Mindestlohn: Neue Zustimmung
Unter US-Ökonomen verbreitet sich die Auffassung, dass der Mindestlohn Nutzen für Niedriglohn-Beschäftigte und Unternehmen bringen kann - und das ohne negative Effekte für die Beschäftigung.
Dass Erhöhungen des Mindestlohns Arbeitsplätze kosten, galt unter US-Ökonomen bis Anfang der 90er-Jahre als so gut wie sicher. Zahlreiche Untersuchungen haben in den vergangenen 15 Jahren jedoch diese Gewissheit erschüttert, wie Liana Fox vom Economic Policy Institute in einer Überblicksstudie zum aktuellen Forschungsstand darlegt. So räumt Alan Blinder, Professor in Princeton und ehemaliger Vize-Präsident der US-Zentralbank, ein: "Meine Gedanken dazu haben sich dramatisch geändert. Die Empirie scheint gegen die einfach gestrickte Theorie zu sein, in der ein leichter Anstieg des Mindestlohns einen erheblichen Verlust an Arbeitsplätzen bedeutet." Blinder hat sein Lehrbuch umgeschrieben. In der neuen Auflage erklärt er, überraschende Forschungsergebnisse zögen "die konventionelle Ökonomen-Weisheit" in Zweifel.
Die jüngere Forschung zur gesetzlichen Lohngrenze hebt stärker die positiven Effekte auch für Unternehmen hervor: Mindestlöhne sorgen für eine höhere Produktivität, geringere Fluktuation, weniger Abwesenheit und eine bessere Arbeitsmoral. Die Effekte auf die Beschäftigung werten die Studien als allenfalls gering. Die neuen Erkenntnisse sind die Folge von methodischen Fortschritten in der Wissenschaft.
Die alte Sichtweise beruhte auf einer Betrachtung von Zeitreihen. Die Entwicklungen von Beschäftigung und Mindestlöhnen suggerierte in den 70er Jahren einen Zusammenhang zwischen Erhöhungen der unteren Lohngrenze und Jobverlusten. Die methodischen Schwächen der Zeitreihen-Analyse fielen zunächst nicht auf, weil die Makrodaten gut zur vorherrschenden Theorie passten, erklären die beiden Protagonisten der neuen Mindestlohn-Forschung David Card und Alan Krueger. Doch in den 80er-Jahren folgte das Gegenexempel: Der Realwert des Mindestlohns sank in dieser Dekade deutlich, zugleich gab es weniger Jobs in den USA.
Die neuen Analysen zum Mindestlohn betrachten kleine zeitliche und räumliche Abschnitte - gleichsam unter wirtschaftswissenschaftlichen Laborbedingungen. Die Forscher gehen davon aus, dass in gesamtwirtschaftlichen Daten zu viele Einflüsse stecken, um eindeutige Aussagen zum Zusammenhang von Lohngrenze und Beschäftigung abzuleiten. Drei Studien waren maßgeblich:
- David Card beobachtete mehrere Staaten mit unterschiedlichen Lohngrenzen. In den USA setzt der Bund einen Basis-Mindestlohn fest. Der aktuelle Wert von 5,15 Dollar ist real der niedrigste seit 50 Jahren. Die Einzelstaaten können die Untergrenze anheben - in 22 Staaten ist das so, 6 weitere haben sich per Volksentscheid dazu entschlossen. Das Ergebnis: Wo der Mindestlohn erhöht wurde, verbesserten sich zwar die Löhne, aber ein Zusammenhang mit der Beschäftigung zeigte sich nicht.
- Lawrence Katz und Alan Krueger untersuchten Fast-Food-Restaurants, von denen manche gerade den Mindestlohn zahlten, andere ein höheres Entgelt. Als der Bundesstaat den Mindestlohn erhöhte, musste die erste Gruppe den Stundenlohn aufstocken. In diesen Restaurants kam es zu einem größeren Zuwachs an Jobs.
- Die einflussreichste Studie gelang Card und Krueger, die Beschäftigungsverhältnisse in 400 Restaurants in New Jersey und Pennsylvania unter die Lupe nahmen. New Jersey erhöhte den Mindestlohn, aber die Beschäftigung zog in den Restaurants New Jerseys stärker an als im benachbarten Pennsylvania. Dieses - zunächst umstrittene - Ergebnis bestätigten sie später anhand von Daten des Federal Bureau of Labor Statistics.
Die empirischen Arbeiten haben den Blick auf den Mindestlohn verändert. Nach der Erhöhung des US-Mindestlohn 1997 stellte der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz fest: "Wir haben keinerlei Reaktion der Arbeitslosenrate festgestellt. Die Arbeitslosigkeit sank einfach weiter." Und in diesem Jahr unterzeichneten über 650 Ökonomen den Aufruf "Raise the Minimum Wage" - darunter fünf Nobelpreisträger wie Kenneth Arrow und Robert Solow sowie sechs ehemalige Präsidenten der American Economics Association. Ihre These: Eine angemessene Erhöhung der Mindestlöhne des Bundes und der Einzelstaaten könne "signifikant das Leben von Niedriglohnarbeitern und deren Familien verbessern, ohne die nachteiligen Effekte zu haben, die Kritiker behaupten".
Liana Fox: Minimum Wage Trends. Understanding past und contemporary research, EPI Briefing paper, Oktober 2006.