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HBS Böckler Impuls

Gleichstellung: Das beste Mittel gegen Kinderarmut

Ausgabe 08/2007

Wie kluge Familienpolitik aussehen kann, zeigt ein europäischer Vergleich: Sie fördert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie - für beide Geschlechter. Zentrales Mittel dazu ist eine verlässliche öffentliche Kinderbetreuung.

Die deutsche Familienpolitik ist "stark verbesserungswürdig". Zu dem Ergebnis kommt eine Literaturstudie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, die erstmals die Situation von Familien in vier europäischen Ländern aus der Gleichstellungsperspektive analysiert und mit den politischen Regelungen vergleicht. Deutschland schneidet hinter Großbritannien, Frankreich und Schweden am schlechtesten ab: Hier sind die Erwerbschancen von Müttern am geringsten, ist das Armutsrisiko für Alleinerziehende und Kinder am zweithöchsten, der Lohnabstand zwischen den Geschlechtern am größten und die Geburtenrate die niedrigste. Erfolge kann die schwedische Familienpolitik vorweisen: Dort gelingt Männern und Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf am besten - auch zum Wohle der Kinder.

"Familienpolitische Konzepte, die auf klassischen Geschlechterrollen basieren, laufen in der heutigen Gesellschaft weitgehend ins Leere", lautet das Fazit von Anneli Rüling und Karsten Kassner vom Institut für sozialwissenschaftlichen Transfer (SowiTra). Erfolgreiche Familienpolitik leistet zweierlei: Sie verbessert die Berufschancen von Frauen - und im Gegenzug hilft sie, Mütter von der unbezahlten Arbeit zu Hause zu entlasten. Die bislang nahezu ausschließlich von Frauen erbrachten Fürsorgeleistungen müssten neu verteilt werden. "Wo Erwerbstätigkeit und Elternschaft nicht oder nur sehr schwierig miteinander zu verbinden sind, werden Kinderwünsche aufgeschoben oder gar nicht realisiert."

Die Familienpolitik der vier Länder unterscheidet sich bereits in der Ausstattung: 2001 gaben Schweden und Frankreich 3,8 und 3,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Familien aus, Deutschland nur 2,8 Prozent. Noch wichtiger ist, wohin dieses Geld fließt - ob es an die Familien ausgezahlt oder in öffentliche Dienstleistungen investiert wird. Allein die Betreuung der Kinder lässt sich Schweden
2 Prozent seiner Wirtschaftsleistung kosten; die Bundesrepublik nicht mal halb so viel. Dagegen verzichten die Skandinavier ganz auf eine fiskalische Förderung von Familien. Die macht in Deutschland fast 1 Prozent des BIP aus, ihr Nutzen ist indes fraglich: Obwohl in den 90er-Jahren das Kindergeld erhöht wurde, ging die Geburtenrate zurück, die Kinderarmut nahm zu. Und das Ehegattensplitting stellt "ein wesentliches Hemmnis für die Aufnahme der Erwerbstätigkeit von Müttern" dar, weil es das traditionelle Ernährermodell unterstützt.

Wenn Mütter im Beruf stehen, kommt das den Kindern zu Gute. "Die Erwerbstätigkeit der Mütter ist die beste Option zur Armutsprävention bei Eltern und Kindern", beobachten Rüling und Kassner. Ihr Vergleich zeigt: Die Kinderarmut ist dort hoch, wo Mütter nur wenige Stunden arbeiten gehen - von den untersuchten Ländern traf das für Großbritannien und Deutschland zu. Jedes fünfte Kind unter 15 Jahren ist dort von Armut bedroht; in Schweden jedes zehnte. Die höheren Transfers stellen deutsche Kinder nicht besser als britische. Auch etwa 40 Prozent der Alleinerziehenden in Großbritannien und Deutschland müssen mit einem Armutsrisiko leben, doppelt so viele wie in Schweden.

Ein veraltetes Leitbild:  Der konservative deutsche Wohlfahrtsstaat fördert Ehen und Familien mit klassischer Aufgabenteilung. Doch nur 5,7 Prozent aller Paare mit Kindern wollen nach dem traditionellen Ernährermodell leben. Die EU-Kommission, OECD und ILO schlagen vor, das Leitbild durch ein neues zu ersetzen: Nach dem Adult-Worker-Model sollen alle Erwachsenen ungeachtet ihres Familienstatus in der Lage sein, selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Die tatsächlichen Familienformen werden europaweit ohnehin vielfältiger. Ehe und Elternschaft entkoppeln sich: In Deutschland kamen 27 Prozent der Kinder 2003 nicht-ehelich zur Welt, in Schweden mehr als 56 Prozent. Die Zahl der nicht-ehelichen Gemeinschaften mit Kindern hat in Deutschland zugenommen, von 1995 bis 2005 um 74 Prozent auf 464.000. Frankreich hat schon in den 80er-Jahren auf den Wandel der Familienformen reagiert und unterstützt seitdem unverheiratete Eltern ebenso wie Ehepaare. Auch Schweden und Großbritannien fördern die Ehe nicht mehr.

