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Magazin Mitbestimmung

Berufliche Bildung: Studienabbrecher werden umworben

Ausgabe 12/2014

Der Ruf nach mehr Fach- und Führungskräften erreicht jetzt auch die Ersatzreserve der "Studienabbrecher". Politik und Kammern ebnen ihnen mit der Anerkennung von Studienjahren den Weg in die betriebliche Aus- und Fortbildung. Von Hermann Horstkotte

Tatsächlich kann heute fast jeder Zweite eines Jahrgangs wählen, ob er sich lieber im Studium oder in der betrieblichen Ausbildung erproben will. Trotz der höheren Erfolgsaussichten auf einen Berufsabschluss drängen aber die meisten sofort ins Studium, als ob die Lehre überhaupt nur die sprichwörtliche zweite Wahl wäre. Damit läuft in den Köpfen etwas schief und unser Bildungssystem aus der Erfolgsspur, meint Julian Nida-Rümelin, unter Bundeskanzler Gerhard Schröder Kulturstaatsminister und bis 2013 auch Leiter der SPD-Grundwertekommission. In seinem neuen Buch warnt er vor dem „Akademisierungswahn“: Mit den wachsenden Studentenzahlen werde das Leistungsprofil zumal der Unis nicht gesteigert, sondern verflacht und der Nachwuchs für die berufliche Bildung zugleich ausgedünnt. 

Diese Fehlentwicklung sieht der Schweizer Ökonom und Sozialdemokrat Rudolf Strahm ganz ähnlich: „Es ist total falsch, zu meinen, dass man einfach mehr Uni-Absolventen haben muss, um die Innovation voranzutreiben. Sonst wären die Länder mit hoher Akademisierungsquote die innovativsten – Frankreich, Italien, Spanien.“ Genau die aber leiden unter einer Jugendarbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise, wie sie in Deutschland und anderen Ländern mit dualer Berufsbildung vermieden wird. „Was nützen Frankreich die vielen Ingenieure“, so Strahm, „wenn die Leute fehlen, welche die Präzisionsarbeit ausführen?“ Mit anderen Worten: Die wünschenswerte Akademikerquote ist eine Frage der jeweiligen Wirtschaftsstruktur, die aber auch eine wünschenswerte Quote nichtakademischer Fachkräfte erfordert. 

Aus dieser Erkenntnis heraus scheint sich langsam der Trend zu drehen. Nach Jahrzehnten, in denen eine Steigerung der Akademikerquote gefordert wurde. Rückblickend kritisiert Nida-Rümelin dafür auch seine eigene Partei, die SPD. Viele aus diesem Milieu hatten das Glück, als Bildungsaufsteiger ihre gesamte Lebenslage verbessert zu haben. Von daher liegt es nahe, dass sie ihren Kindern auch dringend zum Studium raten.

Derzeit gibt es in Deutschland mehr als 2,6 Millionen Hochschüler und halb so viele Auszubildende. Während viele Wege zum Studienabschluss durch Zulassungsbeschränkungen und überfüllte Hörsäle verstopft sind, sind Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsmarkt ziemlich im Gleichgewicht. Wohl blieben im Ausbildungsjahr 2013/14 20 000 Bewerber unversorgt, aber zugleich auch doppelt so viele Azubi-Stellen offen. Zwar geht fast jeder vierte Ausbildungsvertrag zu Bruch, doch liegt die Zahl der Studienabbrecher noch höher, im Schnitt bei 30 Prozent. Bei 2,6 Millionen Studenten hätten wir 800 000 junge Menschen, die ihr Studium abbrechen. 

Schon sprichwörtlich schien ihnen eine Zukunft im Taxi vorherbestimmt, leider auf dem Platz vorne links statt hinten rechts. Da tun sich inzwischen in der Tat vielversprechendere Chancen auf. 

