zurück
HBS Böckler Impuls

Lohnstruktur: Die Legende von der zu geringen Lohnspanne

Ausgabe 15/2006

Gibt es zu wenig Jobs für gering Qualifizierte, weil die Löhne zu hoch sind? Der Ökonom Ronald Schettkat hat diese These mit dem aktuellen Forschungsstand abgeglichen. Ergebnis: Weder in den USA noch in Europa finden sich Belege dafür, dass Niedriglöhne für mehr Beschäftigung sorgen.

Ob Sachverständigenrat, OECD-Experten oder einige prominente Wirtschaftswissenschaftler, sie alle wiederholen seit Jahren dieselbe These: Die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland beruhe auf einer gestauchten Lohnskala - der Niedriglohnsektor werde durch Tarife und Transfers zu stark begrenzt. Sobald man die künstlich hohen Löhne auf ein marktgerechtes Niveau sinken ließe, wäre an einfachen Arbeitsplätzen kein Mangel.

Diese Hypothese von der "Mindestlohnarbeitslosigkeit" hat der Wuppertaler Ökonomie-Professor Ronald Schettkat mit dem aktuellen Stand empirischer Forschung verglichen. Er hat weder in Europa noch Amerika einen Beleg dafür gefunden, dass die Lohnstruktur Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich vernichtet und verhindert - wohl aber zahlreiche Indizien, die diesem Zusammenhang widersprechen.

Mehr Arbeitslose trotz gesunkener Löhne: Schon die Behauptung einer von unten gestauchten Lohnskala in Deutschland beruht auf längst veralteten Daten. Seit Mitte der 1990er Jahre hat die Lohnspreizung in Deutschland rasant zugenommen. Die relativen Löhne für Geringverdiener rutschten ab. Gleichzeitig ist die Arbeitslosenquote unter den Personen  ohne Berufsabschluss in Westdeutschland überproportional angestiegen. Ein Befund, der nicht zur These von der lohnbedingten Arbeitslosigkeit passt.

Der Tunnelblick auf vollzeiterwerbstätige Männer festigte die Diagnose einer angeblich engen Lohnstruktur. Ausschließlich diese Gruppe hatte etwa der Internationale Währungsfonds (IWF) 2004 bei seiner Analyse im Blick und folgerte:  Die deutsche Lohnstruktur sei "zu stabil", um mehr Beschäftigung zuzulassen. Tatsächlich arbeiten in Deutschland überproportional viele Frauen und Teilzeitkräfte für Niedriglöhne. Wer diese Gruppen ausklammert, kann den Niedriglohnsektor in Deutschland nicht richtig erfassen.

=> Keine Mindestlohn-Arbeitslosigkeit

Auch internationale Vergleichsdaten lassen sich nicht mit der Behauptung in Einklang bringen, zu hohe Löhne verhinderten einfache Beschäftigung:

Deutschland hat im internationalen Vergleich eine ausgeprägte Lohnspreizung - was unter Deutschlands Ökonomen kaum wahrgenommen wird. Eurostat untersuchte 2005 die Lohnstrukturen in den Mitgliedstaaten. Die Statistiker der EU verglichen die zehn Prozent der niedrigsten Arbeitseinkommen mit jenen, die auf der Lohnskala im oberen Zehntel rangieren. Das Ergebnis: Deutschland lag gleichauf mit Großbritannien, dem Land, das "bisher als Spitzenreiter hinsichtlich der Lohnspreizung in Westeuropa galt." Setzt man die untersten zehn Prozent mit den mittleren Einkommen ins Verhältnis, dann weist Deutschland sogar die größte Spreizung in Westeuropa auf. Nur die neuen EU-Mitgliedsländer verzeichnen eine noch größere Kluft zwischen den Arbeitseinkommen.

Die Vereinigten Staaten taugen nicht als Beispiel für mehr Einfachjobs durch Lohnverzicht: Der Lohnabstand zwischen ungelernten Arbeitnehmern und ihren Kollegen mit Berufsausbildung ist in Deutschland deutlich größer als in Amerika. Zudem sanken in den 80er Jahren die realen US-Mindestlöhne, aber der Anteil gering Qualifizierter an den Beschäftigten stieg nicht an. Wenn sich der US-Mindestlohn hingegen erhöhte, ging das nicht mit Beschäftigungsverlusten einher. Stattdessen rückte die Lohnverteilung zusammen. "Die höhere Dichte nach Anhebung der Mindestlöhne ist ein Indiz dafür, dass Jobs mit Löhnen unterhalb des neuen Mindestlohns nicht einfach wegfallen, sondern vielmehr auf den Mindestlohn angehoben werden", so Schettkat. Die amerikanischen Analysen zur Veränderung des gesetzlichen Mindestlohnes zeigen deutliche Verteilungs-, aber kaum Beschäftigungseffekte.

