Quelle: HBS
Böckler ImpulsWeiterbildung: Betriebe mit Vorbildcharakter schaffen Zeit zum Lernen
In vielen Betrieben kommt die Weiterbildung zu kurz. Ein häufig genannter Grund ist Zeitmangel. Best-Practice-Beispiele für Weiterbildungs- und Arbeitszeitarrangements geben Hinweise darauf, wie sich das Zeitdilemma lösen ließe.
Nur ein knappes Fünftel der Betriebe in Deutschland hat nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in den Jahren 2000 bis 2008 kontinuierlich die Weiterbildung der Mitarbeiter gefördert, zeitlich oder finanziell. Nur ein Viertel der Beschäftigten hat 2009 an Fortbildungen teilgenommen. Gruppen, für die Weiterbildung besonders hilfreich wäre, sind in der Regel deutlich unterdurchschnittlich vertreten, etwa Geringqualifizierte oder Frauen mit Betreuungs- oder Pflegeverpflichtungen. Selbst den jüngsten Konjunktureinbruch haben Betriebe kaum für intensivere Weiterbildung genutzt – obwohl die Auftragsrückgänge eigentlich eine günstige Gelegenheit geboten hätten, Arbeitszeit für die Qualifizierung der Beschäftigten zu nutzen. Philip Wotschack, Franziska Scheier, Philipp Schulte-Braucks und Heike Solga vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) haben mit Förderung der Hans-Böckler-Stiftung untersucht, was der Weiterbildung im Wege steht. Zunächst haben die Forscher die vorliegende Forschungsliteratur ausgewertet und anschließend analysiert, was Musterbetriebe in puncto Mitarbeiterqualifikation besser machen als der Durchschnitt.
Das Grundproblem sehen die Wissenschaftler darin, dass Kosten und Nutzen der Weiterbildung zeitlich auseinander fallen: Die Kosten in Form von Arbeitszeit und Ausgaben für Schulungen entstehen sofort. Mögliche Erträge liegen in der Zukunft und sind nicht sicher prognostizierbar. Das „dominante betriebswirtschaftliche Denken“ sei aber „eher von kurzfristigen Kosten-Nutzen-Kalkülen geleitet“, schreiben die WZB-Forscher. Die Personalentwicklung sei in vielen Unternehmen zudem nur auf die erste Hälfte der Erwerbsbiografie ausgerichtet. Dahinter stehe die Vorstellung, dass Beschäftigte sich in den ersten Jahren weiterentwickeln und dann bei einem bestimmten Qualifikationsstand und auf einer bestimmten Hierarchiestufe stehen bleiben.
Um ältere Beschäftige kümmere sich die Personalpolitik oft kaum. Vielmehr werde häufig versucht, ein „vorzeitiges Ausscheiden angeschlagener Mitarbeiter“ herbeizuführen und diese durch Neueinstellungen zu ersetzen. Auch Geringqualifizierte, Beschäftigte mit Familienaufgaben oder andere benachteiligte Gruppen stünden in der Regel kaum im Fokus der Personalpolitik. Angesichts der demografischen Entwicklung könne die Vernachlässigung weiter Personenkreise bei der Weiterbildung jedoch bald zu ernsthaften Personalproblemen führen, warnt das Forscherteam.
Keine Zeit für Weiterbildung? Sowohl aus Sicht der Beschäftigten wie aus Unternehmensperspektive sind Zeitprobleme eine Hürde, an der Fortbildung oft scheitert. Arbeitsverdichtung und -flexibilisierung sowie eine wachsende Zahl von Zweiverdienerhaushalten, die Erwerbsarbeit, Betreuungs- und Pflegearbeit unter einen Hut bringen müssen – das macht es Beschäftigten schwer, Weiterbildung in den Alltag zu integrieren. Die Betriebe legen ihr Hauptaugenmerk darauf, mit der Arbeitszeitgestaltung auf kurz- oder mittelfristige Markt- und Auftragsschwankungen reagieren zu können. Qualifikationsmaßnahmen müssten da häufig hinten anstehen, so die Wissenschaftler. Über ein Drittel der Personalverantwortlichen begründe das Fehlen von Fortbildung damit, dass eine Freistellung der Beschäftigten aus zeitlichen Gründen nicht möglich sei. Und ist tatsächlich einmal genug Zeit vorhanden, scheitert die Weiterbildung oft am Geld: In wirtschaftlichen Flautephasen „ist die Ressource Zeit zwar eher verfügbar, aber die finanziellen Ressourcen des Betriebs können zu einem verknappenden Faktor werden“. Zudem mangele es oft an einer hinreichenden Koordination der beiden personalpolitischen Gebiete Arbeitszeit und Weiterbildung.
