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Magazin Mitbestimmung

: Teurer Wettbewerb

Ausgabe 01+02/2007

Ausschreibungen im ÖPNV führen nicht zwangsläufig zu niedrigeren Kosten. Im Gegenteil: Großstädte, die diese Leistungen direkt vergeben, fahren deutlich besser. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung.



Von Dominik Reinle
Der Autor ist Diplom-Soziologe und arbeitet als Journalist in Köln.


Frankfurt am Main steht vor einer verkehrspolitischen Weichenstellung: Im Frühjahr 2007 berät die Stadtverordnetenversammlung über die Zukunft des ÖPNV. Ausgangspunkt dafür ist die Frage, ob die geplante Ausschreibung weiterer Buslinien tatsächlich durchgeführt werden soll. Damit steht auch der umstrittene "Frankfurter Weg" insgesamt zur Debatte.

Denn Frankfurt ist die erste deutsche Großstadt, die beim Nahverkehr konsequent auf Wettbewerb gesetzt hat. Nicht nur der Busverkehr, sondern auch die U-Bahn- und Straßenbahnlinien sollen nach vorheriger Prüfung Stück für Stück europaweit ausgeschrieben werden - und nicht wie bisher nach Ablauf der Konzessionen automatisch im Betrieb der städtischen Verkehrsgesellschaft Frankfurt am Main (VGF) verbleiben.

Begonnen hat Frankfurt mit dem Systemwechsel, als im Mai 2001 die meisten Genehmigungen der VGF für Buslinien ausliefen. Die Stadt gliederte einzelne Abteilungen - insbesondere die Planung - aus der VGF aus und gründete daraus die lokale Nahverkehrsgesellschaft TraffiQ. Das Unternehmen gehört zu 100 Prozent der Stadt und nimmt deren gesetzliche Funktion als so genannter Aufgabenträger im ÖPNV wahr. Damit ist TraffiQ für die Planung, Organisation und Finanzierung des Nahverkehrs im Frankfurter Stadtgebiet zuständig und führt die Ausschreibungen durch.

Zu ihrem fünfjährigen Bestehen hat die Nahverkehrsgesellschaft im Sommer 2006 eine positive Bilanz gezogen: "Die Kosten für den öffentlichen Busverkehr sinken deutlich, was der Stadtkasse und letztlich dem Steuerzahler zugute kommt." Die Auftragnehmer der bisher vergebenen Busverkehre seien wesentlich billiger als die VGF. Das Einsparpotenzial bewege sich zwischen 20 und 25 Prozent. "Die Stadt spart über die sechsjährige Vertragslaufzeit einen zweistelligen Millionenbetrag." TraffiQ-Geschäftsführer Hans-Jörg von Berlepsch jubelte: "Der Markt funktioniert und zeitigt positive Ergebnisse."

Direktvergabe ist günstiger

Zu einem ganz anderen Schluss kommt im November 2006 eine Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Sie wurde von den Unternehmensberatern Dieter Neth und Hubert Resch erstellt und von Professor Dietrich Budäus von der Universität Hamburg wissenschaftlich begleitet. Die Untersuchung analysiert den ÖPNV in drei Großstadtregionen. In der Studie sind diese Ballungsräume anonymisiert dargestellt, Recherchen haben aber ergeben, dass es sich um Frankfurt am Main, Stuttgart und Bochum/Gelsenkirchen handelt.

Während Frankfurt den Nahverkehr über Ausschreibungen organisiert, haben die beiden Vergleichsregionen Stuttgart und Bochum/Gelsenkirchen eine direkte Vergabe - in Form der Wiedererteilung von Genehmigungen - gewählt. Dort betreiben also weiterhin die kommunalen Verkehrsunternehmen den ÖPNV, die angesichts des Kostendrucks ihren internen Ablauf effizienter strukturiert haben. Ziel der Studie war eine Gesamtbetrachtung: Nicht nur die kompletten Kosten und Leistungen der Verkehrsunternehmen wurden berechnet, sondern auch der Aufwand der übrigen mit dem ÖPNV-Angebot befassten Institutionen. Dazu gehören etwa städtische Planungsämter, andere Behörden und die für Ausschreibungen zuständige Stelle.