In den Vereinigten Staaten gibt es zwar, insgesamt betrachtet, eine größere Lohnspreizung als in Deutschland - doch diese beruht vor allem auf der gewaltigen Spanne innerhalb der Spitzeneinkommen. Im unteren Lohnbereich dagegen liegen sowohl der gesetzliche US-Mindestlohn als auch das als faktischer Mindestlohn geltende Sozialhilfe und jetzt das Arbeitslosengeld II ("Hartz IV") in Deutschland ungefähr gleich hoch - bei einem Drittel des Durchschnittslohns.

 => Auf die Qualifikation kommt es an

Zu hoher Anspruchslohn durch ALG II? Auch diese Annahme des Sachverständigenrates findet in den empirischen Untersuchungen keine Bestätigung: Im Juni 2005 bezogen 390.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ALG II als Zuschuss zum Arbeitslohn. Darunter waren auch Arbeitnehmer, die trotz Vollzeitjob ein Lohneinkommen unterhalb der Grundsicherung erzielten, das deshalb entsprechend aufgestockt wurde. "Sie sollte es eigentlich nicht geben, denn sie verhalten sich nicht ökonomisch rational, könnten sie doch ein gleich hohes Einkommen auch ohne Arbeitseinsatz erzielen", so Schettkat in seiner Literaturstudie. Der Anspruchslohn verhinderte nicht die Arbeitsaufnahme.

All diese Empirie zeigt: Nicht die deutsche Lohnstruktur verursacht die überproportionale Arbeitslosigkeit unter gering Qualifizierten. Entscheidend sei vielmehr ein anderer Faktor, so Schettkat. Der technische Fortschritt erfordere immer mehr qualifizierte Arbeit. Wer da nicht mithalten kann, hat es schwer auf dem Arbeitsmarkt. Wegen des technischen Wandels werden in allen hoch industrialisierten Volkswirtschaften nur noch wenige schlecht Ausgebildete beschäftigt - egal wie stark die Lohnstruktur in dem jeweiligen Land gespreizt ist.

Zudem gibt es Unterschiede zwischen den gering Qualifizierten der verschiedenen Länder. Mehrere Studien kommen zu dem Schluss, dass vergleichsweise höhere Löhne für die relativ geringer qualifizierten Arbeitnehmer in Europa gerechtfertigt sein. Schettkats Resümee: "Gering qualifizierte europäische Arbeitnehmer sind leistungsfähiger als ihre amerikanischen Kollegen." Außerdem beträgt ihr Anteil an allen Beschäftigten in Deutschland nur ein Drittel der US-Quote.

=> Der perfekte Markt - die reine Theorie

"Die mannigfaltigen Variablen, die die Lohnstruktur eines Landes und ihre Veränderung beeinflussen, werden ausgeblendet und widersprüchliche Forschungsergebnisse offenbar ignoriert", kritisiert der Wuppertaler Wirtschaftswissenschaftler. "Zu einer solchen empirischen Nachlässigkeit verleitet eine zu starke Orientierung am theoretischen Modell des perfekten Marktes, in dem Löhne nach einem abnehmenden Wertgrenzprodukt - dem marginalen Produktionsbeitrag - bestimmt werden." Mehr Beschäftigung kann es in diesem Modell nur geben, wenn die Löhne nach unten flexibel sind. Dabei wird unterstellt, dass die "richtigen" Löhne sich in einem freien Wettbewerb aus der Produktivität des Arbeitsnehmers ergeben. Unternehmen hätten in diesem Modell keinen Spielraum bei der Frage, wie sie die Bezahlung ihrer Beschäftigten gestalten.

Dies ist reine Theorie, illustriert eine Untersuchung der London School of Economics. In südenglischen Pflegeeinrichtungen - meist kleine Betriebe mit nicht gewerkschaftlich organisierten Belegschaften - konnten Forscher zwar einen Zusammenhang zwischen den Preisen der Heime und der Qualifikation der Mitarbeiter feststellen, aber nicht zwischen der Qualifikation und den Löhnen.

Ein weiteres Beispiel für die Grenzen des Modells: Nach der Deregulierung der US-Flugindustrie fächerte sich die Bezahlung der Piloten auf. "Passagiere können nur hoffen, dass die unterschiedlichen Löhne nicht unterschiedliche Fähigkeiten (Grenzwertprodukte) der Piloten widerspiegeln."

  • Die USA haben deutlich mehr gering Qualifizierte, die Bundesrepublik dafür mehr Menschen mit einem mittlerem Bildungsniveau: Diese Grundstruktur prägt den Arbeitsmarkt der beiden Länder. Zur Grafik
  • In deutschland ist der Abstand der niedrigsten Löhne zum mittleren Einkommen größer als in anderen westeuropäischen Ländern. Zur Grafik
  • Von 1984 bis 2004 franste das Lohnspektrum nach unten aus. Zur Grafik
  • Der relative Lohn ungelernter Arbeit hat über die Jahrzehnte abgenommen. Zur Grafik

Ronald Schettkat: Lohnspreizung: Mythen und Fakten - Eine Literaturübersicht zu Ausmaß und ökonomischen Wirkungen von Lohnungleichheit, Edition der Hans-Böckler-Stiftung, Oktober 2006. pdf-download

Impuls-Beitrag als PDF

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen