zurück
 Höherer Mindestlohn stärkt die Nachfrage Böckler Impuls

Mindestlohn: Höherer Mindestlohn stärkt die Nachfrage

Ausgabe 10/2020

Der Mindestlohn hat die deutsche Wirtschaft seit seiner Einführung 2015 gestärkt. In der Coronakrise empfehlen Wissenschaftler daher eine weitere Erhöhung.

Die gesetzliche Lohnuntergrenze und ihre bisherigen Anhebungen haben die Einkommenssituation von Millionen Menschen in Deutschland verbessert. Nicht wenige davon arbeiten in systemrelevanten, aber schlecht bezahlten Berufen. Das starke Wachstum der Erwerbstätigkeit hat sich nach Einführung des Mindestlohns fortgesetzt. Er hat die private Konsumnachfrage spürbar unterstützt, die in den vergangenen Jahren wesentlich zum Wirtschaftswachstum in Deutschland beigetragen hat. Zur Bewältigung der Coronakrise sind positive Konsumimpulse besonders wichtig. Deshalb ist eine Anhebung des Mindestlohns auf ein deutlich höheres Niveau ökonomisch und sozial geboten. Zu diesem Ergebnis kommen der Arbeitsmarktexperte Gerhard Bosch und Wissenschaftler des WSI und IMK in Stellungnahmen für die Mindestlohnkommission.

„Es ist in der aktuellen Situation besonders wichtig, die Erwartungen auf Einkommenssteigerungen der privaten Haushalte zu stabilisieren“, sagt Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des IMK. „Eine Anhebung des Mindestlohns kann hierzu einen maßgeblichen Beitrag leisten.“ Auch Thorsten Schulten, Tarifexperte des WSI, erklärt: „Politiker und Ökonomen sind sich einig, dass die Nachfrage in Deutschland nach den Einschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie dringend angekurbelt werden muss“. Es sei absehbar, dass Unternehmen dazu direkt oder indirekt mit vielen Milliarden Euro unterstützt werden. Eine Erhöhung des Mindestlohns wäre ein weiterer wichtiger Baustein, ebenso wie die Stärkung der Tarifbindung in Deutschland. „Ein deutlich höherer Mindestlohn kommt Beschäftigten zugute, die sehr wenig verdienen und zusätzliches Einkommen umgehend ausgeben werden. Forderungen nach einer zurückhaltenden Anpassung oder gar Nullrunden beim Mindestlohn mit Hinweis auf die Coronakrise sind dagegen fehl am Platze.“

Mehr Geld für Niedriglöhner, aber hohe Dunkelziffer

Wie Berechnungen von Gerhard Bosch, Senior Fellow der Hans-Böckler-Stiftung und früherer Direktor des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen, zeigen, hat der Mindestlohn am unteren Ende der Einkommensverteilung einiges bewirkt: Bereits zwischen 2014 und 2016 sind die Löhne der untersten zehn Prozent um 13 Prozent gestiegen – doppelt so stark wie die Arbeitseinkommen der Mittelschicht. Dabei gab es „weit überdurchschnittliche Steigerungen der Stundenlöhne in den Bereichen mit hohen Anteilen von Niedriglohnlöhnen wie in Ostdeutschland, in kleinen Betrieben, in typischen Niedriglohnbranchen wie dem Einzelhandel, für Personen ohne Berufsausbildung und für Frauen“, so Bosch. Und das alles ohne die von konservativen deutschen Ökonomen – entgegen dem internationalen Forschungsstand – immer wieder vorhergesagten Beschäftigungsverluste.

Allerdings, darauf weist Bosch ebenfalls hin, bekommen viele Beschäftigte faktisch noch immer keinen Mindestlohn. Vor allem, weil Überstunden nicht korrekt abgerechnet oder, im Fall von Minijobs, Urlaubs- und Krankheitstage regelwidrig nicht vergütet werden. Hier sieht der Arbeitsmarktexperte ein erhebliches Kontrolldefizit: Die gerade in Metropolen stark unterbesetzte Finanzkontrolle Schwarzarbeit unter dem Dach des Zolls sei in vieler Hinsicht reformbedürftig. 

Zudem sei eine stufenweise Erhöhung des Mindestlohns von derzeit 9,35 Euro auf 12 Euro pro Stunde geboten. Eine Anhebung auf diesen Wert präferieren auch die WSI- und IMK-Forscher. Denn wenn mit dem Mindestlohn beispielsweise auch das Ziel erreicht werden soll, nach langjähriger Beschäftigung eine Rente oberhalb der Grundsicherungsschwelle zu bekommen, hätte er bereits im vergangenen Jahr bei mindestens 11,51 Euro liegen müssen. Soll der Mindestlohn 60 Prozent des mittleren Einkommens betragen und damit oberhalb der Schwelle liegen, bei der nach verbreiteter wissenschaftlicher Definition von Armutslöhnen gesprochen wird, müsste er in Deutschland aktuell sogar 12,61 Euro betragen. Großbritannien strebt die 60-Prozent-Schwelle bereits in diesem Jahr an, berichten die Forscher von WSI und IMK.

Höherer Mindestlohn unterstützt Wachstum

Würde der deutsche Mindestlohn auf 12 Euro angehoben, könnten davon schätzungsweise rund zehn Millionen Beschäftigte profitieren und damit mehr als doppelt so viele wie bei der Einführung 2015, schreiben die Experten weiter. Nach Simulationsrechnungen mit dem IMK-Konjunkturmodell hätte die Anhebung außerdem positive gesamtwirtschaftliche Auswirkungen. So fiele langfristig der private Konsum preisbereinigt um 1,4 bis 2,2 Prozent höher aus als ohne Erhöhung. Die Wirtschaftsleistung läge um 0,5 bis 1,3 Prozent höher. 

Erfahrungen mit relativ hohen Mindestlohnzuwächsen sind bislang zwar beschränkt, aber in der Tendenz positiv, so die Forscher. Neben mehrjährigen Anhebungen in Großbritannien und zuletzt kräftigen Erhöhungen in Spanien, die von den Unternehmen gut verkraftet worden seien, stammen Beispiele vor allem aus den Vereinigten Staaten, wo lokale und regionale Mindestlöhne in letzter Zeit zum Teil weit über das landesweite Niveau erhöht wurden. Die vorliegenden Studien aus den USA hätten „gezeigt, dass eine Erhöhung des Mindestlohns auf 60 bis 66 Prozent des Medianlohns ohne negative Auswirkungen auf die Beschäftigung möglich ist“, schreiben die Wissenschaftler. „Allerdings sind in den meisten Fällen größere Mindestlohnerhöhungen nicht in einem, sondern in mehreren Schritten durchgeführt worden.“  

Als Beispiel für ein Konzept zur stufenweisen Erhöhung der niedrigsten Löhne nennen die Experten den im März 2020 abgeschlossenen Tarifvertrag in der Systemgastronomie, der vor allem die großen Fast-Food-Ketten wie McDonald’s oder Burger King umfasst. Die unteren Tariflöhne in dieser traditionellen Niedriglohnbranche, in die ein hoher Anteil der Beschäftigten eingruppiert ist, haben sich bislang sehr nahe am gesetzlichen Mindestlohn bewegt. Mit dem Tarifabschluss sei nun eine grundlegende Aufwertung gelungen, bei der in mehreren jährlichen Schritten die untersten Tariflöhne bis 2024 auf 11,80 bis 12 Euro pro Stunde angehoben werden.

Gerhard Bosch: Hohe Lohnsteigerungen ohne Beschäftigungsverluste – aber noch nicht jeder bekommt den Mindestlohn (pdf), Stellungnahme zur schriftlichen Anhörung der Mindestlohnkommission im Mai 2020, IAQ-Standpunkt 3/2020 

Alexander Herzog-Stein, Malte Lübker, Toralf Pusch, Thorsten Schulten, Andrew Watt, Rudolf Zwiener: Fünf Jahre Mindestlohn – Erfahrungen und Perspektiven (pdf). Stellungnahme von IMK und WSI anlässlich der schriftlichen Anhörung der Mindestlohnkommission 2020, Mai 2020

Impuls-Beitrag als PDF

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen