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Magazin Mitbestimmung

Handwerkskonzerne: Abschied vom goldenen Boden

Ausgabe 03/2013

Das Handwerk erlebt einen Strukturwandel. Zunehmend prägen Unternehmensgruppen die Branche. Tarifpolitik und betriebliche Mitbestimmung werden ausgehöhlt, die Löhne sind im Sinkflug. Kann überbetriebliche Interessenvertretung die Probleme lösen? Von Lukas Grasberger

Das Wort „Winterpause“ kennt Dachdeckergeselle und Betriebsrat Xaver Fischer (Name geändert) nur noch vom Hörensagen: Der Betrieb, bei dem er irgendwo in Westdeutschland arbeitet, brummt auch bei kalten Temperaturen. Seit ein paar Jahren entwickelt sich die Gebäudedämmung, politisch befeuert durch die Energieeinsparverordnung, zum guten Geschäft für Handwerksbetriebe. „Wir sind fast ohne Kündigungen durch den Winter gekommen“, freut sich der Enddreißiger, der sich auch bei der IG BAU als Fachgruppenvertreter engagiert. Dies liege aber nicht nur am Auftragsboom und am milderen Winter in der Region. Profitiert hätten die Beschäftigten auch von einer Betriebsvereinbarung, die etwa Kündigungen erst nach dem Abbau von Urlaub und Überstunden zulässt, betont Fischer, der den Pakt als Betriebsrat mit ausgehandelt hat.

Doch so sehr die Mitarbeiter am westdeutschen Stammsitz des Unternehmens von ihrer guten Betriebsratsorganisation profitieren, so wenig bekommen die Arbeitnehmervertreter in den bundesweit verstreuten Filialen einen Fuß auf den Boden. Fischer und seine Betriebsratskollegen sehen sich mit einem „ganz merkwürdigen Geflecht an Firmen“ konfrontiert: Das Unternehmen ist im letzten Jahrzehnt massiv gewachsen: zum Handwerkskonzern mit über 100 Betrieben unterschiedlicher Gewerke, mit eigenständigen GmbHs, die ausdrücklich miteinander konkurrieren sollen. Dieses Konglomerat werde zentral gesteuert, es gebe klare Renditevorgaben, „und jedes Jahr muss eine Steigerung her“, sagt der Betriebsrat.

Eine konzernweit organisierte Belegschaft scheint dabei zu stören: Als sich ein paar Arbeitnehmervertreter jener Handvoll Betriebe der Unternehmensgruppe, die überhaupt einen Betriebsrat besitzen, im vergangenen Jahr treffen wollten, bekam die Geschäftsführung Wind davon. „Sie haben massiv Druck ausgeübt. Kollegen sind eingeschüchtert und bedroht worden. Die haben das Treffen schließlich abgesagt“, sagt Fischer, der nicht mit richtigem Namen genannt werden will. Wegen seines Engagements hat er bereits Abmahnungen bekommen. Auch Auflösungsverträge sind ihm schon auf den Tisch geknallt worden.

Die Zeiten, in denen im Handwerk gestrenge Familienpatriarchen die Geschicke lenkten, sind zunehmend vorbei. „Wir erleben einen dramatischen Strukturwandel“, betonte DGB-Handwerkssekretär Helmut Dittke auf einer Konferenz der Hans-Böckler-Stiftung zu „Arbeitsbeziehungen im Handwerk“ in Berlin. Die Soziologin Stefanie Weimer, die im Auftrag der Stiftung die Entwicklungen im Handwerk seit 1995 untersucht hat, untermauert dies mit Zahlen: Um fast ein Drittel schrumpfte die Menge der Betriebe mit zehn bis 19 Beschäftigten, etwas geringer fiel der Rückgang bei den kleineren Firmen ab fünf Mitarbeitern aus. „Die Mitte dünnt sich zunehmend aus“, analysiert Weimer. Nach Aufhebung der Zulassungspflicht 2004 nahmen Kleinstbetriebe massiv zu mit Scheinselbstständigen und Sub-Subunternehmern, ein neues Handwerksprekariat.

Vor allem aber wird das Bild immer mehr durch eine wachsende Zahl großer Handwerkskonzerne geprägt. Ein Konzentrationsprozess, der mehrere Ursachen hat: Zum einen verlangen Kunden zunehmend Leistungen aus einer Hand. Unternehmen, die früher rein zum Gebäudereinigerhandwerk zählten, kümmern sich nun etwa um die gesamte Bewirtschaftung einer Immobilie von der Reinigung über die Bewachung und Energieversorgung bis zur Betriebskostenabrechnung und dem Controlling. Neue Branchen wie das Facility-Management (FM) entstehen. FM-Firmen wie Dussmann und Piepenbrock landeten sogar unter den Top Ten der umsatzstärksten Handwerksunternehmen, die das „Handwerk-Magazin“ 2011 veröffentlicht hat.

In Branchen wie dem Kfz-Gewerbe oder dem Bäckerhandwerk kaufen Unternehmensgruppen Einzelbetriebe ohne Nachfolger auf. „Hier treibt die demografische Veränderung den Strukturwandel“, sagt Weimer. Aber auch die Industrie setzt gezielt auf die Auslagerung ganzer Unternehmensteile ins Handwerk, um die Löhne zu senken, kritisiert Herbert Weber vom Ressort Handwerk beim IG Metall Vorstand. Entwicklungen, die die Identität des Handwerks ins Wanken bringen: Einbetrieblichkeit und Meisterbindung, einst die Merkmale von Handwerksfirmen, sind auf dem Rückzug, auch die einst engen Grenzen der Gewerke verschwimmen. Damit funktioniert auch die eingespielte Tarif- und Sozialpartnerschaft nicht mehr: Weder die Kleinstunternehmer des neuen Handwerksprekariats noch die überregional agierenden Handwerkskonzerne fühlen sich durch Innungen vertreten. Immer mehr Handwerksbetriebe treten aus – und fallen damit aus der Tarifbindung. Nur noch die Hälfte der Betriebe im Kfz- und im Elektrohandwerk sind Innungsmitglieder, beklagte auch die IG Metall auf der Bundeshandwerkskonferenz im November 2012. Für die Verdienstsituation im Handwerk hat das dramatische Folgen. Schon seit Anfang der 1980er Jahre verlieren die Löhne im Handwerk gegenüber der allgemeinen Einkommensentwicklung an Boden. Der Verlust der Tarifbindung in weiten Bereichen des Handwerks verstärkt diese Abwärtstendenz: Lag das Einkommen eines Handwerkers 1981 im Schnitt noch gleichauf mit demjenigen in anderen Wirtschaftsbereichen, so verdiente er 2006 nach Zahlen der Wissenschaftlerin Weimer nur noch knapp drei Viertel so viel – im Osten gar nur die Hälfte. Die schöne neue Handwerks-Welt, für die derzeit eine millionenschwere Imagekampagne wirbt, geht einher mit einem Schrumpfen der Tariflöhne in der Fläche und einem massiven Anstieg von Haustarifverträgen. Ein Flickenteppich, der sich innerhalb der neuen Handwerkskonzerne fortsetzt. Stefanie Weimer beobachtet eine „starke Zersplitterung und Fragmentierung der Tarifbindung innerhalb einer Unternehmensgruppe“. Die neuen Strukturen im Handwerk stellen Gewerkschaften wie Betriebsräte vor große Herausforderungen: Wie können sie dem „Teile und herrsche“ knallharter Investorengesellschaften begegnen, die kleine, rechtlich eigenständige Niederlassungen und Filialen schaffen – und so bewährte Tarif- und Mitbestimmungsstrukturen unterlaufen? Wie lassen sich die Interessen von Arbeitnehmern unter einen Hut bringen, deren Gewerke sich traditionell nicht verstehen – wie etwa bei Heizungsbauern und Elektrikern? Wie lassen sich Mitarbeiter mobilisieren, wenn Handwerker nicht fest in einem Betrieb verankert sind, sondern auf bundesweit verstreute Baustellen verschickt werden?

Ein Lösungsweg führt nach Ansicht der Wissenschaftlerin Weimer über die überbetriebliche Interessenvertretung. Zu einer „Instanz, die über den Einzelbetrieb hinausgehende Einheit und Solidarität stiftet“ könnten sich Gesamt- und Konzernbetriebsräte entwickeln. Weimer hat in einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung die „betriebs- und unternehmensübergreifende Interessenvertretung“ bei elf Handwerkskonzernen vor allem aus dem IG-Metall-Bereich unter die Lupe genommen – vom Kfz-Handel über Elektroanlagenbau und Industrieservice bis hin zum technischen Gebäudemanagement.

SELBSTBEWUSSTE VERTEIDIGUNG

Ein Beispiel, wie sich überbetriebliche Mitbestimmung erfolgreich organisieren lässt, ist die GA-Gruppe, die Stromleitungen, Kraftwerke und Trafostationen baut und wartet. Seit der heutige Konzernbetriebsratsvorsitzende Manfred Krüger bei der GA ist, ist sie nun zum vierten Mal verkauft worden. Ein Hin und Her, das typisch für die neuen Unternehmensgruppen ist – und bei deren häufiger Neuorganisation Tarifbindung und Mitbestimmung oft auf der Strecke bleiben. Doch Krüger, ein erfahrener Betriebsrat aus Schwaben, hat die etablierten Strukturen selbstbewusst verteidigt. Schon vor dem letzten Verkauf an den französischen Konzern VINCI habe er Kontakt zum Betriebsrat der Schwestergesellschaft aufgenommen, vermittelt durch die IG Metall. „Das Management unseres neuen Mutterkonzerns hat uns schnell signalisiert, dass es die deutsche Mitbestimmungskultur schätzt“, sagt Krüger, der Konzernbetriebsratschef der GA-Gruppe, die seit 2012 zum französischen Bau-Multi VINCI gehört.

Ständig in Bewegung – das kennt Krüger auch aus seinem Beruf: Kabelmonteur hat der 54-Jährige aus Fellbach bei Stuttgart gelernt, lang war er als Steiger auf Strommasten unterwegs, hat Freileitungen montiert und gewartet. Über Masten und unter der Erde treiben Krügers Kollegen jetzt mit Hochspannungsleitungen die Energiewende voran. Für die GA-Gruppe ein profitables Unterfangen, „ein Rekordjahr jagt das nächste“, sagt der KBR. Doch für eine angemessene Bezahlung ihrer gefährlichen, harten Arbeit mussten Krüger und Uwe Schmelzer, GBR-Chef von GA Energieanlagen Nord, erst kämpfen. Augenfällig wurde die Ungerechtigkeit im Jahr 2008: Als die GA-Gründungen im Osten mit der Konzernschwester in Niedersachsen zur GA-EAN fusionierten, verdienten die Ost-Monteure für die gleiche Arbeit auf derselben Baustelle 1000 Euro weniger als ihre Kollegen aus dem Westen. Geschickt hatte die GA-Geschäftsführung – auch dank Tarifverträgen mit der Billig-Gewerkschaft CGM – die zwei Dutzend Töchter an 150 Standorten in Ost und West gegeneinander ausgespielt. „Wir waren benachteiligt und gefrustet, aber überhaupt nicht organisiert“, schildert Schmelzer die Lage der Ost-Belegschaften.

Manfred Krüger hat sich heute Morgen um halb fünf in Stuttgart ins Auto gesetzt, um sich am Standort Magdeburg in Sachsen-Anhalt um Probleme mit der elektronischen Lohnabrechnung zu kümmern. Dort trifft er seinen Kollegen Schmelzer. Wenn sich beide an den 24. April 2009 erinnern, dann wird im Betriebsratszimmer der GA-EAN in Magdeburg ein „Yes we can“-Gefühl greifbar. 120 wütende Mitarbeiter kamen damals zur Betriebsversammlung. 75 Monteure warfen ein Beitrittsformular zur IG Metall in den bereitgestellten roten Karton. Ein Jahr später hatte die GA-EAN einen Haustarif: Der beinhaltete höheres Eckentgelt, mehr Urlaub, höheres Weihnachtsgeld. In enger Abstimmung mit den Standortbetriebsräten und der Gewerkschaft haben es Krüger und Schmelzer seitdem geschafft, den tariflichen Flickenteppich in der GA-EAN von acht auf vier Tarifverträge zu reduzieren. „Doch die räumliche und flächenmäßige Ausdehnung macht uns zu schaffen“, klagt Krüger. Am nächsten Tag fährt er weiter nach Dortmund, dort steht die Abstimmung mit Betriebsratskollegen über die anstehenden Aufsichtsratswahlen an.

