Euro.

Der Eckregelsatz ist das für Arbeitslosengeld II, Grundsicherung im Alter, Sozialhilfe, Steuerfreibeträge und Pfändungsfreigrenze maßgebliche Existenzminimum - ohne Berücksichtigung der Wohnkosten. Seine Höhe wird nach dem gesetzlich vorgeschriebenen "Statistik-Modell" in regelmäßigen Abständen anhand der Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ermittelt. Maßgeblich sind die Konsumausgaben einer definierten Bevölkerungsgruppe: des unteren Fünftels der nach dem Einkommen sortierten westdeutschen Einpersonenhaushalte ohne Sozialhilfebezieher.

An ihnen ist das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre aber beinahe spurlos vorbeigegangen: Die Einkommensverteilung hat sich "zu Lasten des untersten Segments verschoben, so dass die betroffenen Bevölkerungsgruppen ihre Konsumausgaben entsprechend anpassen - in Teilbereichen also real reduzieren - mussten". Das erklärt, warum sich rechnerisch kein höherer Eckregelsatz ergibt, so Becker.

=> Fragwürdige Kalkulationen

Die Konsumausgaben der Referenzgruppe betrugen 2003 durchschnittlich 828 Euro. Abzüglich der Ausgaben für Unterkunft und Heizung - die nicht in die Berechnung des Eckregelsatzes eingehen, weil sie Grundsicherungsempfängern gesondert erstattet werden - bleiben 526 Euro. Für den Bedarfssatz der Grundsicherung werden jedoch noch einige Posten herausgerechnet: So bleiben - gemäß der Regelsatzverordnung (RSV) - zum Beispiel 70 Prozent der statistisch ermittelten Ausgaben für "Beherbungs- und Gaststättendienstleistungen" unberücksichtigt. Am Ende kommt ein Eckregelsatz von knapp 350 Euro heraus.

Wie knapp dieser Konsum-Etat bemessen ist, zeigt bereits ein Blick auf die als Bezugsgruppe herangezogenen Alleinstehenden aus der untersten Einkommensgruppe: Ihre Ausgaben übersteigen ihr Einkommen im Durchschnitt um etwa 70 Euro im Monat. Dafür müssen sie entweder ihre Ersparnisse angreifen oder sich sogar verschulden.

Die Bestimmungen der Regelsatzverordnung sind Becker zufolge in mehrerer Hinsicht problematisch:

=> Die Abschaffung einmaliger Leistungen durch die Hartz-IV-Reform führt dazu, dass Grundsicherungsempfänger für größere Anschaffungen - Kleidung, Reparaturen von Haushaltsgeräten etc. - lange sparen müssen. In Anbetracht der klammen Haushaltskasse dürfte das vielen nicht gelingen.

=> Für einige Gütergruppen sind in der RSV unrealistisch niedrige Werte angesetzt. So ist die Einführung der Praxisgebühr 2004 in der Kategorie Gesundheitspflege nicht berücksichtigt. Ein anderes Beispiel: Für "Datenverarbeitungsgeräte", also Computer, und Software sind monatlich nur gut zwei Euro vorgesehen. Ebenfalls zu niedrig bemessen sei der zugestandene Etat für öffentlichen Nahverkehr, kritisiert die Wissenschaftlerin. Das gelte zumindest für Arbeitslosengeld-II-Empfänger, die - vor allem bei der Stellensuche - mobil sein müssen.

Schließlich übt die Autorin der Studie auch grundsätzliche Kritik an der Methodik: Um Zirkelschlüsse - das Einkommen der Sozialleistungsempfänger wird dem Ausgabeverhalten der Sozialleistungsempfänger angepasst - zu verhindern, reiche es nicht aus, die Sozialhilfebezieher aus der Stichprobe herauszunehmen. Aus der Referenzgruppe müssten auch die verdeckt Armen herausgerechnet werden, die ihre Sozialleistungsansprüche nicht wahrnehmen. Außerdem sei fraglich, warum mit den Alleinstehenden eine Referenzgruppe gewählt werde, die überdurchschnittlich von Armut betroffen sei. Würde man beispielsweise das unterste Fünftel der nach dem Einkommen gestaffelten Haushalte von Paaren ohne Kinder als Bezugspunkt nehmen, ergäbe sich ein höherer Regelsatz von etwa 390 Euro.

So berechnet sich der Regelsatz, der das Existenzminimum sichern soll. Zur Grafik

Irene Becker: Bedarfsgerechtigkeit und sozio-kulturelles Existenzminimum, Arbeitspapier zu einer Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, März 2006. mehr Infos zur Studie

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