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Magazin Mitbestimmung

Interview: „Als Italiener darf ich das“

Ausgabe 11/2013

Der italienische Philosoph und Deutschlandkenner Angelo Bolaffi erklärt, warum er in Europa eine deutsche Führungsrolle nicht nur für unvermeidlich, sondern auch für wünschenswert hält. Das Gespräch führte Margarete Hasel in Rom.

Der Ausgang der Bundestagswahlen hat gezeigt, dass das Ansehen von Kanzlerin Angela Merkel im eigenen Land so hoch ist wie noch nie. In Griechenland oder auch in Italien hingegen wird sie gerne mal in eine SS-Uniform gezwängt oder mit Hitler-Bärtchen gezeigt. Warum tut sich zwischen dem Kanzlerinnen-Bild der Deutschen und dem ihrer europäischen Kritiker eine so breite Kluft auf?

In der Eurokrise gehen die Interessen der Länder auseinander. Diese divergierenden Interessen sind für die Zukunft Europas zum Problem geworden. Anders als viele meiner Landsleute bin ich allerdings nicht der Meinung, dass die Hauptschuld bei den Deutschen liegt. Sondern sie liegt bei den Ländern, die keine Reformen durchgeführt haben. Als in Deutschland die Agenda 2010 ausgearbeitet wurde, hat Italien unter Berlusconi einfach das Geld der günstigen Eurokredite verfrühstückt. Ebenfalls eine wichtige Rolle spielen die Medien, die gerne mit harten Bildern kulturelle Klischees und Vorurteile befeuern.

Erklärt der Reformstau, den Sie in den Ländern des Südens ausmachen, die wirtschaftlichen Unterschiede im Euroraum?

Ohne die Reformen von Wirtschaft und Gesellschaft, die größtenteils das Verdienst der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder sind, hätte das Modell Deutschland weder den großen Umbruch infolge des Falls der Berliner Mauer bewältigt noch hätte sich Deutschland vom kranken Mann Europas zur führenden Wirtschaftsmacht des Kontinents entwickeln können. Das entfacht Neid und manchmal sogar Hass.

In dieser Situation fordern Sie eine „Hegemonie“ Deutschlands für Europa. Das klingt für deutsche Ohren überraschend, nach allem, was der deutsche Anspruch auf eine Führungsrolle im letzten Jahrhundert in Europa angerichtet hat.

Ich verwende den Begriff im Sinne von Antonio Gramsci. Er sagt, Hegemonie sei Stärke, gepanzert mit Zustimmung. Das heißt, eine Kraft, die in der Lage ist, etwas zu erzwingen, und deren Legitimation die Zustimmung jener ist, die an der Entscheidung beteiligt und von ihr betroffen sind. Es ist keine Hegemonie im Sinne der politischen Theorie des 19. Jahrhunderts, also von oben nach unten, sondern von oben nach unten im Sinne, dass die Betroffenen von der Entscheidung überzeugt werden und ihre Zustimmung geben.

Das trifft im Falle der Austeritätspolitik, für die die deutsche Kanzlerin steht, wohl kaum zu. Die Kritik an ihrer Kompromisslosigkeit wird immer lauter, nicht nur in Griechenland, sondern auch im EU-Gründungsland Frankreich.

Mir geht es nicht vorrangig um die Zustimmung zur aktuellen deutschen Politik, sondern ich werbe für das deutsche Modell der Mitbestimmung und der Sozialpartnerschaft, das auf Konsens beruht, eine aktive und starke Rolle der Gewerkschaften vorsieht – und das erheblich zur wirtschaftlichen Stabilität Deutschlands beiträgt. In Europa gibt es zwei Modelle der industriellen Beziehungen. In Griechenland, Italien, Spanien, teilweise in Frankreich und ganz stark in England herrscht das konfliktorische Modell vor. In den deutschsprachigen Ländern hingegen besteht zwar auch der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit fort, aber man sucht im Rahmen der Sozialpartnerschaft als Ausdruck des Klassenkompromisses nach gemeinsamen Lösungen. Daraus resultiert das System der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Unternehmen. Dieses Modell übrigens ist im Prinzip im Lissabon-Vertrag verankert. Dort hat sich Europa für die Soziale Marktwirtschaft entschieden. Das ist sozusagen europäisches Verfassungsrecht, da kann man anknüpfen. Schon die Kriterien von Maastricht wurden ja in großem Maße von der Deutschen Bundesbank beeinflusst, nicht von der Banca d’Italia.

Was meinen Sie damit?

Das italienische Modell war interessant, solange es bis in die 60er, 70er Jahre funktionierte. Es basierte auf einer schwachen Regierung und auf einer schwachen Währung. Mit der Einführung des Euro wurde dieses Modell außer Kraft gesetzt. Das deutsche Modell hingegen setzte von Anfang an auf eine solidere Regierung und eine solidere Währung und hat sich als erfolgreicher erwiesen. Dafür hat sich Europa entschieden. Die Italiener und Franzosen haben den Euro gewollt, weil sie Angst vor der D-Mark hatten. Die besten italienischen Europäer, wie der ehemalige Ministerpräsident Romano Prodi oder der gegenwärtige Staatspräsident Giorgio Napoletano, haben übrigens insgeheim immer gehofft, mit dem äußeren Zwang durch die Maastricht-Kriterien das italienische System zu reformieren. Die Hoffnung hat Silvio Berlusconi vereitelt.

Auch in Deutschland gibt es Erosionsprozesse: Arbeitgeber entziehen sich der Tarifbindung …

Auf dem italienischen Arbeitsmarkt haben die Beschäftigten in wichtigen Sektoren als Insider nach wie vor ein Monopol, alle anderen bleiben draußen vor der Tür. In Deutschland ist das anders, da gibt es beispielsweise keine große Jugendarbeitslosigkeit. Und die Arbeiter werden auch nicht einfach vor die Tür gesetzt, denn sie stellen für den Betrieb einen Wert dar. Umschulungsmaßnahmen, Zeitbeschäftigung oder Jobsharing fangen sie auf.

Diese Wirklichkeit wird brüchig. Und gilt nur noch für ein abnehmendes Segment der Beschäftigten, nicht aber für die wachsende Zahl von Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern oder die prekär Beschäftigten.

Ich werde in Italien oft auf deutsche Diskussionen über soziale Gerechtigkeit angesprochen. Ja, auch in Deutschland wächst die Schere zwischen Arm und Reich. Aber aufgrund der sozialen Sicherungssysteme geschieht das sozialverträglicher als anderswo. Alle, inzwischen selbst die Kanzlerin, sagen: Wir brauchen einen Mindestlohn. Man sieht das Problem – und sucht eine Lösung.

Kann das deutsche System den Herausforderungen in der globalisierten Wirtschaft trotzen?

Es gibt in Deutschland einen breiten gesellschaftlichen Konsens für dieses System. Deshalb halte ich es für sehr widerstandsfähig. Ein weiteres Argument für seine Widerstandskraft ist seine lange Geschichte, die durch den Nazismus unterbrochen wurde. Die Weimarer Republik wird immer als großes Chaos dargestellt, aber in Wirklichkeit war es eine große und wichtige Erfahrung. Sozialdemokratische Juristen wie Hugo Sinzheimer oder Ernst Fraen­kel haben damals ein System ausgearbeitet, wie man die Arbeiter nicht nur politisch, sondern auch sozial einbinden kann. Damals wurde die erste Betriebsverfassung in Paragrafen gegossen und ist in Kraft getreten. Deshalb war die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg das einzige Land Europas, das auf Erfahrung mit einem sozialen Rechtsstaat zurückgreifen konnte.

In ihrem jüngst erschienenen Buch „Warum Nationen scheitern“ behaupten die US-Wirtschaftswissenschaftler Daron Acemoglu und James A. Robinson, dass nationaler Reichtum auf stabilen, inklusiven Institutionen beruhe. Erklärt diese These das europäische Entwicklungsgefälle?

Ich halte diese Erklärung für sehr plausibel. Einer der Gründe für die italienische Krise ist, dass sich die wirtschaftlichen und politischen Eliten zusammenschließen und alle anderen ausschließen. Sie arbeiten nur, um ihre Privilegien und Pfründe zu behalten. So machen sie das Land kaputt. Italien ist ein sozial gelähmtes, aber gleichzeitig politisch instabiles Land. Nach dem Risorgimento, der Einigungsbewegung im 19. Jahrhundert, und der Resistenza, der antifaschistischen Widerstandsbewegung, braucht Italien eine dritte Modernisierung. Das Regierungsprogramm von Romano Prodi von 1996 war ein solcher Versuch. Er strebte eine Befreiung von strukturellen Verkrustungen an. Dazu gehören die Kultur, die Freiheit des Einzelnen und eine gewichtige Rolle der Gewerkschaften. Man stelle sich vor: Keine Regierung hat es bislang gewagt, die Pfründe der Taxifahrer oder der Apotheker anzutasten! Von der Atomlobby ganz zu schweigen. Prodi hat dies zunächst sogar ohne tiefe Einschnitte in das Sozialsystem geschafft. Ihm ist es gelungen, einen Konsens zwischen verschiedenen Interessengruppen herzustellen. Dann kam Berlusconi. Heute ist Italien das Land, das Europa kaputt machen kann. Vor zehn Jahren war es noch ein sympathisches Land. Jetzt sind die Leute frustriert und verbittert. Die Italiener waren nie ausländerfeindlich, jetzt sind sie es. Sie haben Vertrauen verloren, das ist eine große Gefahr für die Demokratie.

War es angesichts dieser großen Differenzen nicht von Anfang an vermessen, auf ein gemeinsames Europa zu setzen?