Das Ergebnis der Böckler-Studie zeigt, dass die Ausschreibungslösung im untersuchten Zeitraum von 1995/ 1996 bis 2004 keineswegs die günstigste Variante war. So hat sich in der Mainmetropole der Gesamtaufwand bezogen auf die gefahrenen Nutzkilometer im Betrachtungszeitraum um gut zwei Prozent erhöht. In Stuttgart und Bochum/Gelsenkirchen hat sich dieses Verhältnis dagegen um rund sieben beziehungsweise um fast neun Prozent verringert. Ein Prozent entspricht etwas mehr als zwei Millionen Euro.

Überträgt man die positiven Resultate der Direktvergaben in Stuttgart und Bochum/Gelsenkirchen auf das Frankfurter ÖPNV-System mit Ausschreibungen, zeigt sich laut Studie, wie teuer Wettbewerb sein kann: Bei Anwendung der direkten Vergabe und ähnlich effizienter Restrukturierung des kommunalen Unternehmens hätte in Frankfurt der finanzielle Gesamtaufwand zum Ende der Betrachtungszeitraumes um rund 20 beziehungsweise 24 Millionen Euro niedriger liegen können. Das Fazit der Untersuchung: "Das wettbewerbliche ÖPNV-Gesamtsystem in seiner jetzigen Ausprägung führt zu höheren Kosten als in vergleichbaren ÖPNV-Gesamtsystemen mit einer direkten Vergabe."

Doppelstrukturen verursachen Zusatzkosten

Entscheidender Faktor für die höheren Kosten bei Ausschreibungen ist nach Erkenntnis der Forscher die Tätigkeit der neu entstandenen Frankfurter "Ausschreibungsbehörde" TraffiQ. Allein im Zeitraum von 2001 bis 2004 habe die lokale Nahverkehrsgesellschaft einen Personalaufwand von rund 13 Millionen Euro verursacht. Sie beschränke sich nicht nur auf die gesetzlich vorgesehene verkehrspolitische Steuerungsfunktion, sondern übernehme auch unternehmerische Funktionen von der Fahrplanung bis zu detaillierten Qualitätsvorgaben und Leistungskontrollen.

Diese Aufgaben seien bisher in der städtischen VGF in Mischfunktionen abgearbeitet worden - und zwar kostengünstiger. Aus Sicht der Nahverkehrsexperten gingen damit zudem wesentliche wirtschaftliche Aufgaben eines kommunalen Unternehmens auf eine Art "Regulierungsbehörde" über. Sie schreiben: "Es werden also nicht nur die angestrebten wirtschaftlichen Vorteile verfehlt, sondern durch eine Art Verstaatlichung unternehmerischer Aufgaben Kernelemente eines marktwirtschaftlichen Systems eliminiert."

Die so genannten Transaktionskosten, die bei Ausschreibungen durch die neuen Verfahrens- und Vertragsverhältnisse entstehen, enthalten jedoch nicht nur die reinen Kosten von TraffiQ. Sie umfassen auch Kosten, die zusätzlich im Gesamtsystem entstehen - unter anderem durch Doppelaktivitäten. So überschneiden sich in Frankfurt nach Angaben der Studie beispielsweise Marketing- und Qualitätssicherungsleistungen, die sowohl von der lokalen Nahverkehrsgesellschaft wie auch von den Verkehrsunternehmen erbracht werden.

Unter diesen Verhältnissen lohne sich in Frankfurt Wettbewerb erst, wenn in Zukunft der Aufwand für die Bus-Verkehrsleistungen um 40 bis 50 Prozent verringert wird. Diese Kostensenkung würde allerdings fast ausschließlich zu Lasten der Beschäftigten gehen, da die Personalkosten den wesentlichen Teil des Aufwandes für die Erbringung der Verkehrsleistung ausmachen.

