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Betriebsrat Detlef Burghardt (r.) und Fachreferent Sven-Thorben Krack an der Produktionslinie die demnächst umgestaltet wird. Magazin Mitbestimmung

Von GUNTRAM DOELFS: VW Nutzfahrzeuge: Menschenfreundlicher Takt

Ausgabe 10/2018

Betriebsrat In der Nutzfahrzeug-Produktion von VW bestimmt bislang die Technik den Takt der Arbeit. Jetzt entwickeln Betriebsräte mit Unterstützung der IG Metall einen Gegenentwurf, der Mitarbeitern mehr selbstbestimmte und flexible Arbeit ermöglichen soll.

Von GUNTRAM DOELFS

Mit geübtem Blick und einem schnellen Handgriff hat Claudia Jobe den Fehler schnell entdeckt: ein Stecker ist nicht richtig befestigt. Vor ihr schiebt sich gerade im langsamen Spaziergängertempo ein fertig montiertes Cockpit für einen VW-Kleintransporter vorbei. Ihre Aufgabe ist es, die Cockpits auf Mängel zu prüfen und diese sofort zu beseitigen. Das Tempo des vorbeiziehenden Armaturenbretts scheint gemütlich, doch der Eindruck täuscht. Weniger als eine Minute bleibt der 47-Jährigen, um den losen Stecker zu reparieren. Schafft sie es nicht, zieht das Cockpit weiter und ein weiterer Kollege muss alarmiert werden, damit er den Fehler behebt. Nicht der Mensch gibt hier den Takt vor, sondern die Maschine.

„Das ist schon total unbefriedigend. Ich möchte hier doch keine Cockpits durchlassen, von denen ich weiß, dass sie noch eine Macke haben“, erzählt Jobe, während sie im Hannoveraner Werk von VW Nutzfahrzeuge die vorbeiziehenden Cockpits weiter im Auge behält. Sie würde gern selbst den Fehler in Ordnung bringen, doch dafür bleibt ihr keine Zeit. Jede Minute ist für das VW-Management in der hochautomatisierten Autoproduktion bares Geld. Und so bleibt Claudia Jobe gleich doppelt unzufrieden zurück – immer mit dem unterschwelligen Verdacht, sie sei womöglich zu langsam für den Job und dem Frust, ihr Können im Kampf gegen die Uhr nicht einsetzen zu können.

Die Produktion soll menschlicher werden

Maschinen bestimmen den Arbeitsablauf der rund 180 Mitarbeiter in der Cockpitproduktion, obwohl in der Halle fast ausschließlich gut und teuer ausgebildete Facharbeiter arbeiten. „Viele Beschäftigte hier stört, dass sie ihr Fachwissen nicht mehr in die Produktion einbringen können“, erzählt Betriebsratsreferent Sven-Thorben Krack. In einer internen Umfrage im April klagten fast 70 Prozent darüber. Fast ebenso viele Mitarbeiter stört, dass sie weder die Arbeitsabläufe noch die Arbeitszeit noch die Gestaltung des Arbeitsplatzes wirklich beeinflussen können. In der Zukunft könnte sich das Problem durch die Digitalisierung weiter verschärfen, Entgrenzung und fremdbestimmte Arbeit sogar noch zunehmen.

Diesem Trend wollten Vertrauensleute wie Claudia Jobe und die Betriebsräte nicht weiter zusehen. Als vor einiger Zeit die Firmenleitung ankündigte, im Team 39 acht Mitarbeiter durch zwei autonome Industrieroboter ersetzen zu wollen, sei das „für uns wie eine Initialzündung gewesen“, erzählt Detlef Burghardt, Betriebsrat in der Montage. Also entwickelten sie – unterstützt von der IG Metall – ein Gegenmodell zur bisherigen, technisch dominierten Produktionsplanung.

Mit ihrem innovativen Projekt „Leitbild Mensch“ sollen Arbeitsplätze nicht nur nachhaltig gesichert werden; die Arbeitsplätze werden stärker auf die Bedürfnisse der Beschäftigten zugeschnitten. Flexibel, selbstbestimmt, ganzheitlich lautet das Credo, nach dem die Kollegen zukünftig arbeiten und dabei auch die Vorteile der Digitalisierung nutzen sollen. „Die Technik muss dem Menschen dienen – nicht andersherum“, sagt Sven-Thorben Krack.

Mehr Abwechslung, mehr Qualifizierung

Gemeinsam mit dem Arbeitgeber legten die Betriebsräte ihre Ziele fest. Sie definierten acht Handlungsfelder, wo es Verbesserungen für die Mitarbeiter geben soll, etwa durch neue, flexible Arbeitszeitmodelle, Gute Arbeit, Qualifizierung oder den Einsatz neuer Technologien wie fahrerlose Transportfahrzeuge. „Wir erhoffen uns von dem Projekt, dass die Mitarbeiterzufriedenheit steigt, dass es für mehr Gesundheit am Arbeitsplatz sorgt und dass letztendlich so auch der Arbeitgeber wirtschaftlich davon profitiert“, schildert Krack beim Gang durch die Halle. Dennoch ließ sich der VW-Vorstand erst nach langen Verhandlungen von den Vorzügen des Projektes überzeugen.