Lösungsansätze. Um verallgemeinerbare Ansätze für eine bessere Mitarbeiterqualifikation zu finden, haben die WZB-Forscher die Praxis in zehn Vorreiterbetrieben untersucht. Sie betreiben allen Schwierigkeiten zum Trotz eine präventive Weiterbildungspolitik mit Vorbildcharakter. Die Forscher haben Betriebe aus ganz unterschiedlichen Branchen ausgewählt, von der Autofabrik bis zum Krankenhaus. Die Autoren dokumentieren die wichtigsten Maßnahmen dieser Betriebe:
- Bezahlte Freistellungen für betrieblich notwendige Qualifizierungen. Solche Regelungen seien keine Selbstverständlichkeit, betonen die Forscher. Zudem gibt es in den Vorreiterbetrieben häufig die Möglichkeit der unbezahlten Freistellung für Qualifikationsaktivitäten, von denen zunächst in erster Linie die Beschäftigten profitieren und nicht der Betrieb. Das gilt beispielsweise für den Erwerb des Meisterbriefs, ein Studium oder das Erlernen einer Fremdsprache.
- Qualifizierung während der Kurzarbeit. Beides zu verbinden liegt nicht nur nahe, sondern wird auch staatlich gefördert. Als Beispiel nennen die Wissenschaftler einen Hafenlogistik-Betrieb, der während des wirtschaftlichen Abschwungs 2008 und 2009 vor allem die Geringqualifizierten geschult hat. Ein Fünftel der Belegschaft nahm teil. Die Mehrheit der Teilnehmer kam durch diese „antizyklische Qualifizierungspolitik“ zu einem Berufsabschluss.
- Mitarbeitergespräche. In fast allen Vorreiterbetrieben finden jährliche Gespräche statt, in denen Beschäftigte mit ihren unmittelbaren Vorgesetzten ihre Weiterbildungswünsche besprechen und deren zeitliche Realisierung planen können. Im Idealfall werden Fortbildungspläne zusammen mit individuellen Arbeitszeitvereinbarungen festgelegt.
Als indirekte Maßnahmen zur Unterstützung der Mitarbeiterqualifikation bezeichnen die Sozialforscher Variationsmöglichkeiten bei der Arbeitszeit, die den Beschäftigten die nötigen Freiräume zur Fortbildung verschaffen:
- mehr Teilzeitoptionen – auch bei Schichtarbeit,
- langfristig angelegte Arbeitszeitkontensysteme, auf denen Überstunden für Familien-, Pflege- oder Weiterbildungszeiten angespart werden,
- Sabbaticals und angepasste Schichtlagen – eine Verteilung der Erwerbsarbeit über den Lebenslauf, die Raum für längere Auszeiten lässt, und individuell justierte Schichtmodelle. Beispielsweise nur Frühschicht, damit Zeit für die Abendschule bleibt.
Insgesamt sei bei den Vorreiterbetrieben kein „One Best Way“ zu erkennen, so die WZB-Forscher. In der Praxis würden die genannten Ansätze unterschiedlich kombiniert.
Philip Wotschack, Franziska Scheier, Philipp Schulte-Braucks, Heike Solga: Zeit für Lebenslanges Lernen. Neue Ansätze der betrieblichen Arbeitszeit- und Qualifizierungspolitik, in: WSI-Mitteilungen 10/2011