Zustimmung, Schweigen, Ablehnung

Die Reaktionen auf die Böckler-Studie sind in den untersuchten Ballungsräumen höchst unterschiedlich ausgefallen. Auf Zustimmung gestoßen ist sie sowohl in Stuttgart als auch in Bochum. "Die Ergebnisse zeigen, dass eine marktorientierte Direktvergabe für Aufgabenträger viele Vorteile haben kann", sagt Gisbert Schlotzhauer, Personalvorstand der Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahnen AG (Bogestra). "Die Studie bestätigt uns in der Richtigkeit des gemeinsam mit unseren Anteilseignern eingeschlagenen Weges."

Diese Einschätzung teilt auch der Personalvorstand der Stuttgarter Straßenbahn AG (SSB), Reinhold Bauer: "Es gibt viele gute Gründe, große kommunale Verkehre nicht auszuschreiben, sondern die städtischen Betriebe durch Restrukturierung, neue Tarifverträge und auch Opfer der Beschäftigten zu erhalten." Durch Anmietung und Outsourcing von Leistungen hätten die Kosten ebenfalls reduziert und die Erträge insgesamt deutlich gesteigert werden können.

Die SSB sei ein Vorzeigebeispiel für erfolgreiche Restrukturierung. "Wir haben unseren Ausgleichsbedarf, also das, was die Stadt zuschießt, innerhalb von acht Jahren halbiert." Die glänzenden Zahlen überzeugen auch das politische Entscheidungsgremium, sagt SSB-Arbeitsdirektor Bauer: "Der Stadtrat ist mehr oder weniger einstimmig für unseren Weg."

In Frankfurt am Main hingegen hat die Untersuchung Schweigen und Ablehnung hervorgerufen. Vom kommunalen Verkehrsunternehmen wird jeder Kommentar zu den Ergebnissen der Studie abgelehnt: "Wir wollen momentan dazu keine wertende Stellung nehmen", sagt VGF-Geschäftsführer Werner Röhre. Ob diese Zurückhaltung möglicherweise mit einer abweichenden Meinung von der offiziellen Position der Mainmetropole zusammenhängt? Umso deutlicher äußert sich dafür die lokale Nahverkehrsgesellschaft: "Die Studie kann aufgrund fehlender solider Zahlen nicht zu einem aussagekräftigen Ergebnis kommen", sagt TraffiQ-Sprecher Klaus Linek.

Sein Haus sei zwar angefragt worden, man habe aber eine Beteiligung abgelehnt. "Zum einen haben wir uns der Meinung der Arbeitsgemeinschaft ÖPNV beim Deutschen Städtetag angeschlossen, diese Untersuchung nicht zu unterstützen. Zum anderen sahen wir keine Basis für ein Gespräch, da wir Zahlen, die eine fundierte Aussage ermöglichen, nicht hätten liefern können." Diese aussagefähigen Daten würden erst durch zwei von der VGF und der Stadtkämmerei in Auftrag gegebene Gutachten geliefert, die derzeit aber noch in Arbeit seien. "Diesen Ergebnissen wollten wir nicht vorgreifen."

TraffiQ-Sprecher Linek kritisiert, dass in der Böckler-Studie beispielsweise die Personalkosten seiner Gesellschaft mit 13 Millionen Euro beziffert wurden. "Das stimmt schon mal nicht. Wir hatten im besagten Zeitraum Kosten von 12,2 Millionen Euro." Zudem entstünden diese Kosten unabhängig von der Organisationsform. "Die damit verbundenen Aufgaben fallen ohnehin an und werden bloß in anderen Strukturen wahrgenommen." Ob also die so genannten Regiekosten wie früher bei der VGF oder wie heute bei der TraffiQ aufträten, sei irrelevant.