Die Traditionalisierungsfalle: Im europäischen Vergleich wünschen sich die Deutschen am wenigsten Kinder; Männer noch weniger als Frauen. Auf die Frage, wie viele Kinder es im Idealfall sein sollten, antworten nur 3 bis 4 Prozent der Frauen unter 35 Jahren in Frankreich, Schweden und Großbritannien: keins. In Deutschland lehnen gleich 16,6 Prozent Nachwuchs ab. Rüling und Kassner nennen eine mögliche Ursache: "Insbesondere erwerbsorientierte Frauen antizipieren zunehmend die Traditionalisierungsfalle, in die sie mit einem zeitweiligen Ausstieg aus dem Berufsleben aufgrund von Mutterschaft geraten können." Sie fürchten, nicht genug Hilfe bei der Haus- und Familienarbeit zu erhalten, und sie erwarten Probleme bei der Rückkehr in den Beruf. Tatsächlich fügen sich Mütter in Deutschland mit jedem weiteren Kind mehr der Hausfrauenrolle. Das müssen Schwedinnen nicht, weil sie ihr Staat besser unterstützt.

Die öffentlich angebotene Kinderbetreuung steht im Zentrum erfolgreicher Familienpolitik. Nur wenn sie gut ausgebaut ist, können sich Mütter substanziell am Erwerbsleben beteiligen. "Keine andere familienpolitische Regelung hat ähnlich eindeutige Wirkungen", so die Studie. In Schweden gibt es seit den 70er-Jahren ein großes Angebot für Kinder aller Alterstufen, und das mit flexiblen Öffnungszeiten und sozial gestaffelten Elternbeiträgen. 41 Prozent der Kinder bis 3 Jahre profitieren von öffentlich geförderter Betreuung. Auch Frankreich hat seit Mitte der 80er massiv investiert und erreicht mittlerweile 43 Prozent der Kleinkinder. Deutschland und Großbritannien hinken deutlich hinterher. Folgenreiche Versäumnisse: Wenn der Staat sich nicht um die Kinderbetreuung kümmert, kommt es zu einer sozialen Schieflage. Gering verdienende Frauen können sich keine Krippenplätze oder Tagesmütter leisten und werden so aus dem Arbeitsmarkt gedrängt. Das erhöht für sie und ihre Kinder das Armutsrisiko.

Die Arbeitszeiten sind für Familien ungünstig verteilt. Für eine gute Kinderbetreuung und gerecht aufgeteilte Haushaltsarbeit eignen sich Stellen mit kurzer Voll- oder langer Teilzeit am besten. Faktisch jedoch driften die Wochenstunden auseinander - am stärksten in Deutschland. Deutsche Männer arbeiten mehr als die anderen Europäer, Frauen eher weniger. "In Deutschland nehmen in den letzten Jahren vor allem Arbeitszeiten von über 40 Stunden (insbesondere bei Männern) sowie von weniger als 15 Stunden (insbesondere bei Frauen) zu."

Die Entlastung der Mütter von Haus- und Familienarbeit stockt nicht zuletzt aufgrund der langen Arbeitszeiten der Männer. Ihr Beitrag an der unbezahlten Hausarbeit steigt nur langsam, am wenigsten beteiligen sich die französischen Väter. "Vollerwerbstätigkeit von Müttern allein reicht nicht aus, um die Arbeitsteilung der Geschlechter nachhaltig zu verändern", folgern Rüling und Kassner. Wieder erweist sich die schwedische Familienpolitik als die effektivste: Im Norden ist der Väteranteil an der unbezahlten Familienarbeit relativ groß. Die schwedische Elternzeit ist gut bezahlt, und mindestens zwei Monate sind für den Vater reserviert. Dass Deutschland mit dem Eltergeld diesem Vorbild folgt, werten Rüling und Kassner als Schritt in die richtige Richtung.

Für Mütter müssen berufliche Auszeiten nach der Geburt nicht in ein dauerhaftes Hausfrauendasein führen - wenn sie kurz und bezahlt sind. Unbezahlte Pausen verstärken die Abhängigkeit vom Ernährer, lange Abwesenheiten entwerten die Qualifizierung. In Deutschland nehmen fast ausschließlich Frauen Auszeiten. Die im Vergleich höchste Lohnungleichheit verstärkt das. Männer verdienen im Schnitt 23 Prozent mehr je Stunde - setzt der Vater aus, muss die Familie mit besonders wenig Geld auskommen. Die Tarifparteien und Betriebe seien gefragt, so die Autoren, für gleiches Entgelt bei gleicher Arbeit zu sorgen. 

  • Wunscharbeitszeiten lassen sich oft nicht realisieren. Zur Grafik
  • Mehrere Kinder und Job gehen in Deutschalnd selten zusammen. Zur Grafik
  • Hierzulande sind Betreuungsplätze für Unter-3-Jährige rar. Zur Grafik

Anneli Rüling, Karsten Kassner: Familienpolitik aus gleichstellungsorientierter Perspektive. Ein europäischer Vergleich, Berlin, 2007. Studie zum Download (pdf)

Institut für sozialwissenschaftlichen Transfer 

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