Gerade in Studienaussteigern sieht Bundesbildungsministerin Johanna Wanka eine sprudelnde Nachwuchsquelle für Industrie, Handwerk und Handel. Der Grund: der drohende Mangel an Fachkräften mit einer Berufsausbildung. „Studienabbrecher bringen häufig wichtige Vorqualifikationen mit“, betont Wanka. Sie „sollten die Chance ergreifen, bei der Zukunftssicherung des Handwerks eine Führungsrolle zu spielen“, sagt Hans Peter Wollseifer, Präsident des einschlägigen Zentralverbandes. Bei jedem vierten von insgesamt 33 000 Betrieben allein im Kammerbezirk Köln stellt sich in den kommenden zehn Jahren das Problem, wer die Firmennachfolge übernehmen kann und will.

Wer für diese Aufgabe Studienaussteiger gewinnen will, muss ihnen den Übergang von der Hochschule in die Welt der beruflichen Bildung und Weiterbildung möglichst erleichtern. Ihr Umstieg wird so zur Nagelprobe auf die viel beschworene „Gleichwertigkeit, aber Andersartigkeit“ der beiden Lernsysteme. „Sie müssen wechselseitig durchlässig sein“, mahnt Michaela Kuhnhenne, Bildungsfachfrau bei der Hans-Böckler-Stiftung. „Aber dafür sind noch manche Blockaden zu überwinden.“ 

Seit dem „Öffnungsbeschluss“ der Kultusminister vor fünf Jahren ist der Weg vom Beruf ins Studium tatsächlich viel leichter geworden als umgekehrt. So brauchen Meister oder Fachwirte kein Abitur mehr, um einen FH- oder Uni-Abschluss zu machen. Manche Bundesländer wie etwa Bayern führten zudem berufsbegleitende Studiengänge ein, für die schon Praxiserfahrung mit einem ersten Berufsabschluss ausreicht. Mithin können etwa Krankenpfleger den Bachelor in Pflegepädagogik machen, um dann selber Mitarbeiter auszubilden. In anderen Bundesländern, zum Beispiel Hamburg, kann der Nichtabiturient mit Berufserfahrung sogar das ganze Bachelorstudium überspringen und nach einer halbjährigen Probephase gleich den nebenberuflichen „Weiterbildungs-Master“ anstreben. 

IM EXPERIMENTIERSTADIUM

Indes gibt es für den umgekehrten Weg vom Studium in die berufliche Aus- und Weiterbildung bislang noch keine verbindlichen Regelungen. Stattdessen laufen hier und da Experimente oder Modellversuche. Ein Beispiel ist Switch, eine Agentur der Stadt Aachen sowie der örtlichen Wirtschaft und der Hochschulen speziell für Studienaussteiger. Ihrer Vermittlung verdankt der Mittzwanziger Frank Köhnen seine Ausbildung zum Fachinformatiker bei der lokalen Softwarefirma NETRONIC. Köhnen hatte im fünften Semester festgestellt, dass ein Physikstudium von ihm zu viel Mathematik verlangte und zu wenig Praxis bot. Sein Studienberater empfahl ihm deshalb Switch. Die Agentur entwickelte ein ausgefeiltes Bewerberprofil mit allen Vorkenntnissen des Neustarters. Als Partnerunternehmen von Switch nahm NETRONIC ihn sofort als Azubi an. Vor ein paar Monaten machte er seinen Berufsabschluss als Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung, das betrifft die Visualisierung von Planungs- und Produktionsdaten. Dafür brauchte Köhnen nur eineinhalb statt drei Jahre Ausbildungszeit, weniger lässt auch der Gesetzgeber nicht zu. 

Die Firma hat den bisherigen Azubi gleich übernommen. Frank Köhnens Ausbildungsleiter betont: „Die berufliche Fortbildung in unserem Bereich ist gleichwertig mit einem akademischen Bachelorabschluss!“ So steht es jedenfalls im Deutschen Qualifikationsrahmen, einer amtlichen Handreichung, die Personalern die Entscheidung bei Einstellungen erleichtern soll.

Allein die lokale Agentur für Studienaussteiger Switch hat seit 2011 mehr als 130 Studienaussteiger erfolgreich in ganz verschiedene Berufsfelder gelotst. Die Aachener Initiative ist eine von einem guten Dutzend bundesweit. „Auch Philosophen können Tischler werden“, heißt es etwa bei der Handwerkskammer Unterfranken. Wie in Aachen können Bewerber mit Studienerfahrung die Ausbildung verkürzen, aber gleichzeitig auch schon Kurse für die Meisterprüfung absolvieren – sozusagen mit Turboantrieb die Führungspositionen des Handwerks ansteuern. 

Nächstes bildungspolitisches Ziel ist laut Kammer-Sprecher Daniel Röper, bestimmte Studienleistungen möglichst eins zu eins auf die berufliche Aus- und Weiterbildung anzurechnen, so etwa beim Elektroinstallateur, der vorher ein paar Semester Elektrotechnik studiert hat. Das ist aber noch Zukunftsmusik und „kann immer nur im konkreten Einzelfall geregelt werden“, sagt Röper. Zunächst bleibt es bei der „ganzheitlichen“ Berufsausbildung, die zwar verkürzt, aber nicht durch andere Leistungsnachweise ersetzt werden kann. 

Auf dem Weg zur Anrechnung von Studienleistungen ist die Industrie- und Handelskammer Stuttgart allerdings schon einen Schritt weiter. Ein Aussteiger aus einem technischen Studienfach kann hier ohne Lehre direkt in die Fortbildung zum „Industrietechniker“ einsteigen. Der ist mit dem deutschen Meister vergleichbar. Voraussetzung für den großen Sprung sind 60 Leistungspunkte im Studium, also etwa aus drei Semestern Maschinenbau, plus zwei Jahre Praxiserfahrung, zum Beispiel auf Montage. Im Übrigen finden solche Initiativen für Studienaussteiger, die lieber über berufliche Bildung und Weiterbildung Karriere machen wollen, deutschlandweit offenbar immer mehr Anklang und Nachahmer. So wird das Bundesbildungsministerium im kommenden Jahr 15 weitere Projekte fördern. Dafür gingen mehr als 100 Bewerbungen von Kammern, Hochschulen und anderen Bildungsträgern ein. 

MIT PRAXISWISSEN PUNKTEN

Zum Jahresbeginn 2015 geht Ministerin Wanka erstmals mit allgemeinverbindlichen Rechtsverordnungen zugunsten von Studienaussteigern über die bloßen Modellversuche hinaus. Es handelt sich um die Aufstiegsfortbildung zum „Geprüften Handelsfachwirt“ und den „Fachwirt für Vertrieb im Einzelhandel“ , also um Führungskräfte im mittleren Management etwa bei Aldi oder Rewe. Neben gelernten Kaufleuten können sich zur Weiterqualifikation künftig auch Aussteiger aus dem Betriebswirtschaftsstudium anmelden. Sie müssen 90 Leistungspunkte (aus drei Semestern) und zwei Jahre praktische Erfahrung in einem Handelsbetrieb vorweisen. 

Wer unverdrossen beim Studium geblieben ist, kann in der gleichen Zeit den Bachelorgrad erwerben – allerdings ohne den Mehrwert des Fachwirts an Praxiswissen und Stallgeruch. Welcher Karriereweg die Überholspur ist, bleibt abzuwarten. Die aktuellen Neuregelungen wurden in Abstimmung mit Arbeitgebern, Gewerkschaften und anderen Ministerien erarbeitet. Sie beweisen exemplarisch das Einverständnis aller Beteiligten, wie akademische Vorleistungen generell und nicht nur ausnahmsweise in Einzelfällen für den Berufsabschluss anerkannt werden können. In den meisten anderen Berufszweigen fehlt dieses Einverständnis bislang. Auf dem Weg zur wechselseitigen Durchlässigkeit von Hochschul- und Berufsbildung liegen offenbar noch viele solcher großen Sprünge in vielen kleinen Schritten vor uns. Aber jetzt schon zeigt die „Karriere mit Lehre“ das Potenzial für eine gleichwertige Alternative zum Studium.

MEHR INFORMATIONEN

Julian Nida-Rümelin: Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung. Hamburg, Edition Körber-Stiftung 2014. 256 Seiten

Daniela Glocker/Johanna Storck: Uni, Fachhochschule oder Ausbildung – welche Fächer bringen die höchsten Löhne? Berlin 2012.

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