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HBS Böckler Impuls

Lohnentwicklung: Besser als gedacht

Ausgabe 13/2018

Die Löhne haben sich seit der Wiedervereinigung stärker entwickelt als häufig angenommen. Das ergibt sich, wenn man die stark gestiegene Teilzeitquote berücksichtigt.

Wie berechnet sich der in Deutschland gezahlte Durchschnittslohn? Ganz einfach: Die vom Statistischen Bundesamt in der sogenannten Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ausgewiesene Lohnsumme wird durch die Zahl der Beschäftigten geteilt. Werden noch die Preissteigerungen herausgerechnet, dann zeigt sich: Die realen Pro-Kopf-Verdienste haben von 1990 bis heute nicht nennenswert zugenommen. Allerdings hat diese Rechnung einen Haken. Darauf macht der Ökonom Hartmut Görgens aufmerksam.

Denn die Kalkulation ignoriert, dass sich die Arbeitswelt in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert hat: Zwischen 1990 und 2016 ist die Zahl der Teilzeitbeschäftigten um neun Millionen und der Anteil der Teilzeitjobs von rund 16 auf fast 40 Prozent gestiegen. Weil Teilzeitbeschäftigte einerseits  weniger Arbeitsstunden leisten, andererseits häufig niedrigere Stundenlöhne erhalten, verdienen sie im Schnitt weniger. Daher senkt ein Anstieg der Teilzeitquote automatisch die Löhne pro Kopf. Dieser Effekt hat Görgens zufolge einen Teil der tatsächlich erfolgten Reallohnsteigerungen „statistisch nach unten gedrückt“ – so dass es insgesamt aussah, als hätten die Beschäftigten viele Jahre lang keine realen Steigerungen erlebt.

Bereinigt um den Teilzeit-Effekt ergibt sich nach Görgens Rechnung ein Reallohnzuwachs von rund 25 Prozent im Zeitraum von 1990 bis 2016. Dabei unterscheiden sich die Dekaden weiterhin deutlich: In den 1990er- und den 2010er-Jahren hatten die Beschäftigten auch nach Abzug der Inflation meist spürbar mehr Geld in der Tasche. Zwischen 2000 und 2009 erlebten sie hingegen gleich vier Jahre mit Reallohnverlusten. Über den gesamten Zeitraum gesehen sei es den Gewerkschaften aber gelungen, den Verteilungsspielraum weitgehend auszuschöpfen, das heißt, den Anteil der Beschäftigten am Volkseinkommen je Erwerbstätigenstunde etwa konstant zu halten, schreibt der Ökonom.

Das Statistische Bundesamt hat auf Görgens Einwände gegen eine Berechnung des Durchschnittslohns ohne Teilzeit-Korrektur übrigens inzwischen reagiert und weist für die Jahre ab 2007 nur bereinigte Werte aus. Bis vor kurzem waren für den Zeitraum davor aber noch die alten, zu niedrigen Werte im veröffentlichten Reallohnindex enthalten.

Sind die Niedriglöhne noch gesunken?

Gelegentlich ist außerdem zu lesen, die realen Stundenlöhne im unteren Fünftel oder Zehntel der Einkommensverteilung seien in der Vergangenheit zurückgegangen. Auch diese Aussage widerlegt Görgens: Wenn immer mehr geringfügig Beschäftigte und andere Teilzeitkräfte mit niedrigen Verdiensten dazukämen, sinke zwar das Durchschnittseinkommen der unteren Einkommensstufen. Aber nicht, weil die Verdienste der ursprünglich Betroffenen wirklich gefallen wären, sondern weil sehr viele neue Niedrigverdiener hinzugekommen sind und sich die Arbeitnehmerstruktur in den unteren Einkommensstufen stark verändert hat. Viele, die früher in der untersten Stufe waren, sind in eine höhere Gruppe aufgerückt.

Untere Tarifgruppen haben gewonnen

Aus der Entwicklung der realen Stundenlöhne nach Einkommensstufen lasse sich nicht auf die Entwicklung der tariflichen Lohngruppen schließen, betont Görgens. Darüber lägen bisher keine Veröffentlichungen vor. Vieles spreche jedoch dafür, dass die Tariflöhne in den unteren Lohngruppen stärker erhöht worden sind als in den oberen. Gesamtwirtschaftlich sind die effektiven realen Löhne je Arbeitsstunde teilzeitbereinigt von 1990 bis 2016 um 33 Prozent angestiegen – also noch stärker als die realen Verdienste insgesamt.

Während sich die Lohnzuwächse der zurückliegenden Jahre dort, wo Tarifverträge wirken, sehen lassen können, sei allerdings davon auszugehenden, dass sich die Anpassung in den untersten, nicht tarifgebundenen Sphären der Verdienstpyramide eher schleppend vollzogen habe, so Görgens.

  • Die Löhne haben sich seit der Wiedervereinigung stärker entwickelt als häufig angenommen. Zur Grafik

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