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HBS Böckler Impuls

Betriebsverlagerungen: Niedrige Hürden in Deutschland

Ausgabe 05/2008

Wer in Deutschland einen Standort schließt, hat geringere Kosten und weniger Zeitaufwand als in anderen europäischen Ländern. In den Niederlanden oder Frankreich setzt der Staat bei Massenentlassungen höhere Hürden, zeigt ein Gutachten.

Die geplante Verlagerung der Bochumer Produktion des Handyherstellers Nokia nach Rumänien hat in der Öffentlichkeit für reichlich Wirbel gesorgt. Würde eine solche Stilllegung in Dänemark, Frankreich oder den Niederlanden anders ablaufen? Wie aufwändig wäre sie für den Arbeitgeber? Ulrich Zachert, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Hamburg, hat im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung die geltenden deutschen Bestimmungen mit denen unserer Nachbarn verglichen. Zentrales Ergebnis: Deutschland liegt "im Hinblick auf Zeit- und Geldkosten für die Unternehmen am unteren Ende der untersuchten Länder", so der Jurist.

Bei den Regeln zu Standortschließungen und -verlagerungen lassen sich laut Zachert vier Typen unterscheiden:

=> Laisser Faire. Das sind Länder, die über die EU-weit geltenden Anforderungen an Massenentlassungen hinaus sehr wenig regulieren. Die Untersuchung zählt Großbritannien und Dänemark zu dieser Kategorie.
=> Betriebliche Selbstregulierung. In diesen Staaten setzen die Rechtsordnungen stark auf betriebliche Regelungen vor Ort. Das ist in Deutschland und Österreich der Fall.
=> Staatliche Kontrollmechanismen. Hier gilt eine relativ weit reichende staatliche Kontrolle. Ein Beispiel: Portugal.
=> Staatliche Kontrolle und betriebliche Selbstregulierung. Neben staatlicher Kontrolle kennen diese Länder betriebliche Regelungen wie Sozialpläne. Die Studie ordnet die Niederlande, Frankreich und Spanien diesem Typus zu.

In Deutschland muss ein Arbeitgeber bei einer geplanten Betriebsverlagerung oder -stilllegung zwei Dinge tun: Er muss diesen Schritt bei der zuständigen Arbeitsagentur anzeigen. Und er muss mit dem Betriebsrat den so genannten Interessenausgleich und Sozialplan aushandeln.

Anzeigepflicht: Sie greift dann, wenn das Unternehmen innerhalb von 30 Tagen eine kritische Masse an Beschäftigten entlassen will. Dies ist nach Betriebsgröße gestaffelt: Die Anzeigepflicht beginnt in Betrieben mit mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern bei der Kündigung von mehr als 5 Beschäftigten. Nach Eingang der Anzeige gilt eine Entlassungssperre von einem Monat, in Einzelfällen von zwei Monaten, damit die Arbeitsagentur entsprechend reagieren kann.

Interessenausgleich und Sozialplan: In der Hauptsache geht es hier um den Sozialplan, der die wirtschaftlichen Nachteile der Schließung oder Verlagerung für die Beschäftigten mildern soll. Kernbestandteil sind Abfindungen; sie machen über 85 Prozent der Sozialplanleistungen aus. Möglich ist auch ein so genannter Transfersozialplan: Dieser hilft über maximal zwölf Monate entlassenen Arbeitnehmern dabei, einen neuen Job zu finden. Dazu werden häufig Transfergesellschaften eingerichtet. Im Schnitt brauchen Arbeitgeber und Betriebsrat für Interessenausgleich und Sozialplan etwa zwei Monate. Abfindungen dürften bei Sozialplänen zwischen einem halben und einem Monatsgehalt pro Beschäftigungsjahr liegen, schätzt der Arbeitsrechtler.

Voraussetzung Betriebsrat: Solche Verhandlungen können allerdings nur in Unternehmen stattfinden, die eine Arbeitnehmervertretung haben. "Betriebe ohne Betriebsräte können verlagert oder stillgelegt werden, ohne dass die mit Sozialplänen verbundenen Zeit- und Geldaufwendungen zu erbringen sind", so Zachert. Wo es keine Interessenvertretung gibt, greift das individuelle Kündigungsrecht. Und da gelten lediglich die Ankündigungspflichten. Wird die Arbeitsagentur ausreichend informiert, erlaubt die höchstrichterliche Rechtsprechung bei Betriebsstilllegung grundsätzlich eine betriebsbedingte Kündigung. Beschäftigte können dann komplett leer ausgehen. Abfindungen lassen sich jedoch auch tariflich regeln, über den so genannten Sozialtarifvertrag. So geschehen beim AEG-Werk in Nürnberg, das im Winter 2006 sechs Wochen lang bestreikt wurde.

Der Vergleich mit den europäischen Nachbarn zeigt nach Zacherts Analyse: In Ländern mit stärkerem staatlichen Einfluss sind die Schutzstandards für die betroffenen Beschäftigten besser. So kann in den Niederlanden, Frankreich oder Spanien die zuständige Behörde "genügend Druck ausüben, damit angemessene Vereinbarungen zwischen dem Unternehmen und den Arbeitnehmervertretungen (oder den Arbeitnehmern) zustande kommen". Im Falle Nokias hätten bei einer solchen Regelung auch Aspekte wie die strittigen Subventionsmitnahmen in die Verhandlungen einfließen können. Zachert empfiehlt, die Kompetenzen der Arbeitsagentur auszubauen - zumindest dann, "wenn es sich um Verlagerungen größerer Unternehmen mit erheblichen arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen handelt". Auf europäischer Ebene sollten die Informations- und Konsultationsrechte der Europäischen Betriebsräte zu Vetorechten ausgebaut werden.  

  • In Ländern mit stärkerem staatlichen Einfluss sind die Schutzstandards für die von einer Standortschließung betroffenen Beschäftigten besser. So kann in den Niederlanden das zuständige Arbeitsamt genügend Druck ausüben, damit Unternehmen und Arbeitnehmervertreter sich angemessen einigen. Zur Grafik

Ulrich Zachert: Verfahren und Kosten von Betriebsverlagerungen in ausgewählten europäischen Ländern, Gutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Hamburg, Februar 2008 

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