zurück
HBS Böckler Impuls

Demographie: Die neuen Länder sehen immer älter aus

Ausgabe 04/2005

Ein dramatischer Trend erfasst die Kommunen in Ostdeutschland: Der unverminderte Zug der Jungen gen Westen verschärft die Überalterung der Gesellschaft. Erstmals zeigt eine Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, wie massiv die ostdeutschen Großstädte in den kommenden Jahrzehnten schrumpfen werden - und was das für sie bedeutet.

Die neuen Länder leeren sich: Der eigentliche Sprengstoff ist das Geburtendefizit, das weitaus höher ist als in Westdeutschland. Allerdings verstärkt die Abwanderung diesen negativen Trend. Wegen der unverändert hohen Arbeitslosigkeit und mangelnden Zukunftsperspektiven kehren weiterhin viele Ostdeutsche ihrer Heimat den Rücken. Aus Sachsen-Anhalt zum Beispiel zogen in den Jahren 1991 bis 2000 unterm Strich knapp 100.000 Menschen weg. Gerade die Jungen gehen, und unter ihnen vor allem die Frauen. Fast drei Mal so viele junge Frauen wie Männer im Alter von 15 bis 25 verließen Sachsen-Anhalt - wer soll da künftig die Kinder kriegen? Schon jetzt gehört es, ebenso wie Mecklenburg-Vorpommern, zu den dünn besiedelten Gebieten Europas.

Das Schrumpfen der Bevölkerung setzt einen Teufelskreis in Gang: Die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen schwindet. Die gewerbliche Wirtschaft zieht sich zurück. Der Arbeitsmarkt wird immer kleiner. Noch mehr Menschen wandern in den Westen ab: Die Städte veröden …

Sachsen geht aktuell von etwas über 400.000 leer stehenden Wohnungen aus; das sind etwa 40 Prozent aller Leerstände in Ostdeutschland. Probleme entstehen, wo man sie gar nicht vermutet: Durch überdimensionierte Leitungsnetze, so berichtet die sächsische Landesregierung:

  • verkeimt Trinkwasser, weil es zu lange in den
    Leitungen steht;
  • fließt Abwasser nicht mehr richtig ab, üble
    Gerüche entstehen;
  • funktionieren Kläranlagen nicht mehr richtig, wenn
    Mindestabwassermengen unterschritten werden und
  • drohen Fernwärmenetze zusammenzubrechen,
    wenn die Wärmeabnahme unter einen bestimmten
    Punkt absinkt.

Trotz geringer Auslastung der Instrastruktur bleiben die Kosten für die Städte jedoch nahezu gleich, während ihre Einnahmen aus Steuern und Abgaben gleichzeitig sinken.

Rostock verlor seit der Wende mehr als jeden fünften seiner Einwohner, die Geburtenrate sank um mehr als die Hälfte. Mit fatalen Folgen: In der Hansestadt waren im Schuljahr 1992/93 noch über 37.000 Schüler gemeldet; 2002/03 fehlte mehr als ein Drittel. Im Gegenzug stieg der Einwohneranteil der 65- bis 75-Jährigen um rund 60 Prozent. Vor allem junge Menschen zwischen 20 und 30 verlassen Mecklenburg-Vorpommern. Heute leben die meisten Einwohner von Rente, Pension, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe.

Bislang reagieren die Städte auf die leeren Stadtsäckel, indem sie - möglichst sozialverträglich - Personal abbauen und die kommunalen Dienstleistungen einschränken, zum Beispiel über kürzere Öffnungszeiten der Ämter. Wenn dies jedoch die einzige Antwort der Kommunen bleibt, könnte ihre Zukunft so aussehen: Spielplätze und Jugendclubs vergammeln, Bürgermeister schließen Kindergärten und Schulen.

Ein Kreislauf: Denn ohne den wenigen, noch im Lande gebliebenen Jugendlichen eine Perspektive zu bieten, dürften die Städte ihre Probleme erst recht nicht in den Griff bekommen.

Bis Mitte der 90er-Jahre gingen auch Brandenburg die Bürger verloren. Doch seit der Jahrtausendwende werden es sogar wieder mehr. Die vergleichsweise ruhigere Lage und die niedrigeren Grundstückspreise helfen zumindest den Kommunen im Speckgürtel Berlins dabei, junge Familien anzuziehen. Vor allem Potsdam profitiert von Berlinern, die sich im Umland der Hauptstadt Wohneigentum kaufen: Die Bevölkerung wuchs seit 1999 um mehr als zehn Prozent. Der Anteil von Familien mit Kindern liegt hier vergleichsweise hoch.

Insgesamt ist die klassische Familie, bestehend aus Vater, Mutter und wenigstens einem Kind, in Ostdeutschland inzwischen eher eine Ausnahmeerscheinung. Im statistischen Mittel sind die Sachsen schon jetzt 42,3 Jahre alt. In keinem Bundesland ist das Durchschnittsalter höher. Für 2020 prognostizieren die Statistiker, dass jeder dritte Sachse dann 65 Jahre und älter sein wird. Immerhin hat der Freistaat inzwischen reagiert und Anfang 2005 eine Expertenkommission eingesetzt. Deren Konzepte könnten in ganz Europa helfen, den demographischen Wandel zu meistern.

Prof. Dr. Friedhelm Knorr: Die fünf neuen Bundesländer als Emigrationsgebiete, Auswirkungen auf kommunale Selbstverwaltungen; Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, erscheint voraussichtlich im Spätsommer 2005.

Impuls-Beitrag als PDF

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen