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HBS Böckler Impuls

Verteilung: Weiter warten auf die Trendwende

Ausgabe 19/2013

Der Abstand zwischen hohen und niedrigen Einkommen ist zuletzt wieder gewachsen. Und auch an der vermeintlichen Entspannung in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre gibt es Zweifel. Die Politik kann und sollte mehr gegen die zunehmende Einkommensungleichheit tun, so das WSI.

So viel ist klar: Die verfügbaren Einkommen in Deutschland sind heute deutlich ungleicher verteilt als vor 10 oder 20 Jahren. Besonders stark hat sich die Schere zwischen 2000 und 2005 geöffnet. Auch im Jahr 2011, dem letzten, für das derzeit Daten vorliegen, ist die Einkommensungleichheit gestiegen, zeigt eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Schwieriger zu klären ist, was in der Zwischenzeit passiert ist und in welche Richtung der Trend zeigt. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass die Polarisierung der Einkommen in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre geringfügig abgenommen hat: So signalisiert der Gini-Koeffizient, das bekannteste Maß für Einkommensungleichheit, einen kleinen Rückgang. Und der Anteil der Löhne am Volkseinkommen ist nach jahrzehntelanger Erosion zwischen 2008 und 2012 wieder angestiegen.

Eine Wende ist aber längst nicht erreicht, zeigt der WSI-Verteilungsbericht. „Unter dem Strich sehen wir gewichtige Indizien dafür, dass noch eine Menge zu tun ist, um eine echte Entspannung der Verteilungsentwicklung zu erreichen. Einzelne positive Tendenzen ergeben keinen stabilen Trend. Und die ärmeren Menschen in diesem Land haben davon bislang überdies kaum profitiert“, fasst Brigitte Unger, die Wissenschaftliche Direktorin des WSI, zusammen.

So hat der Abstand zwischen hohen und niedrigen Löhnen nach Beobachtung der Wissenschaftler seit 2008 erneut zugenommen. Die Armutsquote ist mit einer Ausnahme im Jahr 2010 kontinuierlich gestiegen. Immer häufiger sind auch Erwerbstätige von Armut bedroht. Und die ärmere Hälfte der Bevölkerung kann offensichtlich deutlich weniger sparen als Anfang der 1990er-Jahre. Dadurch sinkt der ohnehin marginale Anteil der weniger Wohlhabenden an den Vermögens­einkommen. „Auch eine private Altersvorsorge ist so kaum möglich“, warnen die WSI-Experten.

Lohnquote: Leichter Anstieg nach langem Rückgang. Der Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen ging seit Mitte der 1980er-Jahre lange Zeit zurück, während das Gewicht der Kapital- und Gewinneinkommen zunahm. In Deutschland sank die bereinigte Bruttolohnquote von 1985 bis 2007 von rund 78 auf etwa 63 Prozent. In der globalen Wirtschaftskrise und danach stieg sie wieder an – bis 2012 auf 68,4 Prozent. Allerdings haben die Wissenschaftler Zweifel, dass der Trend von Dauer ist. Denn er beruht nicht nur darauf, dass seit der erfolgreichen Krisenüberwindung die Löhne im Durchschnitt wieder stärker steigen. Auch die Renditeschwäche vieler Kapitalanlagen prägt derzeit die Statistik.

Schwäche der 2000er-Jahre noch nicht aufgeholt. Zudem sei die geringe Lohnentwicklung in den 2000er-Jahren noch nicht wieder wettgemacht, betont WSI-Tarifexperte Reinhard Bispinck. Die traf viele Arbeitnehmer, vor allem in Dienstleistungsbranchen, und insbesondere die wachsende Gruppe von Beschäftigten, die nicht nach Tarif bezahlt werden. So stiegen branchenübergreifend die durchschnittlichen Tariflöhne zwischen 2000 und 2012 real, also nach Abzug der Inflation, um insgesamt 6,8 Prozent. Im Jahresmittel waren das „bescheidene 0,6 Prozent“, schreiben die Forscher. Noch um einiges schwächer entwickelten sich die Bruttoeffektiveinkommen, die unter anderem auch die Löhne der nicht tariflich bezahlten Beschäftigten berücksichtigen: Real lagen sie 2012 um knapp zwei Prozent niedriger als zur Jahrtausendwende. Der aktuelle Wiederanstieg der Lohnquote sei daher bislang „keine reine Erfolgsstory“. Die könne sich erst entwickeln, wenn die positive Lohnentwicklung stetig anhalte und sich noch verstärke.

Niedrige Lohneinkommen fallen zurück. Gegen die These einer zwischenzeitlich nachlassenden Ungleichheit spricht nach Analyse des WSI auch die Entwicklung von niedrigen, mittleren und hohen Lohneinkommen. Um die zu ermitteln, haben die Forscher bis 2010 reichende Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) ausgewertet, einer Befragung von mehr als 12.000 Haushalten. Da das SOEP sehr hohe und sehr niedrige Einkommen nicht besonders genau erfasst, teilen die Wissenschaftler die Haushalte je nach Höhe ihrer Einkünfte in vier Gruppen auf.

Die WSI-Auswertung zeigt, dass die beiden unteren Viertel oder Quartile nach Abzug der Inflation 2010 etwas geringere durchschnittliche Lohneinkommen hatten als 1991. WSI-Arbeitsmarktexperte Toralf Pusch führt das unter anderem darauf zurück, dass insbesondere im zweiten Quartil überdurchschnittlich viele Menschen in schlecht bezahlten Minijobs oder Leiharbeit beschäftigt sind. Im dritten Quartil stieg das Lohneinkommen geringfügig, im oberen legte es dagegen deutlich zu. Dieser langfristige Trend wurde 2005 und 2006 kurz unterbrochen, damals zogen auch die Lohneinkommen der unteren Hälfte etwas an. Schon ab 2008 musste das einkommensschwächste Quartil aber wieder reale Einbußen hinnehmen, im zweiten Quartil stagnierten die Einkommen seit 2006.

Zu positives Bild nach Gini? Das passt nicht recht zur geringfügig gleicheren Verteilung, die der Gini-Koeffizient ab 2005 bei den verfügbaren Haushaltseinkommen ausweist. Die Forscher vermuten, dass eine methodische Schwäche des Gini-Maßes dafür verantwortlich ist: Es registriert Veränderungen im mittleren Einkommensspektrum stärker als in den Randbereichen und unterscheidet überdies nicht zwischen verschiedenen Formen der Ungleichheit. So könnte die wachsende Distanz zwischen hohen und niedrigen Lohneinkommen dadurch überlagert worden sein, dass bei wohlhabenden Haushalten die Einkommen aus Vermögensanlagen zwischenzeitlich unter der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise gelitten haben. „Aber von dieser scheinbaren Annäherung der Einkommen haben natürlich ärmere Menschen nichts“, sagt WSI-Direktorin Unger.

„Working Poor“: Jeder zehnte Hauptverdiener von Armut bedroht. Erwerbstätige tragen ein geringeres Armutsrisiko als Nichterwerbstätige oder Arbeitslose. In Deutschland ist aber auch die Quote der „Working Poor“ in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen. Atypisch Beschäftigte wie Leiharbeiter tragen ein besonders hohes Armutsrisiko, allerdings stehen sie damit keineswegs allein. Die Armut hat vielmehr die ganze Breite des Arbeitsmarktes erfasst, konstatiert WSI-Sozialexperte Eric Seils. Auch die von manchen Ökonomen aufgestellte These, niedrige Löhne seien kein Problem, weil sie vor allem auf„Zuverdiener“ entfallen, die nur einen kleineren Beitrag zum Haushaltseinkommen leisten, trifft nach Seils’ Analyse nicht zu. Auf Basis des Mikrozensus ergebe sich für 2012 ein Armutsrisiko von 9,5 Prozent unter den Hauptverdienern. Armutsgefährdet ist, wer weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens hat.

Das Armutsrisiko von Haushalts-Hauptverdienern hängt stark vom Lohnniveau der Branche ab, in der sie arbeiten. In der Energieversorgung, bei Banken und Versicherungen, der öffentlichen Verwaltung, der chemischen Industrie oder im Fahrzeug- und Maschinenbau sind weniger als 3 Prozent armutsgefährdet. Am Bau sind es hingegen gut 8, im Medien- und Verlagswesen knapp 11 und im Handel 12,5 Prozent. Stark überdurchschnittlich betroffen sind Beschäftigte in sozialen Berufen und mit 35,8 Prozent im Gastgewerbe.

Sparquote: nur oben stabil. Auch bei den Vermögenseinkommen ist die Ungleichheit kräftig gewachsen. Das zeigt die Entwicklung der einkommensspezifischen Sparquoten. Denn um Kapitaleinkommen zu erzielen, muss erst einmal Geld zurückgelegt werden. Berechnungen des WSI mit dem SOEP ergeben, dass nur das oberste Quartil seine Sparquote in den meisten Jahren seit 1991 bei zehn Prozent des verfügbaren Einkommens stabil halten konnte. Die ärmere Hälfte der Haushalte kann dagegen deutlich weniger sparen als noch Anfang der 1990er-Jahre. Die Sparquoten in den beiden unteren Quartilen sackten von acht bis neun auf fünf bis sechs Prozent 2009 ab. Im Aufschwungjahr 2010 legte zwar das unterste Quartil wieder zu – auf gut sechs Prozent. Da aber auch die einkommensstarken Einkommen mehr sparten, blieb der Abstand erhalten.

Um den Trend zu mehr Ungleichheit nachhaltig zu stoppen, empfiehlt das WSI Reformen in der Arbeitsmarkt- und der Steuerpolitik. „Eine angemessene Lohnentwicklung muss die Teilhabe aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der wirtschaftlichen Entwicklung sicherstellen“, schreiben die Forscher. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und eine „Re-Regulierung im Bereich der prekären Beschäftigungsverhältnisse“ leisteten einen wichtigen Beitrag dazu, „Lohndumping zu begrenzen und eine Ausweitung des Niedriglohnsektors zu verhindern“. Darüber hinaus könne eine Stabilisierung des Flächentarifvertragssystems helfen, über das gesamte Tätigkeits- und Qualifikationsspektrum hinweg angemessene Einkommensbedingungen zu schaffen.

In der Steuerpolitik plädieren die Wissenschaftler dafür, die massive Absenkung des Spitzensteuersatzes seit 1999 zu korrigieren. Daneben sei eine stärkere Besteuerung von großen Vermögen nötig, um eine weitere Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverteilung zu verhindern.

  • Von 1991 bis 2012 haben die Einkommen aus Unternehmens- und Vermögenseinkommen um etwa 9o Prozent zugelegt. Die Arbeitnehmerentgelte blieben deutlich dahinter zurück. Zur Grafik
  • Arm trotz Arbeit - jeder zehnte Hauptverdiener ist in Deutschland von Armut bedroht. Besonders hoch sind die Quoten im Gastgewerbe und im Sozialwesen. Beschäftigte in der Industrie sind selten betroffen. Zur Grafik

Brigitte Unger, Reinhard Bispinck, Toralf Pusch, Eric Seils, Dorothee Spannagel: WSI-Verteilungsbericht 2013:Trendwende noch nicht erreicht (pdf), WSI Report 10, November 2013

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