Die Grundidee Europas entstand aus der gemeinsamen Erfahrung des Krieges. Eine Festung des Friedens wollte man bauen – und das hat ja auch lange funktioniert. Für den Aufbau des politischen Gefüges glaubte man viel Zeit zu haben. Doch plötzlich begann die Geschichte zu galoppieren. Mit dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Wiedervereinigung ist eine neue Welt entstanden. Jetzt muss sich Europa einigen – nicht um die Gespenster der Vergangenheit zu bannen, sondern um die wirtschaftlichen und demografischen Herausforderungen im globalen Zeitalter zu meistern. Kein Land kann das alleine schaffen – auch das starke Deutschland nicht.

Wie könnte dieses Europa aussehen, dessen Herz Ihrer Ansicht nach deutsch schlagen soll?

Als Italiener darf ich das: eine Hegemonie Deutschlands fordern. Deutschland hat lange gebraucht, bis es sich unter Adenauer für die Westbindung entschieden und den fatalen Weg als vagabundierendes Land zwischen Ost und West verlassen hat, den es zwischen den beiden Weltkriegen eingeschlagen hatte. Kulturell hat dieser Prozess bis zur 68er-Bewegung gedauert: die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, den Nazi-Verbrechen und dem Krieg. Mein Freund, der Historiker Dan Diner, spricht jetzt zu Recht von einer „postdeutschen Republik“, in der die sogenannten guten alten, aber gefährlichen deutschen Tugenden nicht mehr gelten. Das Land kann und muss jetzt die Verantwortung für Europa übernehmen. Das muss die politische Elite akzeptieren. Sie müssen sagen: Wir haben Europa zweimal kaputt gemacht. Jetzt müssen wir Europa aufbauen. Dazu braucht man Geld. Und gute Politiker.

 

Man braucht dazu auch gute politische Institutionen. Wie kann man die europäischen Institutionen stärken?

Ich glaube nicht, dass das Europaparlament ohne Verbindung zu den nationalen Parlamenten wirklich handlungsfähig werden kann. Die großen Europäer wie Alcide de Gasperi oder Willy Brandt waren alle auf nationaler Ebene legitimierte und sogar geliebte Staatsmänner. Man braucht die nationale politische Legitimation, um Europa aufzubauen.

Im Mai 2014 wird ein neues Europaparlament gewählt. Europaskeptiker und -gegner könnten erheblich an Einfluss, ja sogar die Mehrheit gewinnen – im denkwürdigen 100. Jahr nach Beginn des Ersten Weltkrieges.

In Italien ist die Hälfte des Parlaments gegen Europa, allen voran die Gruppe von Beppe Grillo und die Lega Nord. Der Ausgang der deutschen Bundestagswahl hat viele Hoffnungen auf ein Ende der Austeritätspolitik enttäuscht. Das schafft weiteren Unmut. Auch im Osten Deutschland besteht die Gefahr, dass die AfD noch stärker wird. Das ist eine große Gefahr. Denn solange in Deutschland das Europa-Barometer auf freundlich steht, kann Europa funktionieren. Wenn sich aber in Deutschland eine antieuropäische Partei durchsetzt, dann wird es hart für Europa. Ich weiß nicht, ob die politischen Eliten in Deutschland das Format haben, dies zu verhindern. Angela Merkel muss in der Europafrage Farbe bekennen. Angesichts ihrer deutlichen Mehrheit kann sie sich nicht länger drücken.

Verhindern, dass in Italien Berlusconi doch noch die Regierung Letta stürzt oder dass Frankreich die Schuldengrenze nicht einhält, kann sie aber nicht.

Wenn in diesen zwei Ländern keine Reformanstrengungen unternommen werden, sehe ich sehr schwere Zeiten auf Europa zukommen. Bisher gab es Europa für die Europäer quasi umsonst. Jetzt kostet es etwas. Aber es gibt keine Alternative. Sonst kämpft jeder für sich und die Krise gegen alle.

Zur Person

Angelo Bolaffi, geboren 1946 in Rom, lehrt politische Philosophie an der römischen Universität La Sapienza. Er promovierte 1969. Seit den 70er Jahren, als er zu einem Forschungsaufenthalt an der Freien Universität nach Berlin zog, ist er einer der bekanntesten Deutschlandkenner Italiens. Er veröffentlichte zahlreiche Essays, unter anderem über Carl Schmitt, Ernst Cassirer und Hannah Arendt, und verschiedene Bücher, so 1993 „Il sogno tedesco“ („Der deutsche Traum“). Von 2007 bis 2011 leitete Bolaffi das italienische Kulturinstitut in Berlin. Sein jüngstes Buch „Cuore tedesco. Il modello Germania, l’Italia e la crisi europea“ (Donzelli Editore 2013) erscheint im Februar 2014 unter dem Titel „Deutsches Herz“ bei Klett-Cotta auf Deutsch.

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