Hubert Resch, ehemaliger Arbeitsdirektor der Bremer Straßenbahn AG (BSAG) und einer der Verfasser der Böckler-Studie, lehnt diese Darstellung als unzutreffend ab: "In unserer Untersuchung belegen wir, dass die Städte mit Direktvergabe trotz ihrer eigenen Regiekosten insgesamt günstiger liegen als Frankfurt." Zur Höhe der Personalkosten bemerkt er: "Jeder kann sich ein Urteil bilden, wie falsch angeblich die 13 Millionen waren, wenn 12,2 Millionen richtig sind. Bei einem solchen Abweichungsgrad kann jede Untersuchung zufrieden sein." Zumal die Zahlen aus den veröffentlichten Geschäftsberichten stammen. 

Auch dem Vorwurf von TraffiQ, der Vergleich von nur drei Städten sei aus statistischer Sicht eine sehr dünne Basis, widerspricht Resch. "Wenn man großstädtische Bereiche vergleichen will, kann man nur Frankfurt als Fallbeispiel für den Ausschreibungswettbewerb nehmen, weil bisher nur dort das gesamte Nahverkehrsnetz ausgeschrieben werden soll." Zum Vergleich reichten deshalb zwei andere großstädtische Räume mit Direktvergabe. Resch weist daraufhin, dass ursprünglich auch Fallbeispiele aus ländlich strukturierten Räumen untereinander verglichen werden sollten.

Doch sei es nicht gelungen, Landkreise aus Hessen und Niedersachsen für eine Teilnahme zu gewinnen. Er machte dafür den Deutschen Landkreistag (DLT) verantwortlich. Dieser hatte in einem Rundschreiben seinen Mitgliedern von einer Beteiligung an der Böckler-Studie abgeraten und sie vor "politischen Implikationen" gewarnt. Es sei "nicht auszuschließen, dass die Ergebnisse einer Transaktionsanalyse im Sinne der Verkehrsunternehmen gegen die kommunalen Aufgabenträger verwandt werden", so der DLT.

EU-Wahlrecht statt Ausschreibungspflicht?

Ein weiterer Einwand der Frankfurter Nahverkehrsgesellschaft betrifft den Untersuchungszeitraum der Böckler-Studie. "Die Benefits des Wettbewerbs finden in der Böckler-Studie gar keinen Niederschlag, weil sie zu früh endet", sagt TraffiQ-Sprecher Linek. Die Studie beziehe sich auf die Jahre zwischen 1995 und 2004, die ersten ausgeschriebenen Frankfurter Buslinien seien aber erst im Dezember 2004 an den Start gegangen.

"Das ist natürlich ein Problem gewesen", räumt Resch ein. Diese Schwierigkeit habe man jedoch mit einer Prognoserechnung lösen können. Dafür hätten genügend Daten zur Verfügung gestanden. Allerdings könne die Studie "keine abschließende perfekte Beurteilung" liefern, sie sei vielmehr ein "Startschuss". Mit zusätzlichen Untersuchungen müsse nun die weitere Entwicklung im Auge behalten werden.

Bis Ende 2007 sollen die rechtlichen Rahmenbedingungen für den ÖPNV auf europäischer Ebene neu geregelt werden. Nach jahrelanger Auseinandersetzung erwartet Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) noch in diesem Jahr eine Einigung über die Wettbewerbspläne der Europäischen Union (EU). "Wirksam wird die neue EU-Verordnung wohl zwischen 2010 und 2012", schätzt Nahverkehrsexperte Resch.

Sie beinhalte statt der lange Zeit vorgesehenen Ausschreibungspflicht vermutlich ein Wahlrecht: Die einzelnen Kommunen könnten zukünftig wohl zwischen Ausschreibungswettbewerb und Direktvergabe entscheiden. "Deshalb müssen rechtzeitig weitere Forschungsergebnisse vorliegen, um den Politikern eine wirtschaftlich belastbare Grundlage für Strukturentscheidungen im ÖPNV an die Hand zu geben."



 

Zum Weiterlesen
Die Böckler-Studie  

Stefan Scheytt: Nicht auf die billige Tour - Stuttgarter Trend gegen Privatisierung, in: Magazin Mitbestimmung, September 2006

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