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HBS Böckler Impuls

Rentenreform: Kurzfristige Einschnitte machen krank

Ausgabe 12/2012

Nach einer Kürzung der Altersbezüge im öffentlichen Dienst stieg die Zahl depressiver älterer Arbeitnehmer in den Niederlanden sprunghaft an. Angesichts dieser Erfahrung warnen Ökonomen vor allzu kurzfristigen Rentenreformen.

Viele europäische Länder planen im Zuge ihrer Sparprogramme, das Renteneintrittsalter anzuheben. Für den einzelnen Beschäftigten ist dies ein starker Eingriff in die Lebensplanung – der negative gesundheitliche Folgen haben kann. Eine Untersuchung der Ökonomen Andries de Grip, Maarten Lindeboom and Raymond Montizaan von den Universitäten Maastricht und Amsterdam zeigt, dass die psychische Gesundheit vieler Beschäftigter erheblich leidet, wenn sie plötzlich vor der Wahl stehen: entweder noch ein Jahr Arbeit dranhängen oder deutlich weniger Rente bekommen als bislang gedacht.

Die Wissenschaftler untersuchten die Konsequenzen einer Rentenreform in den Niederlanden. Dort konnten Beschäftigte des öffentlichen Dienstes bis 2006 mit 62 Jahren in Rente gehen und bekamen 70 Prozent der früheren Bezüge als Ruhegeld. Nach der Reform galt diese Regelung nur noch für Staatsdiener, die vor dem 1. Januar 1950 geboren sind. Alle anderen müssen nun 13 Monate länger arbeiten, um auf die vollen Altersbezüge zu kommen oder sich als Rentner mit 64 Prozent des früheren Einkommens zufriedengeben. Den Betroffenen blieben nur sechs Jahre, um sich auf ihre neue Sit­uation einzustellen. Diese Frist reicht de Grip und seinen Koautoren zufolge nicht aus, um so viel zu sparen, dass sich die ursprünglichen Pläne für Alterseinkommen und letzten Arbeitstag aufrechterhalten lassen.

Zwei Jahre nach der Gesetzesänderung haben die Wissenschaftler männliche Staatsbeschäftigte der Jahrgänge 1949 und 1950 – also die letzte von der Reform nicht betroffene und die erste betroffene Alterskohorte – nach ihrem Gesundheitszustand befragt. Über 5.000 auswertbare Fragebögen kamen so zusammen. Den angeschriebenen Beschäftigten wurde dabei nicht mitgeteilt, dass es bei der Studie um die Reform der Altersversorgung geht.

Das Ergebnis war den Wissenschaftlern zufolge eindeutig: Die Quote derer, die an Depressionen leiden, lag unter den jüngeren, also von der Reform betroffenen Beschäftigten um etwa 40 Prozent über dem Wert der etwas älteren. Die Forscher sind sich sicher, dass dieses Ergebnis tatsächlich eine Folge der Rentenreform ist, weil sich die Vergleichsgruppen in nichts systematisch unterscheiden außer dem Alter. Einen weiteren Hinweis darauf, dass die Veränderung der Ruhestandsregelungen wirklich ursächlich für die erhöhte Zahl der Depressionen ist, sehen die Wissenschaftler in der Tatsache, dass der Effekt bei Beschäftigten besonders ausgeprägt ist, die allein für ihre Familien sorgen müssen, weil ihre Frauen keine eigenen Rentenansprüche haben.

Die Forscher weisen darauf hin, dass es sich bei Depressionen keineswegs um eine seltene Erkrankung handelt. So sind in den Niederlanden, Großbritannien oder den USA laut Weltgesundheitsorganisation rund zehn Prozent der Bevölkerung betroffen. Depressionen stünden zudem in Zusammenhang mit anderen Krankheiten, etwa Herzleiden oder Diabetes. Die Gesundheitsausgaben für Depressive lägen pro Kopf etwa viermal so hoch wie für die übrige Bevölkerung. Hinzu kämen weitere volkswirtschaftliche Kosten durch sinkende Produktivität und Arbeitsausfälle.

Regierungen, die ihre Rentensysteme neu justieren, sollten diese Fakten berücksichtigen, schreiben die Wissenschaftler. Kürzungen dürften nicht so kurzfristig in Kraft treten, dass ältere Arbeitnehmer praktisch keine Chance mehr haben, anderweitig fürs Alter vorzusorgen. Die Befunde aus den Niederlanden dürften nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass Arbeitsnehmer es als ausgesprochen unfair empfinden, wenn politische Entscheidungen relativ plötzlich ihre Lebensentwürfe durchkreuzen.

  • Die Zahl der (erfassten) depressiven Erkrankungen hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Zur Grafik

Andries de Grip, Maarten Lindeboom, Raymond Montizaan: Shattered Dreams: The Effects of Changing the Pension System Late in the Game, in: The Economic Journal, März 2009

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