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HBS Böckler Impuls

Europarecht: EuGH höhlt Tarifautonomie aus

Ausgabe 07/2015

Beim kollektiven Arbeitsrecht stellen Europarichter die Binnenmarktfreiheiten häufig über die Rechte von Tarifparteien. Damit verschiebt sich das Kräfteverhältnis zwischen Kapital- und Arbeitnehmerseite.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Rechte von Gewerkschaften in den vergangenen Jahren erheblich geschwächt, angefangen bei Tarifverträgen bis hin zum Streikrecht. Zu diesem Ergebnis kommen Nadine Absenger und Daniel Seikel vom WSI in einem Beitrag für die Zeitschrift Industrielle Beziehungen. „Während der EuGH im Bereich des individuellen Arbeitsrechts oft zugunsten der Arbeitnehmerinteressen entscheidet, gehen Urteile zum kollektiven Arbeitsrecht häufig zulasten der Tarifautonomie“, schreiben die Juristin und der Politikwissenschaftler.

Eine weitreichende Entscheidung habe das Gericht im Fall Rüffert im Jahr 2008 getroffen. Das Land Niedersachsen hatte einen Bauauftrag vergeben, verbunden mit der Auflage, dass sich die Baufirmen an örtlich geltende Tariflöhne halten müssen. Ein Subunternehmer aus Polen zahlte deutlich weniger als den vorgeschriebenen Tariflohn. Das Land beanstandete dies und verhängte eine Vertragsstrafe. Der EuGH entschied zugunsten des Unternehmens. Die Tariftreueregelung stelle einen Verstoß gegen die Entsenderichtlinie und die Dienstleistungsfreiheit dar, so die Begründung des Gerichts.

Sogar Grundrechte wie das Streikrecht habe der EuGH eingeschränkt, so etwa im Fall Viking. Die finnische Reederei Viking wollte eine Fähre umflaggen und die Belegschaft durch billigere Arbeitskräfte aus Estland ersetzen. Die finnische Gewerkschaft rief daraufhin zum Streik auf. Der EuGH hielt den Arbeitskampf jedoch für unverhältnismäßig. Die Entscheidung könnte auch für deutsche Gewerkschaften weitreichende Folgen haben: So könnten Streiks aufgrund von Standortverlagerungen künftig als Verstoß gegen europäisches Recht gewertet werden.

Auch im aktuellen Fall Prigge sehen die Experten „beträchtliche Auswirkungen“. Hier entschied der EuGH, dass die tarifvertraglich vereinbarte Altersgrenze für Lufthansa-Piloten von 60 Jahren eine unzulässige Altersdiskriminierung darstellt. Das Unternehmen nahm das Urteil zum Anlass, die Übergangsversorgung seiner Piloten zu kündigen. Die Lufthansa vertrat die Auffassung, die Piloten könnten nun generell bis 65 Jahre arbeiten, so dass es keine Notwendigkeit für eine Übergangsversorgung mehr gebe. Der Fall zeige den zweischneidigen Charakter der EuGH-Rechtsprechung, so Absenger und Seikel. Aus Sicht einzelner benachteiligter Beschäftigter sei es begrüßenswert, dass Ungleichbehandlungen abgeschafft werden. Für die tarifschließenden Parteien führe dies jedoch dazu, dass Tarifverträge, die jahrelang als sozialadäquat und angemessen galten, neu verhandelt werden müssen. Bestehende Ansprüche vieler Beschäftigter könnten dadurch wie im Fall Prigge infrage gestellt und zur Verhandlungsmasse werden.

Bei den geschilderten Beispielen handele es sich nur scheinbar um Einzelfälle, betonen die Wissenschaftler. Betrachte man die EuGH-Entscheidungen in ihrer Gesamtheit, dann werde deutlich, dass das „Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen auf vielfältige Weise eingeschränkt“ worden ist. Der Gerichtshof habe die Geltung europäischen Rechts auf Tarifvereinbarungen ausgeweitet, Tarifverträge direkt zensiert, sie dem europäischen Vergaberecht untergeordnet, die Binnenmarktfreiheiten faktisch über das Streikrecht gestellt und die Geltung von Tarifverträgen mit Hilfe der Grundrechtecharta begrenzt.

Durch die Rechtsprechung des EuGH werde der eigentlich genuin politische Prozess von Tarifverhandlungen stärker durch Recht und Gerichte durchdrungen. Ausschlaggebend sei dabei weniger, was Sozialpartner für angemessen halten, sondern zunehmend, was der Gerichtshof für zulässig befindet. Durch die einseitige Betonung der Binnenmarktfreiheiten verschiebe sich das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit zuungunsten der Gewerkschaften.

Dadurch könnten selbst ursprünglich marktkorrigierende Maßnahmen wie die Entsenderichtlinie „am Ende eine liberalisierende Wirkung entfalten“, so Absenger und Seikel. Bei EU-Richtlinien handele es sich in der Regel um Kompromisse, „die häufig unterhalb der Standards höher regulierter Länder liegen“. Legt der EuGH eine solche Richtlinie restriktiv aus, das heißt als Vollharmonisierung, dann könne sich die Situation der Beschäftigten in höher regulierten Ländern – entgegen der ursprünglichen politischen Intention – verschlechtern.

  • Das Vertrauen in die Arbeitsmarktpolitik der EU ist in Osteuropa deutlich stärker ausgeprägt als im Süden und Westen. Zur Grafik

Nadine Absenger, Daniel Seikel: Die Auswirkungen der EuGH-Rechtsprechung auf das Tarifvertragssystem in Deutschland, in: Industrielle Beziehungen 1/2015

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