zurück
HBS Böckler Impuls

Gesundheit: Noch viel Potenzial: Selbstverwaltung der gesetzlichen Krankenkassen

Ausgabe 02/2008

Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) können grundsätzlich einigen Einfluss auf ihre Kasse nehmen. Doch Informationsmängel, Desinteresse und Defizite in der Selbstverwaltung bremsen oft eine effektive Vertretung der Versicherteninteressen, zeigt eine neue Studie.

Wer Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse ist, hat gleich zwei Möglichkeiten, seine Interessen oder seine Unzufriedenheit zu artikulieren. Die erste ist simpel, aber relativ neu: Seit der Liberalisierung im Jahre 1996 kann ein gesetzlich Versicherter wie jeder normale Kunde in einem Wettbewerbssystem seinem Anbieter den Rücken kehren und zu einer anderen gesetzlichen Kasse wechseln. Die zweite Einfluss-Möglichkeit ist eine Spezialität der deutschen Sozialversicherung und hat Tradition: die Selbstverwaltung. In den Verwaltungsräten der Kassen, sitzen - teilweise zusammen mit Delegierten der Arbeitgeber - ehrenamtliche Versichertenvertreterinnen und -vertreter. Sie entscheiden über die Bestellung des Vorstandes und "Fragen von grundsätzlicher Bedeutung". Alle sechs Jahre finden Sozialwahlen statt, um die Obleute zu bestimmen, die über die Listen von Gewerkschaften und Sozialverbänden kandidieren.

Im besten Fall ergänzen sich beide Einflussmechanismen: Die Selbstverwaltungsakteure können als kompetenter "Seismograph der Versicherten" wirken, schreibt eine Forschergruppe, die in einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Projekt Wechselverhalten und Selbstverwaltung untersucht hat. Die Versichertenvertreter haben viel Kontakt zu den Mitgliedern, die sich ihrerseits für die Selbstverwaltung interessieren. Sie nehmen Bedürfnisse und Anforderungen der Versicherten auf und können, falls nötig, beim Kassenapparat intervenieren. Als Ultima Ratio bleibt den Versicherten der Wechsel, bei dem sie gut informiert unter den differenzierten Angeboten verschiedener Kassen aussuchen. So weit die Theorie.

Die Realität sieht auf beiden Seiten schwieriger aus, resümieren die Forscher. Die Sozialwissenschaftler und Gesundheitsökonomen der Hochschulen Bremen, Duisburg-Essen und Fulda diagnostizieren auf der Basis breit angelegter Umfragen unter Versicherten wie Versichertenvertretern sowohl beim Kassenwechsel als auch bei der Selbstverwaltung "Barrieren" und "Funktionsdefizite".

Kassenwechsel mit Hürden. Dabei ist die grundsätzliche Bereitschaft, die gesetzliche Krankenversicherung zu wechseln, unter den mehr als 700 für die Studie befragten Versicherten "hinreichend groß, um Druck auszuüben", attestieren die Wissenschaftler. 27 Prozent haben sogar zwischen 1996 und Anfang 2006 mindestens einmal eine andere Kasse gewählt. Das Bewusstsein für die Wahlmöglichkeit beschränke sich auch nicht auf jüngere, gut verdienende GKV-Mitglieder. "Selbst bei sozial schwächeren Versichertengruppen ist noch eine beachtliche grundsätzliche Wechselbereitschaft erkennbar", so die Wissenschaftler.

Zudem wussten 80 Prozent der Befragten ziemlich genau, wie hoch ihr Beitragssatz ist - ein aus Sicht der Forscher überraschend hoher Informationsstand. In anderen Fragen zeigten sich viele der Versicherten allerdings deutlich schlechter informiert. Weit verbreitet seien falsche Vorstellungen über vermeintliche Risiken, etwa dass die gewünschte neue Kasse Bewerber auch ablehnen oder mit höheren Tarifen belegen könne. Sie stellten "eine große Wechselbarriere dar". Zudem orientierten sich viele Befragte lediglich am Beitragssatz. "Es bleibt zu hoffen, dass die Bedeutung von Versorgungsstrukturen bei der Kassenwahl zunimmt, wenn auch die Vielfalt der Versorgungsangebote wächst", schreiben die Forscher. Und setzen auf mehr Information für die Versicherten.

Sozialwahl ohne Wähler. Deutliche Defizite konstatieren auch viele der gut 360 Versichertenvertreter, die die Forscher befragten. Das beginnt bei der bescheidenen Beteiligung an den Sozialwahlen: 2005 lag sie bei lediglich bei 32 Prozent. Parallel verzichten immer mehr Kassen auf eine echte Wahl. Stattdessen einigen sich die im Verwaltungsrat vertretenen Listen vorab auf ein Personaltableau. Diese so genannten "Friedenswahlen" empfinden etliche Befragte als ebenso problematisch wie die Wissenschaftler. Denn einerseits leidet die Legitimation der Verwaltungsräte. Zum anderen bleiben die Versichertenvertreter den Versicherten mangels Wahlkampf komplett unbekannt.

Mit durchschnittlich rund zwölf Stunden pro Monat investieren die Befragten eine Menge Zeit in ihr Ehrenamt. Der intensive Kontakt zu Versicherten komme jedoch häufig zu kurz, konstatieren die Forscher. Die besten Drähte zu den Mitgliedern attestieren sie "jüngeren, hoch engagierten und qualifizierten Gewerkschaftsmitgliedern", die aber nur eine Teilgruppe unter den Befragten stellen. Viele Selbstverwalter konzentrierten sich stark auf Fragen von Unternehmenspolitik und Beitragssätzen, was nur einen Teil ihres Handlungsfelds umfasst. "Die bestehenden Möglichkeiten im Bereich der Prävention oder der Qualitätssicherung" schöpfe die Selbstverwaltung hingegen "bei weitem nicht aus". Jüngere Menschen, Frauen und Personen mit guten Kontakten zu Patientengruppen sind auch aus Sicht vieler Verwaltungsratsmitglieder in ihren Gremien unterrepräsentiert. Und etliche wünschen sich mehr Qualifizierung für ihre Tätigkeit.

Angesichts der Defizite sehen die Wissenschaftler Reformbedarf auf verschiedenen Ebenen: Die demokratische Legitimation der Selbstverwaltung könne durch mehr Ur- und weniger "Friedenswahlen" verbreitert werden. Parallel dazu bräuchten die Selbstverwalter mehr Qualifizierung und professionelle Unterstützung, aber auch mehr gesetzliche Kompetenzen, um ihre Rolle gegenüber den Hauptamtlichen der Kassenverwaltung ausfüllen zu können.

  • Die Wahlbeteiligung an den Sozialwahlen ist zwischen 1993 und 2005 von gut 44 auf 32 Prozent gesunken. Zur Grafik
  • Bei der Wahl einer Krankenkasse orientieren sich viele Versicherte vor allem am Beitragssatz. In einer Befragung setzten 47 Prozent dieses Kriterium auf Platz eins bei der Kassen-Entscheidung. Wahlfreiheit für Ärzte und Krankenhäuser nannten 39 Prozent als wichtigstes Kiterium. Zur Grafik

Bernard Braun, Stefan Greß, Heinz Rothgang, Jürgen Wasem (Hrsg.): Einfluss nehmen oder aussteigen? Theorie und Praxis von Kassenwechsel und Selbstverwaltung in der GKV, Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Januar 2008

Mehr Infos zum Projekt Repräsentation von Versicherten und Patienten in der GKV  

Impuls-Beitrag als PDF

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen