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Die Mär vom aufgeblähten Sozialstaat Böckler Impuls

Sozialpolitik: Die Mär vom aufgeblähten Sozialstaat

Ausgabe 04/2024

Ein Datencheck des IMK zeigt, dass die Entwicklung der Sozialausgaben hierzulande im internationalen und historischen Vergleich unauffällig ist.

Anders als bisweilen behauptet sind die Staats- und Sozialausgaben hierzulande nicht besonders hoch – und zuletzt auch keineswegs stark gewachsen. Das zeigt eine Analyse des IMK. „Wer von einem ungebremst wachsenden Sozialstaat spricht oder davon, dass der Staat generell immer weiter aufgebläht werde, verbreitet eine Mär, die nicht durch Fakten gedeckt ist“, fasst IMK-Direktor Sebastian Dullien die Ergebnisse der Untersuchung zusammen.

Nicht selten fußten alarmistische Diagnosen auf untauglichen Daten, erklären Dullien und seine Ko-Autorin Katja Rietzler. So werde regelmäßig behauptet, dass die öffentlichen Ausgaben immer neue „Rekorde“ erreichen. Doch da Preise und Einkommen jedes Jahr steigen, seien neue Höchststände bei Einnahmen und Ausgaben ganz normal. Andere Kennzahlen seien aussagekräftiger.

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Betrachtet man die preisbereinigte Entwicklung der öffentlichen Sozialausgaben in den vergangenen 20 Jahren im internationalen Vergleich, so zeigt sich: Unter 27 Ländern der Industriestaatenorganisation OECD, für die Daten von 2002 bis 2022 verfügbar sind, liegt Deutschland mit einem Zuwachs von insgesamt 26 Prozent auf dem drittletzten Platz, ist also eines der Länder mit dem geringsten Wachstum. Weit vorne rangieren Neuseeland mit einem Plus von 136 Prozent, Island mit 131 Prozent und Irland mit 130 Prozent. Auch in den USA mit 83 Prozent, der Schweiz mit 64 Prozent oder Großbritannien mit 59 Prozent war der Anstieg deutlich höher als in der Bundesrepublik.

Deutschland im Mittelfeld

Aktuell liegt Deutschland beim Anteil der staatlichen Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) mit 26,7 Prozent auf Rang sieben von 18 reichen OECD-Ländern in Westeuropa und Nordamerika. In der Schweiz, den Niederlanden und den USA fallen die Quoten mit 17 bis gut 18 Prozent zwar deutlich niedriger aus. Diese Zahlen sind aber irreführend: In den drei Ländern ist eine private Krankenversicherung weitgehend verpflichtend. Ob man verpflichtend gesetzlich oder verpflichtend privat versichert ist, macht gesamtwirtschaftlich und auch für die einzelnen Versicherten keinen Unterschied, schlägt sich aber in der Statistik nieder. Nimmt man öffentliche, vom Staat vorgeschriebene und freiwillige Ausgaben für Soziales zusammen, so liegen die USA und die Niederlande mit Gesamtquoten von je 30,7 Prozent des BIP sogar geringfügig vor Deutschland mit 30,4 Prozent, während die Schweiz auf 28,6 Prozent kommt. Insgesamt belegt die Bundesrepublik auch in dieser Betrachtungsweise Platz sieben im internationalen Vergleich.

Die Staatsquote, die dem Verhältnis zwischen den gesamten staatlichen Ausgaben einschließlich der Sozialausgaben und dem BIP entspricht, ist hierzulande mit 48,2 Prozent sogar geringfügig niedriger als der EU-Durchschnitt von 48,9 Prozent. Auch die Entwicklung im Zeitverlauf gibt keinen Anlass zur Sorge: Seit Mitte der 1990er-Jahre liegt der Wert an oder leicht unter dem Durchschnitt des Euroraums. Dass das Niveau 2023 leicht erhöht war, liege an den Ausgaben für Hilfspakete während der Energiepreiskrise und für die Unterstützung der Ukraine und von Geflüchteten, so die Forschenden.

Öffentliche Beschäftigung wächst mit der Bevölkerung

Auch mit Blick auf die öffentliche Beschäftigung warnen Dullien und Rietzler vor Fehlinterpretationen. Zwar seien in einzelnen Bereichen des öffentlichen Dienstes heute tatsächlich mehr Menschen beschäftigt als vor 15 Jahren. Allerdings müsse man beachten, dass die Bevölkerung – und auch die Gesamtbeschäftigung – in den vergangenen Jahren gewachsen ist. Das führe dazu, dass man beispielsweise mehr Fachkräfte in Kitas und Schulen, bei der Polizei oder in Bau- oder Meldeämtern braucht.

Der Anteil der öffentlichen Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung ist in Deutschland zumindest bis 2019 – neuere Zahlen sind noch nicht verfügbar – tendenziell gefallen. Mit gut 10,6 Prozent lag die Quote zuletzt mehr als sieben Prozentpunkte unter dem OECD-Durchschnitt. Wegen der unterschiedlichen Organisation etwa des Gesundheitssystems sei das Niveau zwischen Ländern zwar nur begrenzt vergleichbar, so Dullien und Rietzler. Deutlich werde aber auf jeden Fall, „dass im internationalen Vergleich der Anteil öffentlicher Beschäftigung in Deutschland ebenfalls nicht besonders hoch ist“.

Auch die Entwicklung der staatlichen Arbeitnehmerentgelte bis 2023 zeigt relativ zum Bruttoinlandsprodukt keine besondere Dynamik. Nach einem Rückgang in den 1990er-Jahren liegt die Quote seit über einem Jahrzehnt stabil bei um die acht Prozent. Anstiege in den Jahren 2009 und 2020 erklärten sich jeweils mit dem Rückgang des nominalen BIP während der Weltfinanzkrise und der Corona-­Pandemie und hätten sich schnell wieder normalisiert, so die Fachleute.

Sebastian Dullien, Katja Rietzler: Die Mär vom ungebremst wachsenden deutschen Sozialstaat, IMK-Kommentar Nr. 11, Februar 2024

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