Über 80 000 Kilometer ist Krüger im Jahr unterwegs, sein Kollege Schmelzer kaum weniger: Auf einer Deutschlandkarte hat er mit blauen, roten und gelben Stecknadeln die Standorte markiert, um die Übersicht zu behalten. Die Stecknadeln ziehen sich von Görlitz im äußersten Osten bis Neuss nahe der niederländischen Grenze. Krüger und Schmelzer können ihr Pensum nur bewältigen, weil sie freigestellt sind. Doch damit sind sie in der Minderheit, betont die Mitbestimmungs-Forscherin Stefanie Weimer: Im gesamten IG-Metall-Organisationsbereich des Handwerks kennt sie nur 240 Freistellungen: „Damit fehlt die Basis für eine effektive überbetriebliche Interessenvertretung“, sagt sie. Bei ihren Versuchen, in puncto Entgelt und Arbeitsstandards den Laden über Haustarifverträge zusammenzuhalten, geraten die Betriebsratschefs zunehmend in eine zwiespältige Rolle, hat Weimer beobachtet: In einem Moment Tarifpartei, die notfalls einen Streik mitorganisiert, danach Betriebsrat mit Friedenspflicht. Während die Gewerkschaften gegen die Erosion des Flächentarifs im Handwerk ankämpfen, werben die Betriebsräte der Handwerkskonzerne oft für den Abschluss eines Haustarifvertrages, auch wenn sie realistisch sehen, dass man dann „ eher erpressbar“ sei, wie einer sagt. Ihre Hoffnung ist gleichwohl, sich von der unterdurchschnittlichen Lohnentwicklung im Handwerk abzukoppeln und den Organisationsgrad im Betrieb durch erfolgreiche Haustarifverhandlungen zu steigern. Für den GA-EAN-Gesamtbetriebsrat Schmelzer hat sich in diesem Zusammenhang ein Trip bis nach Demmin in Mecklenburg-Vorpommern gelohnt: „Nach unserem Besuch sind dort die zwölf Mitarbeiter samt Bauleiter in die IG Metall eingetreten.“ Das stärkt die Verhandlungsmacht in der aktuellen Tarifauseinandersetzung. „Aber natürlich sind wir nun auch in einer Bringschuld.“

Trotz aller Schwierigkeiten: Was passiert, wenn überbetriebliche Interessenvertretung scheitert, zeigt jene Firma, bei der Dachdeckergeselle Xaver Fischer arbeitet. Leicht resigniert bezeichnet der Betriebsrat „seinen“ Stammbetrieb als das „gallische Dorf“ im tariflichen Flickwerk mit vielen weißen Stellen. Es gelang nicht wirklich, die Arbeitnehmerinteressen im Konzern zu koordinieren, dadurch sei auch der Organisationsgrad in dem schnell gewachsenen Konzernkonglomerat stark zurückgegangen auf heute 30 Prozent. „Früher ist der Gewerkschaftssekretär noch auf die Baustelle gekommen, war bei Betriebsversammlungen dabei.“ Das passiere immer seltener. „Die Gewerkschaft ist in den Köpfen nicht mehr präsent“, beobachtet Betriebsrat Fischer, der IG-BAU-Fachgruppenvertreter.

Die finanziellen und personellen Ressourcen für die gewerkschaftliche Handwerksarbeit schwinden – das bestätigt auch Stefanie Weimer. Ein Dilemma: Denn gleichzeitig steigt der Betreuungsbedarf, gerade bei den Unternehmensgruppen. Für die einzelne Verwaltungsstelle aber lohnt sich die Betreuung der kleinen, dezentralen Standorte mit wenigen Mitarbeitern vor Ort oft nicht. Doch die GA-Betriebsräte haben für dieses Problem eine Lösung gefunden, die auch Weimer für zukunftsweisend hält. Die Betreuung wird auf zwei Verwaltungsstellen – Süd und Nord – konzentriert. „Egal auf welcher Baustelle der Monteur gerade ist, er kann seinen Gewerkschaftsmitgliedsausweis zücken, und sein Problem wird gehört“, sagt Konzernbetriebsratsvorsitzender Krüger.

Leider ein Einzelfall, betont Weimer. Sie rät zu einer neuen Organisationsstruktur im Handwerk, die sich dem Strukturwandel anpasst. Die aber sollte auch mit einer Neuverteilung der Mittel einhergehen. So könnte den Betriebsräten Mitsprache darüber eingeräumt werden, in welche Verwaltungsstelle die Mitgliedsbeiträge ihrer Standorte fließen sollen: ein Instrument, um auf die Entwicklung neuer Betreuungsmodelle hinzuwirken.

DIE GA-GRUPPE AUF EINEN BLICK

Eigentümer: VINCI, französischer Konzessions- und Baukonzern mit 183 000 Mitarbeitern, einer der größten Baukonzerne weltweit

Struktur: 14 Beteiligungsgesellschaften in Deutschland und im benachbarten Ausland (Italien, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Österreich) mit rund 3000 Mitarbeitern und rund 80 Niederlassungen und Büros

Kunden: Energieversorger, Stadtwerke, Netzbetreiber, Verkehrs-, Gewerbe- und Industrieunternehmen

GA Deutschland: In Deutschland beschäftigt die GA Energieanlagen Süd (GA-EAS) 571 Mitarbeiter, die GA Energieanlagen Nord 445 Mitarbeiter. 

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