So soll das Wissen der Mitarbeiter in Zukunft eine stärkere Rolle spielen. Künftig sollen diese aus den eigenen Reihen Kollegen wählen, die dann eine sogenannte „Fachrolle“ übernehmen. Zehn Prozent der Arbeitszeit dieser gewählten Kollegen stehen dann für indirekte Tätigkeiten zur Verfügung, etwa für die Reparatur, das Beheben von Störungen oder das Coachen von Kollegen. Das macht die Arbeit vielfältiger und motiviert, weil es „hilft, monotone Wiederholungen zu vermeiden“, sagt Betriebsrat Detlef Burghardt.

Zudem ebnet es den Weg für eine weitere Qualifizierung. Im Zeitalter der Digitalisierung ist das enorm wichtig, damit notwendige Reparatur- oder Anpassungsarbeiten auch zukünftig von den Beschäftigten in der Halle erledigt werden – und nicht durch externe Experten. Zum Jahresende sollen die ersten Kollegen ihre Fachrollen übernehmen. Mehmet Aslan wird einer von ihnen sein. Er steht gerade an seiner Station und montiert Grundplatten für die Armaturenbretter. Die ganze Schicht steht der 26-Jährige und er muss ständig dem Tempo der Maschinen folgen – das schlaucht.

Vor fünf Jahren hat Aslan seine Lehre als Mechatroniker bei VW abgeschlossen, seitdem ist er in der Cockpit-Montage tätig. Er hofft, dass das Projekt nicht nur die Arbeit interessanter, sondern „auch einfacher macht“. Künftig wird der junge Mann mit fahrerlosen Transportfahrzeugen zusammenarbeiten, nur mit einem wesentlichen Unterschied: Er kann die Helfer selbst stoppen und auch entscheiden, wie er den Arbeitsablauf innerhalb der Produktionsvorgabe organisiert. Das bedeutet mehr Flexibilität.

Mehr Freiheit bei der Arbeitszeit

Nicht nur der Arbeitsablauf, auch die Arbeitszeit soll beweglicher und ergebnisorientiert gestaltet werden. Ziel ist mehr Spielraum, um etwa Kinder von der Kita abzuholen oder für wichtige Arztbesuche. „Vielen Kollegen geht es im ersten Schritt nicht um mehr Geld, sondern um mehr Flexibilität“, urteilt Sven-Thorben Krack. Dazu wird im Projekt nun ausgelotet, wie Schichtbeginn oder -ende unproblematisch angepasst werden können. Dabei helfen soll auch ein neues digitales Teamboard, um An- und Abwesenheiten und den Produktionsprozess unter den jeweiligen Teams besser planen zu können.

Bis Jahresende, so der Plan, werden alle Konzepte des Projektes stehen und sollen dann sukzessive umgesetzt werden. Doch schon jetzt ist klar, dass nicht alles klappen wird wie erhofft. „Unser ursprüngliches Ziel war, dass jeder Mitarbeiter ein komplettes Cockpit selbst zusammenbaut“, erzählt Sven-Thorben Krack. Doch daraus wird erst einmal nichts. Die Logistik ist dafür dann doch zu komplex, auch der vorhandene Platz in der Halle reicht nicht aus. Betriebsrat Detlef Burghardt ahnt zudem, wie schwierig es werden wird, der Firmenleitung konkrete betriebswirtschaftliche Kostenvorteile zu belegen.

Betriebsratreferent Sven-Thorben Krack berichtet, dass auch überlegt wurde, ob nicht ein Mitarbeiter ein ganzes Cockpit bauen kann.

Das schmälert aber nicht den Optimismus aller Beteiligten. Sie glauben, dass die Vorteile auf der Hand liegen und in der täglichen Produktion auch sichtbar werden. Schließlich geht es um die Gestaltung der zukünftigen Arbeit in einer digitalisierten Arbeitswelt. Die Betriebsräte und Mitarbeiter wie Claudia Jobe wollen da nicht nur zuschauen, sondern mitbestimmen, wie Gute Arbeit dann auszusehen hat.

Aufmacherfoto: Frank Schinski

WEITERE INFORMATIONEN

Für sein Projekt ist der Betriebsrat für den Deutschen Betriebsräte-Preis 2018 nominiert. Der Preis wird im Rahmen des Deutschen Betriebsräte-Tages verliehen, der vom 6. bis 8. November 2018 stattfindet.

Alles rund um den Betriebsrätepreis 2018

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